Prof. T. A. Masaryk (Prag): Über den Zionismus

Mir ist die zionistische Bewegung durchaus sympathisch. Indem ich sie von dem Leben der Gegenwart zu begreifen suche, schätze ich an ihr den Nationalismus, speziell achte ich es sehr, dass der unterdrückte Jude (die Unterdrückung des Juden ist doch, wenn wir aufrichtig sein wollen, überall, auch im Westen!) sich für sein Volkstum nicht schämt. Sofern es sich um die wirtschaftliche Frage der Kolonisation Palästinas handelt, so sehe ich in der Auswanderung zahlreicher Juden nur einen Spezialfall der allgemeinen Völkerwanderung des XIX. Jahrhunderts; der Gedanke das Urheimatland zu kolonisieren ist für den Juden gewiss naheliegend und sehr berechtigt. Sollten einige Kritiker Recht haben, dass die Kolonisation Palästinas in einigen Stücken verfehlt ist, so spricht das nicht gegen die Idee und das Ziel.

Ich fasse den Zionismus jedoch vornehmlich moralisch auf; dem denkenden, fortgeschrittenen Juden kommt das Mangelhafte seines Charakters und seiner Weltanschauung zum Bewusstsein; im Zionismus sehe ich, tun ein bekanntes Wort anzuwenden, einen Tropfen Prophetenöles.


Der denkende Jude erkennt seine Mitschuld an den Mängeln der bisherigen Kulturarbeit; der denkende Jude will neu geboren werden und darum muss er vorwärts und weiter hinaus über die allgemeinen Mängel unserer Zivilisation. Da genügt die Änderung des lokalen Milieus allein nicht, da handelt sich's um eine Wiedergeburt von Innen heraus, um eine Wiedergeburt, an der allerdings auch wir Christen mitarbeiten müssen, als Mitschuldige. Wenn ich nicht irre, erklären die Zionisten selbst, dass die Kolonisation Palästinas nur für einen gewissen Teil der Juden als Hilfsmittel bestimmt ist — für diejenigen, die nicht auswandern, bleibt eben die schwierigere Aufgabe.

Der klerikale Antisemitismus und chauvinistische Nationalismus ist freilich soziologisch und politisch blind, und vermag in seinem engherzigen Simplicismus nicht zu begreifen, dass die wachsende Komplikation der gesellschaftlichen Organisation ein selbstständiges, bewusstes Judentum nicht ausschließt, im Gegentheil befürwortet.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zionisten und Christen