Erstes Kapitel

Reise-Routen. — Orientierung. — Exkursionen auf geographisch-statistischem Gebiete. — Die Einteilung des europäischen Russlands. — Dessen Zonen und klimatische Verhältnisse. — Wald. — Getreidebau. — Tierwelt. — Die Bevölkerung nach Nationalitäten und Dichtigkeit. — Fabrikwesen. — Eisenbahnnetz. — Von der Weichsel zur Newa.

Wenn auch — wie ein altes Sprichwort meint — alle Wege nach Rom führen, so lässt sich Gleiches nicht von Petersburg sagen. Zur Zeit beschränkt sich vielmehr die Wahl für den deutschen Reisenden auf zwei Gelegenheiten zur See und ebenso viele Eingangsstationen mittelst der Eisenbahnen.


Unter den ersteren würden wir unbedingt der Fahrt über Stockhohn, von hier mittelst des Dampfers, — die Alandinseln passierend — nach Helsingfors, den Vorzug einräumen. Die reichen Landstriche der Dithmarschen mit ihren fetten Marschgegenden, die historischen Punkte der Unabhängigkeitskämpfe um die oft genannten Herzogtümer, liegen uns am Wege, wenn wir auch unter ihnen beim Vorbeifahren umsonst das Dannevirke suchen, dessen letzte Spuren vom Erdboden vertilgt sind. Wem nicht die Tage allzu knapp zugemessen sind, so dass er die neue Dampferlinie Frederikshavn-Göteborg zu nehmen gezwungen ist, wird es nicht versäumen, die prächtige Königsund Seestadt Kopenhagen zu einem, wenn auch kurzen Aufenthalte zu wählen. Frohsinn und Lebenslust pulsiert hier allerwärts, die schweren Schläge, welche den Dannebrog in einer Reihe von Jahren getroffen, haben den frischen Muth des kleinen, aber zähen Inselvolkes nicht zu trüben vermocht, so enge auch die Grenzen des jetzigen Königreiches rings gezogen sind. Die Überfahrt von hier zur schwedischen Küste währt nur eine und eine halbe Stunde, um im Hafenorte Malmö zu landen, bekannt durch den nach ihm benannten Friedensschluss, wie als Sterbeort des jüngst verlebten Königs Karl XV., welcher todkrank sich vom Auslande noch hierher schleppte, um auf heimatlichem Boden seine Seele auszuhauchen!

Der Besuch des südlichen Schwedens mit seinen dunkeln Wäldern, üppig grünen Wiesen, träumerisch einsamen Seen, seiner naiven treuherzigen Bevölkerung, ist eben so dankbar, als der Anblick des reizend dem blauen Meere entsteigenden Stockholms, welcher sicherlich auch eine gespannte Erwartung übertrifft. Von Helsingfors an der finnischen Küste bringt alsdann die Bahn über Riihimäki in etwa elf Stunden, Wyborg berührend — nach Petersburg, wobei dem Freunde von Naturschönheiten Gelegenheit gegeben ist, mittelst des kleinen Opfers einer mehrstündigen Reise-Unterbrechung den bekannten Wasserreichtum Finnlands in einem seiner schönsten Objekte, dem von der Bahn nicht allzu weit abliegenden Imatrafälle, zu bewundern. Wer Mügges höchst spannenden Roman „Erich Randal", — somit die reizenden Naturschilderungen der finnischen Gegenden um den Paijänne-See gelesen hat, kann es sich nicht zusammenreimen, wie der Eingeborene sie in der ihm noch eigentümlichen Sprache Suomen-Sari (Sumpf- und Inselland) nennen mag, während sie in ihrer Art doch mit dem verwandten Hügel- und Waldlande Schwedens — dem großen Weltverkehre noch ferne liegend, — an Anmut rivalisieren sollen.

Die eben angegebene Route nach Petersburg über Stockholm hat den Vorzug der häufigeren Abwechslung in der Reiseart für sich, und bietet zweifelsohne (die Strecke auf finnischem Boden können wir zwar aus persönlicher Anschauung nicht beurteilen) eine höchst mannichfaltige Reihenfolge nordischer Landschaften.

Eine zweite, vor Herstellung der Bahn Königsberg-Petersburg wohl am meisten benützte Reise-Gelegenheit, ist der Dampfer von Lübeck oder Stettin nach Riga und Baltischport, von welch' letzterem Küstenplatze die Bahn längs der südlichen Ufer des finnischen Meerbusens in etwa zehn Stunden über Reval und Gatschina nach Petersburg führt. Während die Überfahrt von Stockholm nach Helsingfors eine schon verhältnismäßig lange genannt werden kann, da sie oft bis siebzig Zeitstunden in Anspruch nimmt, ist die Seefahrt auf der letzteren Route eine noch bedeutendere, und genießt das Baltische Meer bezüglich der Stürme nicht des besten Rufes, so dass der Deutsche unter allen Erständen dem Landwege den Vorzug einzuräumen, nicht lange im Zweifel sein wird.

Auf letzterem stehen uns — vom deutschen Gebiete aus — zwei Eisenbahnlinien offen. Von diesen ist die südliche, Breslau-Öls-Warschau, erst bis Wartenberg an der russischen (polnischen) Grenze, in Betrieb gesetzt. Nach ihrer Vollendung und durchgehender Inbetriebsetzung bis Warschau, bietet sie für den Mitteldeutschen , namentlich den Sachsen und Schlesier, den gradesten Weg über Bialystock nach Wilna. Solange jedoch diese Bahn auf der immerhin bedeutenden Strecke Wartenberg bis Warschau unterbrochen ist, konzentriert sich fast der ganze deutsch-russische Personen-Verkehr auf der nördlichen Route Königsberg-Wirballen-Wilna, von wo aus die Züge beider Richtungen vereinigt, über Dünaburg die Hauptstadt Petersburg erreichen.

Wie für jede größere Reise sich eine entsprechende Vorbereitung empfiehlt, möchte eine solche in Bezug auf Russland umso mehr angezeigt sein, als eine zweckmäßige Einteilung von Zeit und Weg eine gewisse Kenntnis der Verkehrsmittel vorausbedingt. In Ländern, welche vorzugsweise ihre Züge für Vergnügungsreisende regeln, und deren spezielles Interesse berücksichtigen, wie z. B. die Schweiz und Oberitalien, ist ein versäumter Zug keine Unannehmlichkeit von erheblicher Tragweite. Die nächsten Stunden lassen die verlorene Zeit wieder einholen, auch die kleineren Stationsorte gewähren eine entsprechende Unterkunft.

Anders jedoch gestaltet sich ein derartiges Versäumnis oder eine irrige Supposition in den dünn bevölkerten Gegenden des Nordens, wo wenige Züge — auf manchen Strecken nur zwei in vierundzwanzig Stunden — verkehren, und die von der Bahn meist weit abliegenden kleineren Städte auf den unvorhergesehenen Besuch Fremder schwerlich eingerichtet sind.

Das Kursbuch — (von welchem selbstverständlich stets die neueste Monats-Nummer zur Hand zu nehmen ist) — bietet für den Reiseentwurf, die Abfahrtszeiten und Ankunftsstunden einen sicheren Anhalt. Es ist in Wirklichkeit zum unabweisbaren Bedürfnis geworden.

Die Literatur, welche dem nach dem westlichen Russland reisenden Deutschen zur vorhergehenden Orientierung sich bietet, ist zur Zeit keine reichhaltige. Es bedarf immerhin einigen Fleißes, um zu diesem Zwecke geeignetes Material zu sammeln; in den meisten derartigen Quellen wird der Schwerpunkt auf die politische Stellung des russischen Reiches gegenüber dem übrigen Europa gelegt, — Konstellationen; welche höchst veränderlicher Natur, — zugleich für den Touristen fast gänzlich wertlos erscheinen. Der Hauptgrund liegt zweifelsohne in der geringen Aufmerksamkeit, welche früher dem Norden von Seite der Reisenden überhaupt zu Teil wurde. Erst die letzten Dezennien haben z. B. die Fjords Norwegens und die inneren Provinzen Schwedens für würdig gehalten, den Blick des Reisepublikums auch dorthin zu richten, während die Aufmerksamkeit desselben vordem ausschließlich auf das unendlich oft beschriebene Italien und südliche Frankreich, die Schweiz und österreichischen Alpenländer gezogen wurde.

Vor dem Besuche größerer Städte ist ein eingehendes Studium des Stadtplanes vom weittragendsten Nutzen, und sollte man stets trachten, einen solchen sich zu verschaffen. Für den berührten Zweck lohnt sich keine Mühe reichlicher, als diese; das angenehme Gefühl einer gewissen Sicherheit umfängt uns, die Selbständigkeit gewinnt, während man ohne jegliches Verständnis für Orientierung und Entfernung sonst ausschließlich in die Hände des Lohnbedienten und Fiakers gegeben ist. Im letzteren Falle darf man immer auf Zeitverluste und nicht selten auch auf Übervorteilungen gefasst sein, zumal wo man der Sprache nicht mächtig ist. Nicht Jeder kann die Annehmlichkeit sein eigen nennen, in Petersburg wie Moskau freundliche Bekannte zu finden, welche mit unermüdlicher Aufopferung Tag für Tag ihre Lokalkenntnis zu unserm Besten verwerten, — wie wir es zu treffen das Glück hatten.

Die Emanzipation von Lohnbedienten und Fiakern halten wir wenigstens bis zu dem Grade für notwendig, dass dem Fremden noch so viel Selbständigkeit übrig bleibt, über die Einteilung seiner Zeit und die Wahl des ihn speziell Sehenswerten sich die eigene Verfügung zu bewahren. Die Erfahrung lehrt, dass die Lohnführer oft Gebäude, Etablissements, Sammlungen u. A. als äußerst sehenswert bezeichnen, welche weder den gemachten Weg, noch die aufgewendete Zeit lohnen, — nicht minder, dass die Droschkenführer in die Augen fallende Umwege einschlagen, um eine höhere Fahrzeit berechnen und größere Preise motivieren zu können. Alles dieses geschieht vornehmlich nur da, wo der durch lange Übung geschärfte Blick, einen gänzlich unkundigen Fremden vor sich zu haben, gewiss ist. Durch eine vorhergegangene Orientierung auf dem Stadtplane werden derartige Versuche, wenn auch nicht unmöglich, doch jedenfalls seltener gemacht.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen im westlichen Russland