Abschnitt 1

Der Oderbruch und seine Umgebung


Freienwalde


1. Von Falkenberg nach Freienwalde. Die Stadt. Der Ruinenberg. Monte Caprino


            Hier schmucke Häuschen, schimmernd
            Am grünen Bergeshang;
            Dort Sicheln und Sensen, blitzend
            Die reiche Flur entlang;
            Und weiterhin die Ebne,
            Die stolz der Strom durchzieht...
            Uhland
            Nehmt, Kinder, nehmt! Es ist kein
            Traum!
            W. Müller

Freienwalde – hübsches Wort für hübschen Ort. Seine Rechtschreibung schwankt; aber ob wir Freienwalde schreiben (von »frei im Wald«) oder Freyenwalde (von Freyja im Wald), in den Marken gibt es wenig Namen von besserm Klang.

Viele Wege führen hin; dies hat es mit berühmteren Plätzen gemein. Wir wählen heute nicht die kürzeste Strecke quer über das Plateau des Barnim, sondern die üblichste, über Neustadt-Eberswalde, die trotz des Umweges am raschesten zum Ziele führt. Bis Neustadt Eisenbahn, von da aus Post. Der Neustädter Postillon, einer von den alten, mit zwei Tressen auf dem Arm, bläst zum Sammeln, und während links die weiße Wolke des dampfenden Zuges am Horizont verschwindet, biegt unser Postwagen rechts in die Chaussee ein, die uns auf der ersten Hälfte des Weges abwechselnd über Tal und Hügel, dann aber vom schönen Falkenberg aus, am Fuße des Barnim-Plateaus hin, dem Zielpunkt unserer Reise entgegenführt.

Wie oft bin ich dieses Wegs gekommen. Um Pfingsten, wenn die Bäume weiß waren von Blüten, und um Weihnachten, wenn sie weiß waren von Schnee; heut aber machen wir den Weg zur Pflaumenzeit und freuen uns des Segens, der lachend und einladend zugleich an den gestutzten Zweigen hängt. Es ist um die vierte Stunde, der Himmel klar, und die niedersteigende Sonne kleidet die herbstliche Landschaft in doppelt schöne Farben. Der Wagen, in dem wir fahren, hindert uns nicht, uns des schönen Bildes zu freuen; es ist keine übliche Postchaise mit Ledergeruch und kleinen Fenstern, es ist einer von den großen Sommerwagen, ein offenes Gefährt mit zwanzig Plätzen und einem »Himmel« darüber, der auf vier Stangen ruht. Dieser »Himmel« – die Urform eines Baldachins, der Wagen selbst aber dem alten Geschlecht der Kremser nah verwandt, an deren Stelle mehr und mehr das Kind der Neuzeit, »der Omnibus«, zu treten droht.

In leichtem Trabe geht es auf der Chaussee wie auf einer Tenne hin, links Wiesen, Wasser, weidendes Vieh und schwarze Torfpyramiden, rechts die steilen, aber sich buchtenden Hügelwände, deren natürlichen Windungen die Freienwalder Straße folgt. Aber nicht viele befinden sich auf unserem Wagen, denen der Sinn für Landschaft aufgegangen; Erwachsene haben ihn selten, Kinder beinah nie, und die Besatzung unseres Wagens besteht aus lauter Kindern. Sie wenden sich denn auch immer begehrlicher dem näher liegenden Reiz des Bildes, den blauen Pflaumen, zu. In vollen Büscheln hängen sie da, eine verbotene Frucht, aber desto verlockender. »Die schönen Pflaumen«, klingt es von Zeit zu Zeit, und sooft unser Kremser den Bäumen nahe kommt, fahren etliche kleine Hände zum Wagen hinaus und suchen die nächsten Zweige zu haschen. Aber umsonst. Die Bewunderung fängt schon an in Mißstimmung umzuschlagen. Da endlich beschleicht ein menschliches Rühren das Herz des Postillons, und auf jede Gefahr, selbst auf die der Pfändung oder Anzeige, hin links einbiegend, fährt er jetzt mit dem wachsleinenen Baldachin mitten in die Zweige des nächsten Baumes hinein. Ein Meistercoup. Wie aus einem Füllhorn fällt es von Front und Seite her in den offenen Wagen; alles greift zu; der Kleinste aber, ein Blondkopf, der vorne sitzt und die Leine mit halten durfte, als führ er selber, deklamiert jetzt auf den schmunzelnden Postillon ein: »Das ist der Daum, der schüttelt die Pflaum«, und an Landhäusern und Wassermühlen, an Gärten und Fischernetzen vorüber geht es unter endloser Wiederholung des Kinderreims, in den der ganze Chorus einfällt, in das hübsche, aber holprige Freienwalde hinein.

Freienwalde ist eine Bergstadt, aber nicht minder ist es ein Badeort, eine Fremdenstadt. Wir haben erst eine einzige Straße passiert und schon haben wir fünf Hôtels und eine Hofapotheke gezählt; noch sind wir nicht ausgestiegen, und schon rasseln andere Postwagen von rechts und links heran; das Blasen der Postillone nimmt kein Ende; Herren in grünen Reiseröcken und Tiroler Spitzhüten wiegen sich auf ihren Stöcken und umstehen das Posthaus, bloß in der vagen Hoffnung, ein bekanntes oder gar ein hübsches Gesicht zu sehen; Hausknechte erheben ihre Stimme zu Ehren der »Drei Kronen« oder der »Stadt Berlin«, und die ersten Anfänge des Ciceronetums, rätselhafte Gestalten in Hausröcken und Strohmützen, stellen sich schüchtern dem Neuankommenden vor und erbieten sich, ihm die Schönheiten der Stadt zu zeigen. Nur der fliegende Buchhändler fehlt noch, der die »Schönheiten Freienwaldes«, besungen und lithographiert, mit beredter Zunge anzupreisen verstände.

Freienwalde ist ein Badeort, eine Fremdenstadt, und trägt es auf Schritt und Tritt zur Schau; was ihm aber ein ganz eigentümliches Gepräge gibt, das ist das, daß alle Bade- und Brunnengäste, alle Fremden, die sich hier zusammenfinden, eigentlich keine Fremden, sondern märkische Nachbarn, Fremde aus nächster Nähe, sind. Dadurch ist der Charakter des Bades vorgeschrieben. Es ist ein märkisches Bad und zeigt als solches in allem jene Leichtbegnüglichkeit, die noch immer einen Grundzug unseres märkischen Wesens bildet. Und zwar mehr noch, einzelne Residenzausnahmen zugegeben, als wir selber wissen. Freienwalde ist kein Roulette- und Equipagenbad, kein Bad des Rollstuhls und des galonierten Bedienten, am wenigsten ein Bad der fünfmal gewechselten Toilette. Der breite Stempel, den die echten und unechten Engländer seit fünfzig Jahren allen europäischen Badeörtern aufzudrücken wußten, hier fehlt er noch, hier ist der komplizierte »Breakfast-Tisch« noch ein kaum geahntes Geheimnis, hier wird noch gefrühstückt, hier sucht noch kein grüner und schwarzer Tee die alte Herrschaft des Morgenkaffee zu untergraben, hier herrscht noch die vaterländische Semmel und weiß nichts von Buttertoast und Muffin, des Luftbrotes (aërated bread) und anderer Neuerungen von jenseit des Kanals ganz zu geschweigen.

Und einfach wie die Frühstücksfrage, so löst sich auch die Frage des Kostüms. Der Shawl, der früher eine Mantille, oder die Mantille, die früher ein Shawl war, der Hut mit der neuen »Rüsche«, der Handschuh, der dreimal durch die Brönnerprobe ging – hier haben sie noch Hausrecht, und das zwölf Jahr gediente Leihbibliothekenbuch, hier ruht es noch frei und offen auf dem Antimakassar-Stuhl, mit der ganzen Unbefangenheit eines guten Gewissens. Nichts von Hyperkultur, wenig von Komfort. Während überall sonst ein gewisser Kosmopolitismus die Eigenart jener Städte, die das zweifelhafte Glück haben, »Badeörter« zu sein, abzuschwächen oder ganz zu verwischen wußte, ist Freienwalde eine märkische Stadt geblieben. Kein Wunder. Nicht der Welttourist, nur die Mark selber kehrt hier zum Besuche bei sich ein.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 2. Teil