Abschnitt 2

Der Oderbruch und seine Umgebung


Freienwalde


1. Von Falkenberg nach Freienwalde. Die Stadt. Der Ruinenberg. Monte Caprino


Freienwalde, wie wir sahen, ist eine Bergstadt; kleine Bergstädte aber sind selten die Stätten einer glänzenden Architektur. Die Häuser, überall ein »bestes Plätzchen« suchend, schaffen mehr Gassen und Winkel als eigentliche Straßen, und das Beste, was wir von Freienwalde zu sagen wissen, ist, daß es von dem bedenklich-pittoresken Vorrechte derartiger Bergstädte keinen allzu starken Gebrauch macht. Die Budengasse, der Seidene Beutel, der Köter- oder Rosmarinweg sind freilich Lokalitäten, die dem Klange ihres Namens so ziemlich gleichkommen, aber der Marktplatz mit seiner kahlen Geräumigkeit macht vieles wieder gut. Mehr als gut. Weite hier und Enge dort hätten sich gegenseitig aushelfen können.

Die Schönheit der eigentlichen Stadt ist mäßig, ihr Reiz liegt draußen auf den Bergen. Diesen Bergen verdankt es alles, was es ist: von dort aus kommen seine Quellen, und von dort aus gehen die Fernsichten ins Land hinein. Wer nicht kommt, um hier die Eisenquelle zu trinken, der kommt doch, um einen Blick in die »Märkische Schweiz« zu tun. Und diesen Freienwalder Bergen, den Hütern, Wächtern und zum Teil Ernährern der Stadt, schreiten wir jetzt zu.

Zunächst der Ruinenberg. Er erhebt sich unmittelbar im Rücken der Stadt und hat mit dem bekannten Potsdamer »Brauhausberge« das eine gemein, daß er, wie dieser, die älteste Aussichtsfirma und nach Ansicht vieler auch noch immer die bestfundierte repräsentiert. Er ist am leichtesten zu ersteigen. Das ist eins, was ihn empfiehlt. Bequeme Terrassen bilden den Weg, so daß man die Höhe plaudernd erreicht, als erstiege man die Treppen eines Renaissanceschlosses. Der Blick vom Ruinenberg aus hat nur in Front eine Bedeutung, wo man zunächst auf die malerisch in der Tiefe liegende Stadt, dann über die Türme und Dächer hinweg in die duftige Frische der Bruchlandschaft herniederblickt. Wie ein Bottich liegt diese da, durchströmt von drei Wasserarmen: der Faulen, Alten und Neuen Oder, und eingedämmt von Bergen hüben und drüben, die, wie ebenso viele Dauben, die grüne Tiefe umstehn. Meilenweit nur Wiesen; keine Fruchtfelder, keine Dörfer, nichts als Heuschober, dicht und zahllos, die, immer kleiner und grauer werdend, am Horizonte endlich zu einer weidenden Herde zusammenzuschrumpfen scheinen. Nur Wiesen, nur grüne Fläche; dazwischen einige Kropfweiden; mal auch ein Kahn, der über diesen oder jenen Arm der Oder hingleitet, dann und wann ein mit Heu beladenes Fuhrwerk oder ein Ziegeldach, dessen helles Rot wie ein Lichtpunkt auf dem Bilde steht. Der Anblick ist schön in seiner Art, und wessen Auge krank geworden in Licht und Staub und all dem Blendwerk großer Städte, der wird hier Genesung feiern und dies Grün begrüßen, wie ein Durstiger einen Quell begrüßt. Aber der Anblick, so erlabend er ist, erleidet doch Einbuße durch seine Monotonie. Erst weiter südwärts, nach Frankfurt zu, verändert das Bruch seinen Charakter, erweitert ihn und schafft ein Bild voll Schönheit und Fruchtbarkeit, wie es die Mark in dieser Vereinigung nicht zum zweiten Male besitzt.

Der Ruinenberg blickt weit ins Bruch hinein. Wodurch er sich indessen von den Nachbarbergen am wesentlichsten unterscheidet, das ist der schon erwähnte Blick auf das ihm zu Füßen liegende Freienwalde. Außerdem hat er seine historischen Traditionen, Erinnerungen, denen wir es nicht zum Bösen anrechnen wollen, daß sie sich in sagenhafte Vorzeit verlieren. Es hat dies folgenden Zusammenhang. Bei Nachgrabungen, die im Spätherbst 1820 hier angestellt wurden, stieß man, etwa vier Fuß tief unter der Erde, auf Fundamente, die nach sorglicher Ausmessung eine Länge von 136 Fuß ergaben. Es war just die Zeit, wo man hierlandes, über das »wendische Interregnum« hinaus, alles auf Langobarden- und Semnonentum zurückzuführen trachtete. Und das Badecomité, wie alle Badecomités, stand natürlich auf der Höhe seiner Zeit. Die Folge davon war, daß seitens desselben das 136 Fuß lange Fundament ohne weiteres als die Seitenwand eines Freyja-Tempels festgestellt und, zwei Fliegen mit einer Klappe schlagend, jeder Streit über »Freienwalde« oder »Freyenwalde« ein für allemal zugunsten der letzteren Version entschieden wurde. Das Fundament selbst aber, alsbald ans Licht geschafft, erfuhr eine doppelte Verwendung. Die eine Hälfte ward als Mauerbruchstück aufgerichtet und erhielt eine Tafel mit der Geschichte der Auffindung des Freyja-Tempels, während die andere Hälfte, ebenfalls nach Sitte der Zeit, als künstlicher »Ruinenturm« in eine neue Phase des Daseins trat. Inschrift: »Wie schön ist Gottes Erde.«

Unser nächster Besuch gilt dem Ziegenberg, früher »Zickenberg«, der sich jedoch an seiner einfachen Erhebung ins Hochdeutsche nicht genügen ließ und in einen »Monte Caprino« verwandelt wurde. Von seiner Höhe blickt man ebenfalls in die Bruchlandschaft hinein, aber die Stadt im Vordergrunde fehlt. Dies mag uns Veranlassung geben, die sich um Freienwalde herumgruppierenden Bergpartien auf ihre Formation hin ein wenig näher anzusehen. Ihre Eigentümlichkeit besteht nämlich darin, daß sie, wiewohl frei und offen daliegend, doch zugleich einen sehr exklusiven Charakter haben und untereinander, wenigstens landschaftlich, in gar keiner oder sehr geringer Verbindung stehn. Wir beschreiben diese hufeisenförmigen Täler vielleicht am besten, wenn wir sie als ebenso viele Amphitheater bezeichnen. Da alle diese Amphitheater am Bruche entlang liegen und nach vorn hin geöffnet sind, so ist der Blick auf das Bruch das allen Gemeinsame; alles das aber, was sie von rechts und links her mit ihren Flanken umspannen, ist ihre jedesmalige Spezialität und kann nur von den verschiedenen Plätzen des eignen, nicht aber von den Plätzen des angrenzenden Amphitheaters aus gesehen werden.

Wenn wir den Ruinenberg die »älteste Firma« nannten, so ist der Monte Caprino die jüngste. Professor Valentini, manchem unsrer Leser aus alten Berliner Tagen her bekannt, hat dem Städtchen, in das er sich zurückzog, diesen Berg erobert und die höchste Kuppe desselben in die Liste der Freienwalder Schönheiten eingereiht. Wofür ihm zu danken. Ob wir ihm auch für das Häuschen zu danken haben, das unter dem Namen »Valentinis Ruh« sich an höchster Stelle des Berges erhebt und, mit blau und roten Gläsern ausstaffiert, den Besucher auffordert die Wiesenlandschaft abwechselungshalber auch mal blau und rot auf sich wirken zu lassen, ist ungewiß. Als desto gewisser aber wird es gelten können, daß die doppelspaltige, fünf Fuß hohe Inschrift des Häuschens auf den Professor allerpersönlichst zurückgeführt werden muß. Wer hier gestanden und diesen Versen gegenüber nach Verständnis gerungen, denkt mit Wehmut an den Ruinenberg und den kurzgefaßten Höltyschen Nachklang zurück.

Wenige freilich werden angesichts dieser lachenden Landschaft Lust bezeugen, unsern alten Professor auf die Monte-Caprino-Höhe seines mißverstandenen Pantheismus zu begleiten, wenige werden ihn lesen, und sie tuen recht daran. Aber eine Aufgabe, deren sich der freie Wandersmann entschlagen kann, wird zur unabweislichen Pflicht für den ex officio Reisenden, der lesen muß und der in nachstehendem aphoristisch enthüllt, was er an Ort und Stelle gewissenhaft verzeichnet hat. Das Ganze ist ein ins Religiöse hinüberklingender Naturhymnus, in dem Logik und Grammatik, wie der Lahme und Blinde, einen wunderlichen Wettlauf anstellen. »Gott ist die Seele seiner Schöpfung, in der Er sich gleichsam wie in ein herrliches Gewand hüllt.« Dieser Dativ überrascht. Aber Valentini bringt alles wieder ins Gleichgewicht. »Wie ein freundlicher Talisman erhält uns die Religion über die Wellen im Schiffbruch des Lebens.« So vollzieht er in seinem eignen Hymnus einen Akt der Gerechtigkeit und zahlt schließlich dem Akkusativ die Schuld zurück, die er anfangs bei ihm eingegangen.

Denken wir milde darüber, hat er doch selber seitdem die letzte Schuld gezahlt. Auf »Valentinis Ruh« rasten jetzt andere; er selber aber ist, am Fuße des Hügels, längst eingegangen zu dauernder Ruh.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 2. Teil