Erste Fortsetzung

Wenn wir den Plan von Petersburg vor uns ausgebreitet haben, drängt sich die Überzeugung auf, dass ein Zurechtfinden, trotz der Weitläufigkeit der Stadt, keine absonderlichen Schwierigkeiten haben könne, sofern man sich überhaupt einige Orientierungsgabe zuschreiben darf. Indessen wird man zu weiten Gängen nicht leicht veranlasst sein, sondern schon aus Rücksicht der Zeitersparnis sich zur Benützung der unzähligen Fahrgelegenheiten bald angewiesen sehen.

In den Hauptzügen lässt sich Petersburg topographisch etwa wie folgt, schildern : Es liegt vollkommen eben zu beiden Seiten der Newa, acht Meilen von deren Ausfluss aus dem Ladogasee (wo die Festung Schlüsselburg), — höchstens eine halbe Meile vom Einflüsse des Newastromes in den Finnischen Meerbusen.


Die drei, auf dem rechtsseitigen Ufer desselben gelegenen Stadtteile werden durch Arme der Newa getrennt. So scheidet die große Newa die Wyborger Seite von der Petersburger Seite, die kleine Newa diese letztere von Wassili-Ostrow.

Der auf dem linken Ufer des Hauptstromes situierte Hauptkomplex heißt die große oder Admiralitätsseite, und ist durch drei bedeutende Kanäle, die Moika, den Katharinen-Kanal und die Fontanka, welche als konzentrische Kreise die drei Admiralitätsstadtteile abgrenzen, durchschnitten.

Nicht minder dient uns die heilige Zahl „drei" wieder zur Orientierung mittelst der als Radien vom weit sichtbaren, hohen Admiralitätsturm auslaufenden Hauptstraßen, hier Prospekte genannt.

Die mittlere dieser drei prächtigen, breiten, schnurgraden Straßenzeilen ist die „Erbsenstraße" (Grorochowaja-Ulitza), — jene links der „Newsky-Prospekt", endlich die rechts abgehende die „Auferstehungs-Perspektive" (Wosnesenskoi-Prospekt). Nachdem jeder dieser drei Prospekte einmal von jedem der drei Kanäle durchschnitten wird, so hat man sich nur zu merken, dass man mit jedem Überschreiten einer Kanalbrücke sich mehr von der Newa entfernt, sowie, dass man andrerseits die in ihrer eigentümlichen Form mit keiner andern zu verwechselnde goldene Spitze des Admiralitätsturmes in das Auge zu fassen habe, um wieder die Richtung gegen die Newa zu gewinnen.

Wassili-Ostrow, hauptsächlich der Wohnsitz der großen Kaufmannschaft, ist gleich Mannheim rechtwinkelig ins Netz gelegt, und sind die Straßen mit Nummern und Buchstaben bezeichnet.

In Moskau bietet der die ganze Stadt dominierende Kremel — als Mittelpunkt — den besten Anhalt zur Orientierung. Dessen höchster Turm, der große Iwan, gleich dem Campanile des Markusplatzes zu Venedig allein stehend, ragt mit seinem vergoldeten Dache hoch empor, und ist, wenn auch nicht überall, doch von vielen Punkten der Boulevards, dann den meisten, von der Peripherie gegen das Centrum Moskaus führenden, breiten Straßen sichtbar.

Möge nun eine, an unsere Episode über Orientierung sich knüpfende, kurze Exkursion auf das geographisch-statistische Gebiet, als nicht ungeeignet gefunden werden. Es ist bekannt, dass die unter dem Zepter des Zaren vereinigten Gebiete sich, wie kein zweites Reich der Erde, über drei Weltteile erstreckten, bis im Jahre 1867 das russische Nordamerika, wohl für die Krone als ziemlich wertlos erachtet, aus freien Stücken abgetreten wurde. Immerhin umfasst Russland noch den siebenten Teil der ganzen Erdoberfläche.

Von diesem entfallen indessen nur etwa hunderttausend Quadrat-Meilen auf das europäische Russland, — das ganze östliche Europa zwischen der deutsch-österreichisch-rumänischen Grenze und dem Ural-Gebirge, dann vom nördlichen Polarmeere zum Schwarzen Meere in sich fassend. (Wir beschränken uns auf runde Summen, wie sie zum Überblicke des Touristen genügen, obgleich die statistischen Tabellen auch für genauere Zifferangaben auf Grund der Landesvermessungen, — Material zur Disposition stellen würden.)

Die Einteilung des europäischen Russlands, einschließlich der Ostseeprovinzen, aber ohne Zurechnung des vormaligen Königreiches Polen und des selbstständigen Großfürstentums Finnland, — hatte 1867 neunundfünfzig Gouvernements und Gebiete aufzuzeichnen. Im Jahre 1872 fügen die „statistischen Mittheilungen aus Russland" in ihrer Tabelle über das Areal und die Bevölkerung des europäischen Russlands, noch ein Polnisches Gouvernement hinzu, welches an Stelle des früher getrennt verwalteten Gebietes dieses Namens gesetzt worden.

Für unseren Reisezweck, die beiden Hauptstädte des Kaiserreiches zu besuchen, fassen wir nur jene Provinzen ins Auge, welche wir zu berühren haben. Es sind die Gouvernements Petersburg, vom eigentlichen Großrussland jene von Pskow, Smolensk, Nowgorod, Twer und Moskau; — von Westrussland jene von Kowno, Witebsk, Grodno, Minsk und Wilna, endlich jenes von Warschau.

Mit Ausnahme der Gouvernements Moskau und Warschau gehören alle ebengenannten in landwirtschaftlicher Beziehung unter die am wenigsten produktiven der europäischen Gebiete Russlands. Während der Süden, die Gegenden an der Wolga und ihren Nebenflüssen, die Provinzen Kleinrusslands mit der Ukraine u. s. w. , durch ihre großartigen Getreide-Exporte bekannt, und neben den minder reichlich bedachten nördlichen Gouvernements des Inlandes auch noch das Ausland zu versorgen im Stande sind, beschränkt sich in den Gebieten, welche wir persönlich kennen lernen, das Erträgnis kaum auf den eigenen Bedarf. Der Wald herrscht allenthalben vor, die Bevölkerung ist in Folge dessen dünn und die Ausbeutung des Bodens eine sehr unvollständige. Das Gouvernement Minsk z. B. gehört unter die am geringsten mit Einwohnern bedachten, und nimmt unter den angrenzenden, wie Kowno, Grodno, Witebsk, einen auffallend niedrigen Rang ein.

Aber auch der Wald an sich, dieser Hauptreichtum der Gouvernements Mittelrusslands , ändert sich bemerklich unter den verschiedenen Breitengraden, welche bei einer Angabe über ein Reich von der Ausdehnung des Russischen, stets in Betracht gezogen werden müssen.

Zum Zwecke eines allgemeinen Anhaltspunktes für die Verwaltungsbehörden wurde im Jahre 1784 ein Ukas der Kaiserin Katharina II. publiziert, welcher für das europäische Russland vier klimatische Zonen festsetzt, — durch welche Verfügung eine Menge von administrativen Arbeiten leichter übersichtlich gemacht werden:

1. Der arktische oder Polar-Landstrich, im Norden des Polarkreises.

2. Der nördliche oder kalte Landstrich vom Polarmeer bis zum 57. Breitengrade.
(In diese Zone fallen die Gouvernements Pskow, Petersburg und Nowgorod.)

3. Der mittlere oder gemäßigte Landstrich vom 57. bis zum 50. Breitengrade.
(In diese Zone treffen die Gouvernements Twer Moskau, Smolensk, Kowno, Witebsk, Grodno, Minsk, Wilna und Warschau.)

4. Der südliche oder warme Landstrich vom 50. Breitengrade bis zum Schwarzen und Kaspischen Meere.

Es ressortieren mithin nur der nördliche und mittlere, oder der kalte und gemäßigte Landstrich zu unserem Reisegebiete.

Der Wald des europäischen Russlands charakterisiert sich nach den einzelnen Zonen, etwa wie folgt:

In der ersten, der arktischen, Zone fehlt der Wald gänzlich; sie gestattet keiner einzigen Baumart eine vollständige Entwickelung, die wenigen vorkommenden Exemplare sind krüppelhaft, und gewissermaßen zum Gesträuche verkümmert.

Die zweite, die nördliche, Zone ist reich an Nadelholz- und Birkenwäldern, vorzugsweise der letztgenannte Baum fühlt sich hier heimisch, und drängt sich als der eigentlich dem Norden vorzugsweise angehörende vor. Die Wälder dieser Region liefern den starken Bedarf für den Bau von See- und Flussschiffen, aus ihnen zieht der Betrieb der Hütte und des Bergwerks sein Brennmaterial.

Die dritte, oder gemäßigte, Zone bietet uns überreichlich Gelegenheit, ihre Nadel- und Laubwaldungen, in welchen häufig die Linde als charakteristischer Baum des mittleren Russlands auftritt, in Augenschein zu nehmen.

Die vierte, oder südliche, Zone entbehrt dafür des Waldes gänzlich, gleich dem hohen Norden, und überlässt ihre weiten Gebiete, entweder wo Kulturfähig, einem lohnenden Getreideanbau, — wo nicht, — der baumlosen Steppe.

Kein einziges Land Europas wird von den Ausländern, — auch den deutschen — mit so wenig Kenntnis der klimatischen Verhältnisse beurteilt, als grade Russland. Im Allgemeinen herrscht eben nur die Ansicht vor; dass es fortwährend kalt sei, und die Bemerkung, dass dieses allerdings auf den Winter im vollen Maße anwendbar sei, wird häufig mit ungläubigem Achselzucken entgegengenommen. Dass die Temperatur-Verhältnisse eines Reiches, welches sich von Süden nach Norden auf fast vierzig Breitegrade ausdehnt, alle klimatischen Nuancierungen von dem Klima Südtirols und der lombardischen Tiefebene, bis zum unzugänglichen Eisfelde des Polarkreises, wo das Quecksilber monatelang im gefrorenen Zustande hämmerbar bleibt, aufzeigt, wird brevi manu ignoriert. Es ist ja viel bequemer, Alles in einen Topf zu werfen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen im westlichen Russland