Abschnitt 5

Der Oderbruch und seine Umgebung


Der Schloßberg bei Freienwalde und die Uchtenhagens


Aber heute verweilen wir an dieser Stelle nicht länger und treten vielmehr dort ein, wo die alte Zeit der Uchtenhagens in Bild und Wort am vernehmlichsten zu uns spricht: in die alte Kirche von Freienwalde. Die Uchtenhagens haben sie gebaut, und sie ist das eigentliche und beste Monument des heimgegangenen Geschlechts. Bis vor wenigen Jahren lagen noch verschiedene Grabsteine vor den Stufen des Altars, unter dem in gewölbter Gruft die Toten ruhten – nun sind die Grabsteine fort, und die Gruft ist verschüttet. Aber anderes ist geblieben. Über der niedrigen Sakristeitür, zur Linken des Altars, befindet sich das beinah lebensgroße Bildnis Kaspars von Uchtenhagen, desselben, von dem die Sage erzählt, daß Bosheit ihn vergiftet habe. Das Bild ist, mit Rücksicht auf die Zeit, in der es entstand, eine vorzügliche Arbeit. Beschreib ich es. Ein Tischchen steht zur Seite, mit einer roten Decke darüber; auf dem Tische liegt die hohe Sammetmütze des Knaben, in Form und Farbe den Otterfellmützen nicht unähnlich, denen man noch jetzt in den Oderbruchgegenden begegnet; vor dem Tisch aber steht der Knabe selbst, blaß, durchsichtig, mit schmalen Lippen und rotblondem Haar, ein feines Köpfchen, klug und durchgeistigt, aber wie vorausbestimmt zu Leid und frühem Tod. Seine Kleidung zeigt reicher Leute Kind. Über dem roten Unterkleid trägt er einen grünen Überwurf mit reichem Goldbesatz, und eine getollte Halskrause, weiße Ärmelchen und schwarze Sammetschuhe vollenden seine Kleidung und Erscheinung. In der Rechten hält er eine schöne, große Birne, während ein Bologneser Hündchen bittend, liebkosend an ihm emporspringt. Die Umschrift aber lautet: »Da ich, Kaspar von Uchtenhagen, bin gewest diesergestalt, war ich viertehalb Jahr alt Anno 1597, den 18. November.«

Es ist ersichtlich, daß dies überaus anziehende Bild, das wirklich eine Geschichte herauszufordern scheint, die äußere Veranlassung zu jener Sage gegeben hat, die ich bereits erzählt habe. Die Birne, das Hündchen, der Ausdruck von Wehmut in den Zügen, dazu der frühe Tod – es hätte, der Kiezer und ihrer sagenbildenden Kraft ganz zu geschweigen, in den Herzen der Freienwalder selbst kein Fünkchen Poesie lebendig sein müssen, wenn sie sich die Gelegenheit hätten entgehen lassen wollen, aus so dankbarem und so naheliegendem Stoff eine Sage ins Leben zu rufen.

Wir freuen uns, daß die Sage da ist, möchten sie nicht missen, aber sie ist eben Sage und nicht mehr. Der Beweis ist mit Leichtigkeit zu führen. Das Bildnis selbst belehrt uns in seiner Umschrift, daß es gemalt wurde, als Kaspar von Uchtenhagen ist »vierthalb Jahre alt gewest«. Er muß also, da wir die Birne auf diesem Bilde bereits erblicken, besagte Birne, wenn er sie überhaupt aß, mit viertehalb Jahren gegessen haben. Kaspar von Uchtenhagen starb aber erst sechs Jahre später, und würden wir, um der Sage gewaltsam eine historische Grundlage zu geben, durchaus annehmen müssen, daß die durch Brauen von Gifttränken niemals berühmt gewesene Mark Brandenburg eine selbst Italien überbietende Meisterschaft in der Aqua-Tofana-Kunst besessen habe.

Kaspar von Uchtenhagen, wie uns sein eigen Bild am besten belehrt, starb einfach daran, daß seine Seele von Geburt an in einem halbverklärten Leibe gewohnt hatte. Er starb und ward in »der Gruft unterm Altar beigesetzt«. An der hintern Wandung des Altars aber, schlecht übermalt und minder gut erhalten als das erste, bereits beschriebene Bildchen, begegnen wir einem zweiten Bilde des Knaben, das ihn uns zeigt, wie der nunmehr Neunjährige, blaß und die Ruhe des Todes auf der Stirn, im offenen, blumenüberstreuten Sarge liegt. Er trägt ein weißes Sterbehemd und in dem glatt anliegenden Haar einen blühenden Rosmarinkranz; um den Hals aber schlingt sich ein schwarzes Band, daran, bis zur Brust hernieder, eine Schaumünze und ein länglich viereckiges Medaillon hängt. Eine Unterschrift gibt Tag und Stunde seines Todes; die Wappen der Sparrs und der Uchtenhagens schieben sich in die oberen Ecken des Bildes ein, und daneben lesen wir, nicht ohne an den Vollklang lateinischer Kirchenlieder erinnert zu werden:

Ah tibi Jesu lectulum
In me para mollissimum,
Meo quiesce pectore
Et intime servabo te;

Worte, denen als deutscher Text der dreizehnte Vers von Luthers Liede »Vom Himmel hoch, da komm ich her« beigefügt ist:

Ach mein herzlich Jesulein
Mach dir ein rein sanft Bettelein,
Zu ruhen in meins Herzens Schrein,
Daß ich nimmer vergesse dein.

Noch wenige Worte. Kaspar von Uchtenhagen ruhte bereits länger denn zweihundert Jahr in der Gruft seiner Väter, und wenige waren es, die nach dem Bilde hinterm Altar blickten. Das blasse Gesicht und der Rosmarinkranz im Haar rührten kein Herz mehr, und kaum jemand existierte, für den die Schaumünze und das Medaillon, die auf dem Herzen des Knaben ruhten, eine Bedeutung gehabt hätten. Man nahm sie als Ornament, als Einfall des Malers. Da, während der zwanziger oder dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts, als ein Umbau nötig geworden, stiegen die Uchtenhagens noch einmal aus ihrer Gruft an das Tageslicht hinauf, und in langer Reihe, das Kirchenschiff hinunter, standen ihre Kupfer- und Eichensärge. Vor dem Altar aber stand ein kleiner Sarg, der Sarg Kaspars von Uchtenhagen. Man nahm den Deckel ab, und siehe da, da lag das Kind ganz wie auf dem Bilde mit Kranz und Krause. Erst bei der Berührung zerfiel alles zu Staub, und Form und Hülle waren hin. Aber das schwarze Seidenband hielt noch, und an dem Seidenbande hingen, wie das Bildnis es zeigt, eine Schaumünze und ein Medaillon. Beide werden aufbewahrt und sind eine Sehenswürdigkeit von Stadt und Kirche. Die Schaumünze hat das übliche Ansehn, das Medaillon aber, etwa anderthalb Zoll lang und einen Zoll breit, ist in zierlichster Weise den Formen eines alten Gebetbuches nachgebildet, mit geripptem Rücken und zwei kleinen Klammern daran. Diese Klammern sind festgenietet und öffnen also weder sich selbst noch das Buch, wohl aber bewegt sich an der Stelle, die dem Schnitt des Buches entsprechen würde, ein kleiner Schieber hin und her und ermöglicht, eine Reliquie oder eine geweihte Hostie in das Büchelchen hineinzulegen. Nichts der Art indessen ward an jenem Tage, wo die Särge noch einmal ans Licht emporstiegen, in dem goldenen Büchelchen gefunden, und nur ein Zettel fiel heraus, auf dem geschrieben stand: »Psalm 63, 10.« Diese Stelle aber lautet: »Sie stehen nach meiner Seele, mich zu überfallen«, und die darin liegende Hindeutung hat der alten Sage, wie sie vorstehend erzählt wurde, zu neuem Leben verholfen.

Ja, sie wächst wieder. Um Mitternacht, so heißt es jetzt, glühen die Fenster der alten Kirche plötzlich in rotem Lichte auf, und die Gestalt Kaspars von Uchtenhagen in weißem Sterbekleide und mit glatt anliegendem Haar tritt vor den Altar und spricht leis, aber vernehmlich das Kirchenschiff hinunter:

»Alle Liebe ist nicht stark genung,
Ich muß doch sterben und bin so jung.«

Und wenn der Ruf verhallt ist, erlischt der rote Schein in den Fenstern, und alles ist wieder wie zuvor.

So erzählen Sage und Geschichte vom alten Geschlecht der Uchtenhagen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 2. Teil