Der Malmöer Vertrag

Als im Juni des Jahres 1803 die Kunde nach Wismar drang, schon seit mehreren Jahren zwischen dem Herzog Friedrich Franz I. von Mecklenburg-Schwerin und der Krone Schweden über Stadt und Herrschaft Wismar gepflogenen Verhandlungen bald zu einem glücklichen Ergebnis gedeihen würden, da erwachte mit einem Schlage die so lange niedergehaltene und fast ertötete Hoffnung wieder, dass für die schwer geprüfte Stadt nun endlich eine neue, glücklichere Zeit anbrechen werde.

Nach der Überwältigung des Wendentums aus dem Dunkel auftauchend, eine Schöpfung deutscher Kolonisationstätigkeit auf neu gewonnenem Boden, hatte sich die Stadt rasch zu einem wichtigen Handelsplatz entwickelt. Die Gunst ihrer Lage bestimmte sie zu dem natürlichen Hafenplatz des westlichen Mecklenburg; in ihrer geräumigen, nach allen Seiten geschützten Meeresbucht hat sie so manche Flotte der Hansa sich sammeln sehen, an deren friedlichen und kriegerischen Händeln sie lebhaften Anteil nahm.


Aber schon die schweren Verfassungskämpfe, durch die im fünfzehnten Jahrhundert die Stadt zerrüttet wurde, machten ihr ein weiteres Fortschreiten unmöglich. Der Niedergang der Hansa und vollends der dreißigjährige Krieg führten Wismar dem völligen Verfall nahe. Und als dann Schweden die hohe strategische Bedeutung dieses Platzes erkannte, ihn zu seinem Brückenkopf in Deutschland und zu einem festen Bindeglied zwischen seinen deutschen Besitzungen an Ost- und Nordsee gestaltete, ist der Stadt auch daraus kein Heil erblüht. Die Errichtung des Tribunals, des höchsten schwedischen Gerichtshofes in deutschen Landen, die Gewährung von Handelsfreiheiten im Verkehr mit Schweden konnten die Losreißung der Stadt von ihrem natürlichen Hinterland nicht wett machen, zumal sie als Schlüssel der schwedischen Machtstellung an den südlichen Gestaden der Nord- und Ostsee in diesen kampferfüllten Zeiten stets die Angriffe der Feinde Schwedens auf sich ziehen musste: in drei schweren Belagerungen 1675, 1711/12 und 1715/16 bewährte die deutsche Stadt ihre Treue gegen die schwedische Herrschaft. Ihr früherer Wohlstand schien endgültig untergraben; das Wenige, was die kommenden ruhigeren Zeiten wieder gut machten, wurde durch den siebenjährigen Krieg wieder vernichtet. So häufte sich die gewaltige Schuldenlast an, an der die Stadt noch bis tief in das neunzehnte Jahrhundert hinein zu tragen hatte; so wurde die alte stolze Hansastadt zu einem heruntergekommenen, mehr und mehr verfallenden Flecken, der nur noch Mitleid erregen konnte.

Kein Wunder daher, dass die Kunde von den Malmöer Verhandlungen wie ein erfrischender Hauch auf dies scheinbar dem Absterben verfallene Gemeinwesen wirkte. Mit der erhofften Rückkehr zum alten Vaterlande schienen nun auch alle übrigen Wünsche, die die Väter der Stadt bis dahin im tiefsten Schrein ihrer Herzen verschlossen hatten, der Erfüllung plötzlich nahe gerückt. In sprudelnder Überfülle kamen sie jetzt zum Vorschein: Noch im Juni 1803 entwarf der wismarsche Stadtsekretär Walter eine lange Liste, *) auf der er alle Wünsche verzeichnete, die der neuen Landesherrschaft zu unterbreiten sein würden. Da erschienen j neben der allgemeinen Privilegienbestätigung und den auf die Garnison und die Eximierten bezüglichen Anliegen in besonders großer Zahl die Vorschläge zur Beförderung von Handel und Gewerbe: Obenan stand die Herabsetzung des landesherrlichen Seezolles, des Lizent. jedoch ohne gleichzeitige Minderung der städtischen Akzise, so dass beide zusammen der Rostocker Abgabe gleich würden, zu der sie sich zur Zeit etwa wie 9 zu 5 verhielten; unbeschränkter Verkehr mit Mecklenburg, Fahrbarmachung des Vichelschen Baches als Wasserverbindung mit dem Schweriner See. möglichste Anziehung des russischen Handels, Verbot jeder bürgerlichen Nahrung auf zwei Meilen im Umkreis, Unterdrückung der Klipphäfen, Verzicht der Landesherrschaft auf Erteilung von Monopolien und Freiprivilegien, Wiederverschaffung der Zollfreiheit in Lübeck, Aufrechterhaltung des Judenverbots und manches andere folgte nach.

*) Ratsarchiv Tit. I, No. 8, Vol 17.

Der Ratsherr Fabricius ergänzte diese umfassende Liste noch durch nähere Ausführungen über Akzise und Lizent und besonders durch den Vorbehalt der Ansprüche der Stadt auf die ehemaligen Fortifikationsplätze. Während man es so in Wismar an Vorbereitungen nicht fehlen ließ, um aus dem zu erwartenden Wandel der staatlichen Zugehörigkeit möglichsten Vorteil für die Stadt zu ziehen, wurde auf eine amtliche Mitteilung über die Ergebnisse der in Malmö gepflogenen Verhandlungen noch monatelang vergeblich gewartet. Die Geduldsprobe war zu hart: Am 13. August ging eine Deputation aus Rat und Ausschuss nach Doberan zum neuen Landesherrn und wurde tags darauf gnädig empfangen. Nun folgten die Ereignisse Schlag auf Schlag: Am 19. August wurde Stadt und Herrschaft Wismar an den mecklenburgischen Kommissar, den Kammerdirektor Brüning, übergeben und am 29. August hielt der angestammte Landesherr Friedrich Franz I. seinen feierlichen Einzug in die nach langer Entfremdung wiedergewonnene Stadt. Heller Jubel empfing ihn in der Stadt, in der so mancher seiner Ahnen geschaltet und gewaltet hatte; das Gefühl der alten Zusammengehörigkeit mit Mecklenburg und seinem Herrscherhause hatte sich noch lebendig erhalten. Das Volk war froh, jetzt wieder einen deutschen Herrn über sich zu haben, durch dessen derbe Leutseligkeit es zu lauten Äußerungen der Freude hingerissen wurde, und die Hoffnung auf nun bald kommende glücklichere Zeiten, auf Wiederbelebung und Gedeihen von Handel und Schifffahrt, fand überall in Reden und in Festinschriften zuversichtlichen Ausdruck.

So hielt sich die Festesfreude in ungeminderter Frische bis zu dem am 2. September erfolgenden Auszuge des Herzogs. Sogar die den Umständen sehr wenig angepasste Haltung des Geheimen Rats und Hofmarschalls v. Bülow, der selbst einen Kammerdiener für zu gut hielt, um im Namen des Herzogs „bei Schneidern und Schustern den Wirt zu machen“, *) konnte keine nachhaltige Verstimmung in der Bevölkerung erregen, da Friedrich Franz selber eingriff und über den Kopf Bülows weg den Kammerjunker v. Pressentin beauftragte, an seiner Statt die wismarsche Kaufmannschaft zu bewirten. Den Hofmarschall aber wies der Herzog scharf zurecht: „und würde es Uns höchst unangenehm seyn, wenn auch nur ein einziger unangenehmer Eindruck aus den Begebenheiten jener glücklichen und frohen Tage zurückbliebe und Uns Unsere höchsteigene Freude verbitterte.“

*) Geh. und Hauptarchiv Civ. Wismar, W

Wer freilich damals den Malmöer Vertrag mit kritischem Blick betrachtet hätte, dessen Freude wäre wohl keine ungemischte gewesen. Aber bei allen Beteiligten, zumal bei der Stadt Wismar selber, überwog doch damals die Freude über die Rückkehr zum alten Vaterland zu sehr jeden andern Gedanken. Dass Wismar nicht als wirklicher Besitz, sondern nur als schwedisches Pfand an Mecklenburg gekommen war, störte jetzt noch nicht die Freude der tatsächlichen Wiedervereinigung; denn welche schweren Nachteile sich aus dieser unglücklichen staatsrechtlichen Stellung für die Stadt ergeben würden, daran dachte damals wohl niemand. Wer aber den Ereignissen näher stand, wusste ja, dass diese Verpfändung von Schweden ebenso gemeint war wie ein wirklicher Verkauf für alle Zeiten. Das war in den Vorverhandlungen zum Malmöer Vertrage deutlich genug zu wiederholten Malen von schwedischer Seite ausgesprochen worden. *) Die Form des Verkaufs wollte Schweden nur aus Rücksicht gegen die öffentliche Meinung und zur Ersparung der sonst an den Kaiser zu zahlenden Lehensrekognition unbedingt vermieden wissen.

So war am 26. Juni 1803 der Vertrag unter den beiderseitigen Bevollmächtigten in Malmö zu stande gekommen. Am 19. Juli wurde er vom König Gustav Adolf, am 26. Juli vom Herzog Friedrich Franz ratifiziert. Schweden hatte alle Ursache, mit dem Abkommen zufrieden zu sein. Es gab einen Besitz ab, den es auf die Dauer doch nicht hätte halten können, und gewann dadurch eine Summe Geldes (1.250.000 Taler Hamburger Banco), deren jährliche Rente sich auf mehr als das Doppelte der gewöhnlichen Einkünfte von Stadt und Herrschaft Wismar belief. Eben in diesem hohen Pfandschilling sollte für Mecklenburg ausgesprochenermaßen die Bürgschaft liegen, dass Schweden niemals an eine Wiedereinlösung denken würde. Da aber diese in den Vorverhandlungen gegebenen Versicherungen im Vertragsinstrument keine Aufnahme gefunden hatten, blieb gleichwohl die Einlösungsbefugnis Schwedens rechtlich unanfechtbar bestehen, **) obwohl der von Mecklenburg bezahlte Pfandschilling den wirklichen Kaufwert des Pfandgutes jedenfalls noch überstieg. Und Mecklenburg war nicht einmal die Möglichkeit gewährt worden, durch Kündigung dieses Vertrages Schweden vor die Wahl zu stellen, entweder den Kaufschilling mit Zins auf Zins zurück zu erstatten, oder aber das Pfandgut verfallen d. h. ohne jede Einschränkung als wirklichen Besitz bei Mecklenburg verbleiben zu lassen. Das war durch Artikel 3 des Vertrages ausdrücklich verboten, weil ja zweifellos bei einem solchen Vorgehen Mecklenburgs nur die völlige Lösung Wismars von Schweden ein-treten konnte. Mecklenburg war es nur gestattet, ruhig abzuwarten, ob nach Ablauf von hundert Jahren Schweden sein Einlösungsrecht ausüben würde.

*) Ich folge hier C. Fr. Lundin. Wismars Verpfändung an Mecklenburg-Schwerin, Upsala 1892. (Handschriftliche Übersetzung im Geh. und Hauptarchiv).
**) Vgl. Bruno Schmidt: Über einige Ansprüche auswärtiger Staaten auf gegenwärtiges Reichsgebiet. Leipzig, Veit & Komp. 1894; und von demselben: Der schwedisch-mecklenburgische Pfandvertrag über Stadt und Herrschaft Wismar. Leipzig, Duncker und Humblot. 1901.


Tat Schweden dies nicht, so sollte der Vertrag stillschweigend um weitere hundert Jahre verlängert sein. Und erst nach deren Ablauf wäre, bei der durch das gewaltige Ansteigen*) der Pfandsumme völlig ausgeschlossenen Einlösung, Mecklenburg in der Lage, den Vertrag zu zerreißen, da dessen weitere Verlängerung dann von der Einwilligung Mecklenburgs bzw. des Deutschen Reichs abhinge. Aber welche Qual für die betroffene Stadt, wenn sie noch weitere hundert Jahre diesen Zustand hätte ertragen müssen, der, so undenkbar auch eine Wiedereinlösung sein mag, darum nicht weniger unwürdig ist und die Entwicklung Wismars auch ferner geschädigt haben würde.

*) Schon für 1903 wird die zur Einlösung erforderliche Summe je mich der Auslegung des § 4 des Pfandvertrages rund auf 108 oder auf 450 Millionen Mark berechnet. Vgl. Lundin a. a. O., S. 49; Schultze, Ge-drängte Darstellung des Wesens und der Ergebnisse der gesamten öffentlichen Abgaben und Landesanlagen in beiden Großherzogtümern Mecklenburg. Schwerin 1849. S. 18. Anm. 2 und Mecklenburgische Zeitung 1900, No. 63.

Solche Erwägungen konnten in den glücklichen Tagen der ersten Anwesenheit des Herzogs Friedrich Franz I. in seiner getreuen Stadt Wismar nicht zu Raum kommen. Sogar die schweren wirtschaftlichen Sorgen, mit denen die Stadt nun schon so lange rang, mussten auf kurze Zeit verstummen: die Wiedervereinigung mit dem Heimatlande musste ja alles bald ins rechte Gleis bringen! Hätte damals einer voraussagen können, dass Wismar noch weit über ein halbes Jahrhundert lang in Mecklenburg, was Steuern und Zölle anbetrifft, als Ausland behandelt werden würde, an dessen geistiger Beschaffenheit würden wohl starke Zweifel laut geworden sein.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wismar unter dem Pfandvertrage, 1803 bis 1903