Max Aram: Der III. Kongress aus der Vogelperspektive.

Die Tage des dritten Kongresses*) sind nun längst vorüber, und da wir im Geiste auf sie zurückblicken, mögen wir das Gefühl haben, als wenn wir Gegenden oder Epochen aus der Vogelperspektive betrachteten. Dabei dürfte sich uns als der erste Eindruck der einer ruhigen, besonnenen, zweck- und ordnungsmäßigen Geschäftigkeit darstellen. Wenn auch die Reden Herzl's, Nordau's, Gaster's und besonders Sir Francis Montefiores wahrlich gehobene Momente bedeuten konnten, und aus ihnen die heftigen Flammen der leidenschaftlichen Erregung über die Gemessenheit und Besonnenheit der praktischen Tätigkeit emporschlugen, so blieb das durchschnittliche ebenmäßige Niveau doch das der äußerst nahen praktischen Betätigung. Es stellte sich so die Schönheit der Reife dar, allwo die eigentlichen Triebkräfte mit ihrem Streben und Wirken unter dem Unbewussten verhüllt sind, und die der Schönheit eines vollkommenen Stiles gleicht, bei dem die Seligkeit des Schaffens und der Stunden nur noch aus einer ganz leisen und geheimnisvollen Musik der Sprache herauszuhören sind. Der Schwerkranke, der seine vollkommene Gesundheit wieder erlangen soll; das junge Mädchen, das auf einem bunten Teppich zusammengekauert ist und verwirrt, überwältigt und fassungslos in süßem bräutlichen Glücke träumt; sie alle müssen den Übergang zu dem milden Gleichmut finden, dem Glück und Unglück beinahe eins sind und dem der Sinn des Lebens vornehmlich in der Erfüllung von Aufgaben und Zwecken erscheint.

Aber den Übergang haben viele nicht finden können, die man als verdienst- und wertvolle Vorläufer der gegenwärtigen zionistischen Bewegung ansehen möchte, und die, wie der Pelide grollend, auf dem dritten Kongresse fehlten. Sie haben das Dichterwort nicht bedenken wollen, dass leicht beieinander die Gedanken wohnen, doch hart im Baume sich die Sachen stoßen. Indem sie mit rührend idyllischem Gemüte an den Studentenzeiten hängen, wo die ganze zionistische Bewegung noch von einigen Gasthaustischen begrenzt wurde, können sie nicht begreifen, wie notwendigerweise die Bewegung durch ihr ungeheueres Wachstum, durch den Hinzutritt von Elementen, die man doch nicht mehr so zuverlässig prüfen konnte, von dem idealistischen Schmelze einbüssen musste. Vornehmlich finden sie, dass die gegenwärtige Leitung der zionistischen Partei, wohl weil sie mit außerordentlichem Geschick und Erfolg dem Zionismus eine sogenannte äußere Politik gegeben und in den Bahnen der Diplomatie weltmännische Vornehmheit dargetan, jeden Zusammenhang mit der jüdischen Volksseele verloren habe. Wenn der- gleichen Gegensätze schon innerhalb der ersten zionistischen Studentenvereine bestanden hatten, so wurden sie jetzt noch verschärft durch persönliche Verbitterungen und Gehässigkeiten. Der jüdischen Volksseele gemäss soll nur etwa der jüdische Jüngling leben, der sein ganzes Leben in Denken vor sich hinbringt und der in allen Pausen seiner Erlebnisse, etwa beim Umsteigen von einer Tramway in die andere, Gedanken fortspinnt. Hingegen, wer sich für Sport interessieren würde und ein guter Turner wäre und sich etwa zu einem tüchtigen Offizier qualifizieren würde, dürfte kein „echt jüdisches“ Gemüt haben. Der deutsche Professor ist eine Person, Gott ist keine. Der behagliche, behäbige jüdische Referendar oder Assessor ist dem trinkfesten deutschen Kollegen recht sympathisch. Von dem „echt jüdischen“ scheidet ihn eine ganze Welt. Studenten, die zu den Ferien in ihrer Heimath weilen, können doch auch in der täglichen Lust ein Leben finden, ohne dass sie fernhin ihre Gedanken zu einem idealen Gebilde senden. Diese aber leben mit all dem ausbündigen Idealismus der Jugend in abstrakten Parteibestrebungen; sie vergöttern ihre Führer, sie schreiben Ansichtskarten mit den Bildnissen derselben; sie schreiben auf Briefbogen mit Emblemen der Partei, und ihr höchstes Glück und ihren tiefsten Schmerz erhalten sie allein von den Schicksalen der Partei. Jedoch es dürfte einer näheren Darlegung erübrigen, wie wenig die grüblerischen, vergeistigten Naturen unter den Juden und wie viel die tätigen weltgewandten das fördern können, was als das zwingende Ziel der zionistischen Bewegung feststeht.


Die grüblerischen, allzu vergeistigten Naturen unter den Juden mögen von den Talmudstudierenden früherer Epochen herzuleiten sein. Aber mit den Talmudbeflissenen unserer Epoche, die doch in den russischen orthodoxen Rabbinern zahlreich genug auf dem Kongresse vertreten waren, konnten die Repräsentanten des praktischen Zionismus das innigste Verhältnis finden, und die herzlichen Beziehungen zwischen russischen Rabbinern und aufklärerischen Naturwissenschaftlern innerhalb der gemeinsamen nationalen Bewegung mögen zu den charakteristischsten Ergebnissen des dritten Kongresses gehören.

Die zionistische Bewegung stellt, indem sie einem zumal körperlich degenerierten Volksstamme durch Zurückführung auf den heimatlichen Boden zur Wiedergeburt verhelfen will, gewissermaßen einen Teil der Renaissance dar, an der die ganze gegenwärtige Kulturmenschheit mit Sport und Hygiene arbeitet, und bei der man entfernt an die von Nietzsche so inbrünstig verehrte Renaissance des ausgehenden italienischen Mittelalters denken darf. Er ist in einem besten Sinne aristokratisch und demokratisch zugleich. Denn die agricole Struktur des Staatsgebildes führt nur, wo durch Bauernlegen eine Verzerrung der historischen Entwickelung eintrat, wie in England und im nördlichen Deutschland zu einer unerträglichen Aristokratie; wo das Bauerntum sich frei entwickeln durfte, im südlichen Deutschland, in Steiermark, Tirol und Norwegen stellte es naturnotwendig zugleich eine edle aristokratische und demokratische Blüte dar. So muss die bäuerliche Grundlage oder Tendenz einer Bewegung auch immer zur Religion hinweisen. Denn der Atheismus ist die Gesinnung des städtischen Pöbels, wenn auch natürlich nicht jeder Atheist als pöbelhaft anzusehen ist. Aber den Völkern, die in Dörfern wohnen sollen, wird Gott also bald zum Hausgotte. Wenn die Griechen und Römer von einer hochentwickelten und differenzierten Kultur auf die Larengötter der Bauernahnen zurückblicken konnten, so bleibt den Juden gar der Ursprung aus den wundersamsten patriarchalischen Zuständen, die noch immer das gläubige Entzücken der gesamten Kulturwelt gebildet haben. Das süßeste des religiösen Gefühles ist doch die Pietät gegen die vorangegangenen Geschlechter, die dieselben Gebräuche gehegt und an denselben Tagen dieselben Gebete gesprochen haben, und das Staatenerhaltende, der gesunde Zusammenhang der Generationen. Nun mögen solche Gedanken doch Wolkenzüge sein, golden umsäumte, die hoch über das braune Arbeitsfeld hinwegziehen. Aber wenn das Bewusstsein von der höheren Bedeutung der zionistischen Bewegung auch füglich bei der täglichen Kleinarbeit der praktischen Organisation entbehrt werden kann, so darf es sich doch wohl nicht ohne Nutzen an solchen Feiertagen aussprechen, wie sie die alljährlich wieder- kehrenden Kongresse der Partei darstellen.

*) Der III. Kongress tagte zu Basel am 15. 16. 17. 18. Aug. 1899.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zionisten und Christen