Abschnitt 3

Der Oderbruch und seine Umgebung


Von Frankfurt bis Schwedt


Das linke Oderufer ist hüglig und malerisch, das rechte flach und reizlos. Der eigentliche Uferrand ist aber auch hier steil und abschüssig und die Wandung mit Weidengebüsch besetzt. Inmitten des gelblichen, um die Sommerzeit ziemlich wasserarmen Stromes schwimmen Inseln, und die Passage erweist sich, selbst bei genauer Kenntnis des Fahrwassers, als sehr schwierig. Vorn am Bugspriet stehen zwei Schiffsknechte mit langen Stangen und nehmen beständig Messungen vor, die um so unerläßlicher sind, als die Sandbänke ihre Stelle wechseln und heute hier und morgen dort sich finden.

Fluß, Ufer, Fahrt, alles hat den norddeutschen Charakter. Inzwischen ist es heller geworden, die Nebel haben der Sonne Platz gemacht, und mit dem Sonnenschein zugleich dringen, von rechts her, Glockenklänge zu uns herüber. Dorf und Kirche aber sind nicht sichtbar. Ich horche eine Weile; dann wend ich mich zu meinem Nachbar und frage: »Wo klingt das her?«

»Das ist die Siebenzentnerige von Groß-Rade – mein besonderer Liebling.«

»Was tausend«, fahr ich fort, »kennen Sie die Glocken hier herum so genau?«

»Ja, mein Herr, ich kenne sie alle. Viele davon sind meine eigenen Kinder, und hat man selber erst Kinder, so kümmert man sich auch um die Kinder anderer Leute.«

»Wie das? Haben Sie denn die Glocken gegossen? Sind Sie Gürtler oder Glockengießer? Oder sind Sie’s gewesen?«

»Ach, mein Herr, ich bin sehr vieles gewesen: Tischler, Korbmacher, dazwischen Soldat, dann Former, dann Glockengießer; nun gieß ich Gips. Es hat mir alles nicht recht gefallen, aber das Glockengießen ist schön.«

»Da wundert’s mich doppelt, daß Sie vom Erz auf den Gips gekommen sind.«

»Mich wundert es nicht, aber es tut mir leid. Wenn der ›Zink‹ nicht wäre, so göß ich noch Glocken bis diesen Tag.«

»Wieso?«

»Seit der Zink da ist, ist es mit dem reellen Glockenguß vorbei. In alten Zeiten hieß es ›Kupfer und Zinn‹, und waren’s die rechten Leute, gab’s auch wohl ein Stück Silber mit hinein. Damit ist’s vorbei. Jetzt wird abgezwackt; von Silber ist keine Rede mehr; wer’s billig macht, der hat’s. Der Zink regiert die Welt und die Glocken dazu. Aber dafür klappern sie auch wie die Bunzlauer Töpfe. Ich kam bald zu kurz; die Elle wurde länger als der Kram; wer noch für Zinn ist, der kann nicht bestehen, denn Zinn ist teuer, und Zink ist billig.«

»Wieviel Glocken haben Sie wohl gegossen?«

»Nicht viele, aber doch sieben oder acht; die Groß-Radener ist meine beste.«

»Und alle für die Gegend hier?«

»Alle hier herum. Und wenn ich mir mal einen Feierabend machen will, da nehm ich ein Boot und rudere stromab, bis über Lebus hinaus. Wenn dann die Sonne untergeht und rechts und links die Glocken den Abend einläuten und meine Glocken dazwischen, dann vergeß ich vieles, was mir im Leben schiefgegangen ist, und vergeß auch den ›Turban‹ da.« – Dabei zeigte er auf die runde, kissenartige Mütze, die die Gipsfigurenhändler zu tragen pflegen und die jetzt, in Ermangelung eines anderen Platzes, der Goethe-Schiller-Statue über die Köpfe gestülpt war.

So plaudernd, waren wir, eine Viertelstunde später, bis Lebus gekommen. Der Gipsfigurenmann verabschiedete sich hier, und während das Boot anlegte, hatt ich Gelegenheit, die »alte Bischofsstadt« zu betrachten.

Freilich erinnert hier nichts mehr an die Tage früheren Glanzes und Ruhmes. Die alte Kathedrale, das noch ältere Schloß, sie sind hin, und eines Lächelns kann man sich nicht erwehren, wenn man in alten Chroniken liest, daß um den Besitz von Lebus heiße Schlachten geschlagen wurden, daß hier die slawische und die germanische Welt, Polenkönige und thüringische Herzöge, in heißen Kämpfen zusammenstießen und daß der Schlachtruf mehr als einmal lautete: »Lebus oder der Tod«. Unter allen aber, denen dieser Schlachtruf jetzt ein Lächeln abnötigt, stehen wohl die Lebuser selbst obenan. Ihr Stadtsiegel ist ein »Wolf mit einem Lamm im Rachen«; die neue Zeit ist der Wolf, und Lebus selbst ist das Lamm. Mitleidslos wird es verschlungen.

Lebus, die Kathedralenstadt, ist hin, aber Lebus, das vor dreihundert Jahren einen fleißigen Weinbau trieb, das Lebus existiert noch. Wenigstens landschaftlich. Nicht daß es noch Wein an seinen Berglehnen zöge, nur eben der malerische Charakter eines Winzerstädtchens ist ihm erhalten geblieben.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 2. Teil