Abschnitt 2

Der Oderbruch und seine Umgebung


Von Frankfurt bis Schwedt


Soviel von den Schleppschiffen. Von geringerer Bedeutung sind die Passagierboote, die übrigens, wie sich von selbst versteht, gelegentlich die Rolle tauschen und auch ihrerseits als »Retter« und »Tyrannen« ganz in der oben geschilderten Weise debütieren.

Die Passagierboote gehen von Frankfurt aus zweimal wöchentlich, Mittwoch und Sonnabend, und machen die Fahrt nach Küstrin in zwei, nach Schwedt in acht, nach Stettin in zehn Stunden. Die Benutzung erfolgt mehr stationsweise und auf kleineren Strecken als für die ganze Tour. Schon deshalb, weil die Eisenbahnverbindung die Reisenden eher und sicherer ans Ziel führt. Eher unter allen Umständen, und zwar um so mehr, als es bei niedrigem Wasserstande vorkommt, daß die Fahrt auf Stunden unterbrochen oder gar wohl ganz eingestellt werden muß. Die Regulierung des Oderbetts, ein in den Zeitungen stehend gewordener Artikel, würde diesem Übelstande vielleicht abhelfen und eine Konkurrenz der Dampfschiffe mit der Eisenbahn möglich machen. Damit hat es aber noch gute Wege; Flußregulierungen sind nicht unsre starke Seite, und so werden sich die beiden Passagierboote, die jetzt das Bedürfnis decken, noch längere Zeit mit dem Publikum behelfen müssen, das jetzt zu ihnen hält. Dies Publikum, wenn auch nicht zahlreich, ist immerhin mannigfach genug. Tagelöhner, die auf die Güter, Handwerker, die zu Markte ziehen, dazu Kaufleute und Gutsbesitzer, auch gelegentlich Badereisende, besonders solche, die in den schlesischen Bädern waren. Nur eine Klasse fehlt, der man sonst wohl auf den Flußdampfern unserer Heimat, besonders im Westen und Süden, zu begegnen pflegt: der Tourist vom Fach, der eigentliche Reisende, der keinen andern Zweck verfolgt, als Land und Leute kennenzulernen.

Dieser »Eigentliche« fehlt noch, aber er wird nicht immer fehlen; denn ohne das unfruchtbare und mißliche Gebiet der Vergleiche betreten zu wollen, so sei doch das eine hier versichert, daß an den Ufern der Oder hin allerlei Städte und reiche Dörfer liegen, die wohl zum Besuche einladen können, und daß, wenn Sage und Legende auch schweigen, die Geschichte um so lauter und vernehmbarer an dieser Stelle spricht.

Sehen wir selbst.

Es ist Sonnabend um fünf Uhr morgens. An dem breiten Quai der alten Stadt Frankfurt, hohe Häuser und Kirchen zur Seite – das Ganze mehr oder weniger an den Kölner Quai zwischen der Schiffbrücke und der Eisenbahnbrücke erinnernd –, liegt der Dampfer und hustet und prustet. Es ist höchste Zeit. Kaum daß wir an Bord, so wird auch das Brett schon eingezogen, und der Dampfer, ohne viel Kommando und Schiffshallo, löst sich leicht vom Ufer ab und schaufelt stromabwärts. Zur Linken verschwindet die Stadt im Morgennebel; nach rechts hin, zwischen Pappeln und Weiden hindurch, blicken wir in jenes Hügelterrain hinein, dessen Name historischen Klang hat trotz einem – Kunersdorf. Wir werden noch oft, während unserer Fahrt, an dieses Terrain und diesen Namen erinnert werden.

Der Morgen ist frisch; der Wind, ein leiser, aber scharfer Nordost, kommt uns entgegen, und wir suchen den Platz am Schornstein auf, der Wärme gewährt und zugleich Deckung gegen den Wind. Es ist nicht leicht mehr, ein gutes Unterkommen zu finden, denn bereits vor uns hat ein Gipsfigurenhändler, mit seinem Brett voll Puppen, an ebendieser Stelle Platz genommen. Er ist aber umgänglich, rückt sein Brett beiseite und wartet auf Unterhaltung. Das Puppenbrett bietet den besten Anknüpfungspunkt. König und Königin; Amor und Psyche; Goethe, Schiller, Lessing; drei »betende Knaben« und zwei Windhunde, außerdem, alle andern überragend, eine Aurora und eine Flora bilden die Besatzung des Brettes. Der Aurora sind ihre beiden Flügel, der Flora das Bouquet genommen; beides, Bouquet und Flügel, liegen, wie abgelegter Schmuck, zu Füßen der Figuren.

»Was geht denn so am besten?« eröffne ich die Konversation.

»Ja, das ist schwer zu sagen, mein Herr«, erwidert der Figurenmann (der sich durch das hierlands selten gebrauchte »mein Herr« sofort als ein Mann von gewissen »Allüren« einführt), »es richtet sich nach der Gegend.«

»Ich dachte, König und Königin.«

»Versteht sich, versteht sich«, unterbricht er mich lebhaft, als sei er mißverstanden, »königliches Haus und Goethe-Schiller immer voran. Selbstverständlich.«

»Aber außerdem?«

»Ja, das war es eben, mein Herr. Hier herüber« – und dabei deutete er, nach rechts hin, in die Sandgegenden der Neumark hinein –, »hier herüber verkauf ich wenig oder nichts, nur dann und wann einen ›betenden Knaben‹. Ich könnte von meinem Standpunkt aus sagen« – und dabei überflog ein feines Lächeln sein Gesicht –, »wo der gute Boden aufhört, da fängt der ›betende Knabe‹ an.«

»Nun, da gehen diese wohl ins Bruch«, erwiderte ich lachend, indem ich auf Flora und Aurora zeigte.

»Aurora und Flora gehen ins Bruch«, wiederholte er mit humoristischer Würde. »Auch Amor und Psyche.«

Ich nickte verständnisvoll.

Wir standen nun auf und traten an die Schiffswandung. Er sah, daß ich einen Blick in die Landschaft tun wollte, und wartete, bis ich die Unterhaltung wieder aufnehmen würde.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 2. Teil