Abschnitt 3

VIII. Die Wunder von Philadelpina.


„Ich kuck ja jar nich um,“ sagt se; „Du läufst ja rückwärts, Oschen.“


„Ach Jott, mach doch man keene Witze!“ sage ich und bleibe en Augenblick stehen. - Herr Jeses, der Schreck! Ich kann Dir man sagen, ich dachte mich rührt der Schlag; hatte die Schwefelbande doch wahrhafijen Jott in der Eile Mutterchen den Kopp verkehrt aufjesetzt!

Was nu? Ich schäume vor Wut. Zuerst dachte ich; am Ende is er noch locker - und versuch ihn rum zu drehen; aber nee, er saß schon janz feste. Ich mache kehrt nach dem Ballonplatz; aber da war schon allens verschlossen und kein Mensch mehr zu sehen. Mutterchen hatte es noch jar nich mal jemerkt, was eijentlich mit ihr jeschehen war, die dachte bloß, ich wäre verrückt geworden. - I, was sollste die arme Frau unnütz aufrejen, dachte ich mir, wir wer’n machen, daß wir’n Zug erwischen und morjen früh jehn wir an Bord des Schnelldampfers und fahren nach unser jeliebtes Berlin. Schließlich jibt es doch bei uns zu Hause so jroßartige Operateure und wenn die ihr wirklich ooch nich helfen können - du lieber Jott, wenn der Mensch man des Herz auf’m richtigen Flecke hat, denn is schließlich der Kopp ooch Nebensache.

So tröste ich mich vorläufig und denn renn ich wieder mit Mutterchen was haste was kannste nach em nächsten Droschkenhalteplatz und fahre nach’m Hotel, lasse se erst jar nich aussteijen - es brauchten doch nich alle Leute jleich zu wissen, was uns passiert war - bezahle de Rechnung und denn weiter nach’n Bahnhof. Wir erwischen richtig noch den Zug, ich drücke Mutterchen in de Ecke, flanze mich ihr vis-à-vis, und denn kloppe ich mir auf de Kniee und sage janz verjnüjt, um Mutterchen nich merken zu lassen, wie mir zu Mute war; „Is doch janz was anderes, Mutterchen, wenn man ohne Präsentierbrett reist, nich wahr? Ordentlich frei fühlt man sich.“

„Jawoll,“ sagte Mutterchen, „des mag schon richtig sein, Oschen; aber mit mir is es nich richtig. So dumm bin ich nu doch nich, daß ich des nich merke. Warum hast Du ‘n auch nich besser aufjepaßt, mein Junge? Du mußt doch wissen, auf welcher Seite ich de Nase zu tragen fleje.“

„Ach Jott, mein liebes Mutterchen,“ sage ich janz kleinlaut, „sei man bloß nich böse! Ich kuckte jrade nach der Uhr, wie se Dich zurechte machten. Es soll auch jewiß nich wieder vorkommen. Aber weißte, Mutterchen, die Sache zieht sich am Ende von selber wieder zurecht. Wenn man bedenkt, daß wir jetzt von Westen nach Osten um de halbe Erdkugel rumfahren und daß überhaupt de Verhältnisse bei uns janz anders sind wie in Amerika, und denn außerdem die Paralaxe der Jeschwindigkeit multipliziert mit des Parallelojramm der Kräfte und de fiderischen Einflüsse im alljemeinen . . Mein Jott, was man so quasselt, wenn man einen trösten und sich aus ‘ner faulen Sache raus-reden will.

Mutterchen hört des allens janz ruhig mit an und denn jiebt se mir de Hand und sagte: „Weißte, Oschen, mich freut bloß eins bei der Jeschichte; nu können je doch in Berlin nich sagen, wir hätten jelogen, wenn wir ihnen die Sache erzählen von dem Ballon captif.“ - -

Der Onkel winkte den Zahlkellner heran und beglich unsere kleine Zeche. Dann erhob er sich und sagte, indem er seinen Arm unter meinen schob und mit mir das Lokal verließ; „Na, nich wahr, nu is Dir der Zusammenhang klar? Mutterchen hat sich ja auch merkwürdig jewöhnt an den eijentümlichen Zustand. Wenn se so ruhig steht merkt’s ja ooch keener - se is ja hinten und vorne nich sehr verschieden; aber wenn se sitzt, denn is’s freilich faul; ich sage immer, wenn Fremde bei sind, die’s noch nich wissen; se kuckt sich de Bilder an.“ Wir standen auf der Straße. Ich sah mir den Onkel an. Merkwürdig, der Mannitti ging ganz geradeaus ohne Schwanken - seine Zunge hatte er auch noch vollkommen in der Gewalt - betrunken war er also augenscheinlich nicht - es mußte denn sein, daß ihm im Laufe seiner beredten Erzählung die eigene Phantasie zu Kopfe gestiegen war. „Hör mal, lieber Onkel,“ sage ich, „ich glaube Dir ja mit Vergnügen alles aufs Wort, aber die Geschichte mit der Guillotine . . . .“

Der Onkel blieb stehen und maß mich von Kopf zu Füßen mit einem mitleidigen Blick. „Du hast eben keinen Schimmer davon, mein Sohn, was in Amerika allens möjlich is und janz besonders in Philadelphia. Haste denn nie de Jeschichte von dem berühmten Zauberer Bosco jelesen?“

„Nein, keine Ahnung.“

„Bosco aus Philadelphia, genannt Philadelphia, war doch bekanntlich der berühmteste Zauberkünstler des achtzehnten Jahrhunderts. Wie der sein Ende nahe fühlte, zog er sich nach seiner Vaterstadt zurück, lud seine sämtlichen Freunde, Verehrer und Verwandten zu einem jroßen Frühstück ein und sagte nach dem Käse; Meine Damen - meine Herren! Jetzt werde ich Ihnen das letzte und wunderbarste Kunststück vorführen, welches ich in meinem langen Leben jemacht habe. Ich werde mich hier auf’n Tisch lejen und Sie werden so freundlich sein, mich in jenau hundert Teile zu zerstückeln. Diese Teile bitte ich Sie alsdann in einer Blechkiste von meiner Jröße, aber jut jemischt wie’n Kartenspiel, zu placieren, die Kiste zuzulöten, im unterirdischen Jewölbe der Staatenbank beizusetzen und den Schlüssel im Weißen Hanse in Washington in Verwahrung zu jeben. Heute schreiben wir den 1. Januar 1800, am 1. Ianuar l900 werden Ihre Erben so freundlich sein, den Schlüssel im Weißen Hause wieder abzuholen, das Jewölbe aufzuschließen, die Blechkiste zu entlöten - und ich werde mir erlauben, frisch und jesund in meiner jejenwärtigen Gestalt dieser Kiste zu entstehen. - Und so is es auch jeschehen.“

„Ach nee?“ rief ich. „Aber was war denn nu am I. Januar 1900? Wurde er denn wirklich lebendig wieder aufgefunden? Ich kann mich nicht erinnern, in der Zeitung eine diesbezügliche Notiz gelesen zu haben.“

„Ach Jott nee, denke Dir blos mal an -“ erwiderte der Onkel tief betrübt; „Im Weißen Hause hatten se’n Schlüssel verlejt. Nu is der arme Bosco vielleicht schon drei Jahre lebendig in seiner Blechkiste - und kann nich raus.“

„Ach ja, was alles für Sachen passieren in der Welt!“ pflichtete ich seufzend bei. „Aber hör mal, hast Du denn gar nicht versucht, Deiner guten Schwiegermama den Kopf wieder zurechtsetzen zu; lassen?“

„Na aber selbstredend,“ antwortete Onkel Ochen. „Ich war bei allen ersten Chirurgen Deutschlands, aber keener jetraut sich, die Operation zu unternehmen.“

„Natürlich nicht,“ jage ich, indem ich dem Onkel auf die Schulter klopfte. „Sie werden die Salbe nicht haben, die dazu gehört. Laß doch einfach einen Topf voll aus Philadelphia kommen.“

Der Onkel blinzelte mich verschmitzt an, dann drückte er mir warm die Hand und sagte: „Des is en Jedanke! M. W.“

Und so trennten wir uns für diesen Abend.

Kürzlich habe ich Onkel Oschen und seine Schwiegermutter in Berlin aufgesucht und da schaute sie geradeaus wie andere Menschen auch. Wir verlebten ein paar vergnügte Stunden zusammen und beim Abschied nahm mich Onkel Oschen beiseite und raunte mir zu: „Danke Dir auch noch schön für Deinen juten Rat von damals. Ich habe mir jleich die Salbe kommen lassen. Für son kleenen Mostrichtopp voll hab’ ich fünfundzwanzig Dollar bezahlen müssen; aber nu hat’s Leyden jleich jemacht. Du siehst, mit welchem Erfolge. Wenn De mal nach Amerika kommst, denn versäume nich den Ballon captif, mein Sohn.“