Fünfte Fortsetzung

Eine Eigentümlichkeit, welche den Newsky-Prospekt auszeichnet (obgleich sie in geringerer Anzahl auch in anderen Straßen sich findet), sind die von Brettern leicht gezimmerten Schutzdächer, welche fast von jeder Haustüre quer über das breite 'Trottoir zur Straße führen, damit bei schlechtem Wetter trockenen Fußes und Hauptes in den Wagen gestiegen werden könne. Neben diesem Hauptzwecke benützen die Inwohner das Schutzdach noch, auf den drei Seiten ihre Firmen in möglichst großen, meist goldenen, roten und schwarzen Buchstaben anzubringen, und da alle die verschiedenen Laden- und Geschäfts-Inhaber um nicht in den Hintergrund gedrängt zu werden, das Gleiche tun müssen, sind die Häuser derartig mit allerlei Firmen und Namen ausstaffiert, dass dem der russischen Sprache Unkundigen dieses Gewirr fremder Buchstaben als gänzlich unverständlich erscheint, — sofern er ohne Kenntnis der Hausnummer — Jemanden nach dem Namen suchen wollte.

In Schweden und seiner Sprache findet man sich — gegenüber Russland — leicht zurecht; — dort wird sich der deutschen, wie auch der lateinischen Lettern bedient (meist der letzteren, obgleich auch in ersteren Zeitungen gedruckt werden). Man ist doch im Stande, die Worte zu lesen, sich einzuprägen und, wenn auch mit fehlerhafter Aussprache, wiederzugeben.


Anders auf russischem Gebiete, wo ein unser deutsches Alphabet weit übersteigender Buchstabenreichtum existiert, welche zwar meistens dem Altgriechischen entnommen, hier oft eine ganz veränderte Bedeutung zugewiesen erhielten. Der deutschen Zunge, welcher doch in der Muttersprache bisweilen harte Aufgaben gestellt werden, wird es mühsam, russische Worte, wo oft sechs hintereinander gestellte Konsonanten auf einen Vokal kommen, nachzusprechen, während der Eingeborene diese tsch, tz, nsk u. s. w. mit einer großen Leichtigkeit von sich gibt, und die Härten einfach fallen lässt. Z. B. der nach deutscher Leseart mit pflichtmäßig-deutscher Aussprache aller Buchstaben hart lautende Namen der Gouvernementsstadt „Pskow" wird im russischen Munde zu einem flüssigen „Sko"!

Ohne die Vermittlung der in Petersburg, wie auch in Moskau, wohnenden zahlreichen Landsleute wäre es mithin dem Deutschen in Russland sehr erschwert; da Monate erfordert werden, um richtig zu lesen, und mehrere Jahre dazu gehören sollen, sich das Russische bis zur Fähigkeit einiger Konversation und Korrespondenzführung anzueignen.

Der Wortreichtum der russischen Sprache wird als ein sehr bedeutender bezeichnet, ebenso als deren Hauptzüge „Einfachheit und Natürlichkeit". Die Verbindung der Sätze soll leicht sein, indessen die Anlage zu verschiedenartiger Verbindung schwieriger, Deklination und Konjugation der der übrigen slawischen Sprachen analog.

In den höheren Kreisen wird mit besonderer Eleganz das Deutsche und Französische gesprochen. In den größeren Kaufmagazinen finden sich allenthalben einzelne Persönlichkeiten, welche der beiden oben genannten Sprachen mächtig sind, dagegen kam es mir vor, dass ich in einigen Verkaufsläden des Grostinoi-Dwor wieder unverrichteter Dinge abziehen musste, weil die deutsche, wie französische Ansprache, womit ich mich einzuführen suchte, nur in Achselzucken und unverständlichen Worten Erwiderung fand.

Aber wie die Not beten lehrt, so lehrt sie auch russisch, und unter den verschiedenen Deutschen? welche dort eine zweite Heimat gefunden haben und ihren materiellen Wohlstand begründeten, haben die Jahre wohl allmählich die Schwierigkeiten gehoben.

Der tägliche Verkehr mit seinem unerbittlichen „Muss" löst manchen Knoten, welchen die nüchterne Grammatik ungelöst lassen würde!

Wir würden uns einer nicht entschuldbaren Versäumnis schuldig machen, wollten wir nicht auch des Petersburger Sommers und der sich diesem anpassenden Lebensweise Erwähnung tun, da sich hieran mit unsere schönsten Reise-Erinnerungen knüpfen.

Wir meinen die italienischen Nächte an der Newa!

Mit der Metapher „italienische Nacht" wird eigentlich in der Jetztzeit hinreichend Missbrauch getrieben, um in der Anwendung derselben vorsichtig zu sein, und nicht eine andere Vorstellung, als beabsichtigt, hervorzurufen. Es sei deshalb hier im Voraus bemerkt, dass wir hiermit nicht die frostigen Sommer-Abende auf einer oder der anderen Hochebene Deutschlands verglichen wissen wollen, wo ein Publikum pêlemêle durch rosenrote Plakate sich verlocken lässt, beim Scheine einiger an den Bäumen aufgehängter Papierlaternen sich den Magen zu verkälten.

Die Sommernächte Petersburgs, wie überhaupt des Nordens, verdienen die Bezeichnung „italienische" im wahren Sinne des Wortes. Allerdings nur in einer beschränkten Dauer, in jenen zwei ein halb bis drei Monaten, innerhalb welcher sich der Sommer, aber .auch in seiner ganzen Macht, fühlbar macht, in welchen die heiße Jahreszeit den Thermometer selbst in den Morgenstunden nicht leicht unter 15 (Celsius) fallen lässt, und von einer eigentlichen Nacht, — jener Finsternis, die als keines Menschen Freund gilt, — überhaupt keine Rede ist.

Wie im Winter das Leben und Treiben der Großstadt sich hauptsächlich auf die Prospekte, die Quais und die gefrorene Newa selbst konzentriert, so strömt mit Beginn des Sommers Alles, was einigermaßen Herr seiner selbst ist, nach der Peripherie, nämlich jenen ländlichen Ansiedlungen, welche meist nördlich und südwestlich die Stadt umgebend, ausschließlich für die Petersburger Sommergäste zum „seligen Vergessen“ geschaffen worden, und mittelst des lauen Lüftchens der baltischen See, und des aromatischen Hauches der Tanne und des Wachholders die aufgeregten Nervensysteme der Hauptstadtbewohner beruhigen sollen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen im westlichen Russland