Abschnitt 1

Der Oderbruch und seine Umgebung


Von Frankfurt bis Schwedt


            Saßen all auf dem Verdecke,
            Glocken klangen, alte Zeit,
            Und der Himmel wurde blauer,
            Und die Seele wurde weit.

Zwischen Frankfurt und Stettin ist während der Sommermonate ein ziemlich reger Dampfschiffverkehr. Schleppschiffe und Passagierboote gehen auf und ab, und die Rauchsäulen der Schlote ziehen ihren Schattenstrich über die Segel der Oderkähne hin, die oft in ganzen Geschwadern diese Fahrt machen.

Von besonderer Wichtigkeit sind die Schleppdampfer. Handelt es sich darum, eine wertvolle Ladung in kürzester Frist stromauf zu schaffen, so wird ein Schleppschiff als Vorspann genommen, und in vierundzwanzig Stunden ist erreicht, was sonst vielleicht vierzehn Tage gedauert hätte. Ihre eigentlichen Triumphe aber feiern diese Schleppschiffe, wenn sie, wie von ohngefähr, plötzlich inmitten einer kritisch gewordenen Situation erscheinen und durch ihre bloße Erscheinung die Herzen der geängstigten Schiffer wieder mit Hoffnung erfüllen. Sie sind dann, was der Führer für den Verirrten, was der Zuzug für die Geschlagenen ist, und beherrschen natürlich die Situation. Diese Situation ist fast immer dieselbe: entweder hat der Rettung erwartende Kahn sich festgefahren und müht umsonst sich ab, wieder flott zu werden, oder aber, er ist in ein mit Flößen verfahrenes Défilé geraten, so daß jeden Augenblick ein Zusammenstoß zu gewärtigen steht. Im ersteren Falle handelt es sich um Kraft, im anderen Falle um Geschick und Schnelligkeit, um das Bedenkliche der Lage zu überwinden, und der Schleppdampfer ist in der glücklichen Verfassung, beides, je nach Bedürfnis, bieten zu können. Aber freilich – gegen Zahlung. Nun beginnen die tragikomischsten Unterhaltungen, die man sich denken kann. Sie werden vom Kajütendach des Oderkahns einerseits, andererseits vom Radkasten des Dampfers aus geführt. Der geängstigte Schiffer hebt zunächst einfach seine Hand in die Höh, alle fünf Finger deutungsreich ausspreizend. Der Mann auf dem Radkasten schlägt eine verächtliche Lache auf und donnert seinen Befehl zu größerer Eile in den Maschinenraum hinunter, bis das bittende »Hallo« des Schiffers ihn wieder zu einem »stop« bestimmt. Der Schiffer hebt jetzt seine Hand mit den gespreizten Fingern zweimal in die Luft. Dasselbe Lachen als Antwort. So geht es weiter, bis der Kahnführer, der, namentlich wenn er zwischen Holzflößen steckt, seinen Ruin vor Augen sieht, die Summe bewilligt, die der Kapitän des Dampfers zu fordern für gut befindet. Diese Forderungen wechseln, da der letztere, mit scharfem Auge, je nach dem Grad der Gefahr, auch die Taxe bestimmt. Es kommt vor, daß der geängstigte Schiffer seine fünf Finger zehnmal erheben, das heißt also, seine Befreiung aus dem verfahrenen Défilé mit fünfzig Talern preußisch bezahlen muß.

Die Schleppdampfer, wie hieraus genugsam erhellen wird, spielen also auf der Oderstrecke, die sie befahren, die Doppelrolle des Retters und des Tyrannen, und im Einklang mit dieser Doppelrolle ist auch die Empfindung, mit der sie seitens der Schiffer betrachtet werden. Man liebt sie oder haßt sie. Alles, je nachdem die Gefahr im Anzuge oder glücklich überwunden ist. Die am Horizont heraufdämmernde oder wieder verschwindende Dampfsäule wird erst als Hoffnungsbanner begrüßt, dann als abziehende Piratenflagge verwünscht. Dazwischen liegt die Rettung. Nichts ist kürzer als Dank. Die Kapitäne wissen das; aber als praktische Männer kennen sie keine Empfindelei und halten sich schadlos beim nächsten Fall. Sie haben zudem die ruhige Überlegenheit der herrschenden Kaste.

Die Schiffer blicken, wie wir gesehen haben, mit geteilter Empfindung auf den Schleppdampfer – nicht so die Floßführer. Diese geben sich ungeschwächt einer einzigen Empfindung, und zwar ihrem polnischen oder böhmisch-oberschlesischen Hasse, hin. Sie können es wagen. Das Floß, das an manchen Stellen die halbe Breite der Oder deckt, kann wohl den Schleppschiffen, aber das Schleppschiff kann nie und nimmer dem Floße gefährlich werden. Wenigstens nicht ernstlich. Es liegt also kein Grund vor, weshalb sie mit ihrer Abneigung hinter dem Berge halten sollten. Und zu dieser Abneigung ermangelt es nicht an triftigsten Gründen. Die Schleppdampfer nämlich, weil sie den Flößen in Wahrheit weder nützen noch schaden können, begnügen sich damit, die reizbare slawische Natur zu nergeln und zu ärgern. Wie Reiter, die lustig durch einen Tümpel jagen, alles, was in der Nähe ist, nach rechts und links hin mit Wasser und Schlamm bespritzen, so jagen hier die Dampfer an dem schwerfällig zur Seite liegenden Floß vorüber und unterhalten sich damit, das Floß unter Wasser zu setzen. Die zur Seite gedrückte Welle eilt, immer höher werdend, auf das Floß zu; jetzt trifft sie den ersten Balken und spritzt hoch auf. Aber nicht genug damit; die Hälfte der Welle gleitet unter dem Floß hin fort, und überall da, wo eine Lücke sich bietet, nach oben tretend, setzt sie, an sechs, acht Stellen zugleich, das Floß unter Wasser. Nun sollte man glauben, die Flößer müßten gleichgültig sein gegen ein solches Fußbad; aber als wär es Feuer, sieht man jetzt die Besatzung des Floßes auf den Bäumen und Querbalken hin und her springen, als gält es, vor ihrem bittersten Feinde zu fliehen. Diese Zickzacksprünge nehmen sich ebenso komisch wie malerisch aus. Mit vielem Geschick wissen sie immer eine Stelle zu treffen, wo ein Querbalken, ein Holzblock oder am liebsten einer jener Erd- und Rasenhügel sich vorfindet, deren viele sich nicht nur über das Floß hin ausbreiten, sondern auch einen wesentlichen Teil der häuslichen Einrichtung desselben bilden. Bei dieser häuslichen oder wirtschaftlichen Einrichtung des Floßes hab ich noch einen Augenblick zu verweilen.

Die Gesamtökonomie eines solchen Floßes besteht aus zwei gleich wichtigen Teilen, aus einem Kochplatz und einem Aufbewahrungsplatz, oder aus Küche und Kammer. Beide sind von gleich einfacher Konstruktion. Der Kochplatz, der Herd, besteht aus dem einen oder andern jener eben erwähnten Erdhügel, das heißt aus ein paar Dutzend Rasenstücken, die morgens am Ufer frisch abgestochen und wie Mauersteine neben- und aufeinandergelegt wurden. An jedem Morgen entsteht ein neuer Herd. Den alten Herdstellen aber gönnt man ihren alten Platz und benutzt sie entweder als Inseln, wenn die Wellen kommen, oder nimmt sie auch wohl, nach einigen Tagen, als Herdstelle wieder auf. Auf diesem improvisierten Herde wird nun gekocht, was sich malerisch genug ausnimmt, besonders um die Abendstunde, wenn die Feuer wie Irrlichter auf dem Wasser zu tanzen scheinen. Ebenso wichtig wie der Kochplatz ist der Aufbewahrungsplatz. Seine Konstruktion ist von noch größerer Einfachheit und besteht aus einem halbausgebreiteten Bündel Heu. Auf dieser Heuschicht liegen die Röcke, Jacken, Stiefel der Floßleute, und ausgerüstet mit diesen primitivsten Formen einer Küche und Kammer, machen die Flößer ihre oft wochenlange Reise.

Nach dieser Beschreibung wird es jedem klar sein, was eine solche Dampfschiffsneckerei für die Floßleute zu bedeuten hat. Jede aus den Lücken des Floßes hervorbrodelnde Welle spült nicht bloß über die Füße der Betroffenen hin, sondern schädigt sie auch wirklich an ihrem Hab und Gut, als handele es sich um eine Überschwemmung im kleinen. Hier fährt das Wasser zischend in das Herdfeuer und löscht es aus, dort hebt es das Heubündel mitsamt seinen Garderobestücken von unten her in die Höhe und tränkt es entweder mit Wasser oder schwemmt es gar hinweg. Das weckt dann freilich Stimmungen, die der Vorstellung von einer wachsenden »Fraternität« des Menschengeschlechts völlig hohnsprechen und zu Unterhaltungen führen, von denen es das beste ist, daß sie im Winde verklingen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 2. Teil