Abschnitt 1

Der Oderbruch und seine Umgebung


Das Oderbruch


3. Die alten Bewohner


            Alte Zeit und alte Sitt
            Hielt mit dem Neuen nicht länger Schritt,
            Aber sieh da, das alte Kleid
            Hat länger gelebt als Sitt und Zeit.

Das Oderbruch – oder doch wenigstens das Niederbruch, von dem wir im nachstehenden ausschließlich sprechen – blieb sehr lange wendisch. Wahrscheinlich waren alle seine Bewohner, bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts hinein, von ziemlich unvermischter slawischer Abstammung. Die deutsche Sprache war eingedrungen (es ist nicht festzustellen, wann), aber nicht das deutsche Blut. Die Gegend war auch nicht dazu angetan, zu einer Übersiedelung einzuladen. Ackerland gab es nicht, desto mehr Überschwemmungen, und der Fischfang, den die Wenden, wenigstens in diesen Gegenden, vorzugsweise betrieben, hatte nichts Verlockendes für die Deutschen, die zu allen Zeiten entweder den Ackerbau oder die Meerfahrt, aber nicht den Fischfang liebten. Dazu kam, daß die alten Wenden, wie es scheint, von sehr nationaler und sehr exklusiver Richtung waren und den wenigen deutschen Kolonisten, die sich hier niederließen (zum Beispiel unter dem Großen Kurfürsten), das Leben so schwer wie möglich machten.

Über die Art nun, wie die wendischen Bewohner im Innern des Bruches lebten, wissen wir wenig, und das beste Teil unsrer Kenntnis haben wir aus Vergleichen und Schlußfolgerungen zu schöpfen. Die mehr und mehr unter deutsche Kultur geratenden » Randdörfer« – zu denen die » Bruchdörfer« alsbald in dem Verhältnis mittelalterlich-wendischer Kietze standen – hätten uns in ihren Amts- und Kirchenbüchern allerhand aufschlußgebende Aufzeichnungen hinterlassen können; aber es gebrach an dem erforderlichen historischen Sinn, und so ging die Zeit dafür verloren. Diese schloß etwa mit der Mitte des vorigen Jahrhunderts ab. Ein geübtes Auge würde freilich auch heute noch in der aus den verschiedensten Elementen gemischten Bevölkerung eine Fülle speziell wendischer Eigentümlichkeiten herauslesen können; es gehört aber dazu eine exakte Kenntnis der verschiedenen slawischen und deutschen Stammeseigentümlichkeiten, daß ich es nicht wage, mich in solche Scheidungen und Bestimmungen einzulassen.

Ich gebe zunächst nur das wenige, was ich über die alten wendischen Bruchdörfer und ihre Bewohner als direkte Schilderung aus älterer Zeit her habe auffinden können.

»Die Dörfer im Bruch« – so sagt eine in Buchholtz’ »Geschichte der Kurmark Brandenburg« abgedruckte Schilderung (Vorrede zu Band II) – »lagen vor der Eindeichung und Neubesetzung dieses ehemaligen Sumpflandes auf einem Haufen mit ihren Häusern, das heißt also, weder vereinzelt noch in langgestreckter Linie, und waren meistens von gewaltigen, häuserhohen, aus Kuhmist aufgeführten Wällen umzingelt, die ihnen Schutz vor Wind und Wetter und vor den Wasserfluten im Winter und Frühling gewährten und den Sommer über zu Kürbisgärten dienten. Den übrigen Mist warf man aufs Eis oder ins Wasser und ließ ihn mit der Oder forttreiben. Einzeln liegende Gehöfte, deren jetzt viele Hunderte vorhanden sind, gab es im Bruche nicht ein einziges. Im Frühling, und sonderlich im Mai, pflegte die Oder die ganze Gegend zu zehn bis zwölf, ja vierzehn Fuß hoch zu überschwemmen, so daß zuweilen das Wasser die Dörfer durchströmte und niemand anders als mit Kähnen zu dem andern kommen konnte.« (Dafür, daß das ganze Bruch damals sehr oft unter Wasser stand und keine andere Kommunikation als mittelst Kahn zuließ, spricht auch die Einleitung zu der vorstehenden Schilderung. Diese lautet: »Ich habe das Bruch unzähligemal durchreist, sowohl ehedem zu Wasser als auch jetzt, nachdem es urbar gemacht worden ist, zu Lande.«)

Diese Beschreibung, kurz, wie sie ist, ist doch das Beste und Zuverlässigste, was sich über den Zustand des Bruchs, wie es vor der Eindeichung war, beibringen läßt. Der neumärkische Geistliche, von dem die Schilderung herrührt, hatte die alten Zustände wirklich noch gesehn, und so wenig das sein mag, was er in dieser seiner Beschreibung beibringt, es gibt doch ein klares und bestimmtes Bild. Wir erfahren aus diesem Briefe dreierlei: 1. daß das Bruch den größten Teil des Jahres über unter Wasser stand und nur zu Wasser passierbar war; 2. daß auf den kleinen Sandinseln dieses Bruchs Häusergruppen (»in Haufen«, sagt der Briefschreiber) lagen, die uns also die Form dieser wendischen Dörfer veranschaulichen; und 3. daß es kleine schmutzige Häuser, entweder aus Holzblöcken aufgeführt oder aber sogenannte Lehmkaten, waren, die meistens von Kuhmistwällen gegen das andringende Wasser verteidigt wurden.

Man hat dies Bild durch die Hinzusetzung vervollständigen wollen, »daß also nach diesem allen die alten wendischen Bruchdörfer den noch jetzt existierenden Spreewalddörfern mutmaßlich sehr ähnlich gewesen wären«, und wenn man dabei lediglich den Grundcharakter der Dörfer ins Auge faßt, so wird sich gegen einen solchen Vergleich wenig sagen lassen. Die Spreewäldler sind Wenden bis diesen Tag; sie leben zwischen Wasser und Wiese, wie die Oderbrücher vor hundert Jahren, und ziehen einen wesentlichen Teil ihres Unterhalts aus Heumahd und Fischfang; sie leben in stetem Kampf mit dem Element; sie unterhalten ihren Verkehr ausschließlich mittelst Kähnen (der Kahn ist ihr Fuhrwerk), und ihre Blockhäuser, zum Beispiel in den zwei Musterdörfern Lehde und Leipe, sind bis diesen Tag von Kuhmistwällen eingefaßt, die, ganz nach dem Bericht unsres neumärkischen Geistlichen, halb zum Schutz gegen das Wasser, halb zu Kürbisgärten dienen. Daß der Spreewäldler jetzt statt der Kürbisse die besser rentierenden Gurken etc. zieht, macht keinen Unterschied.

Der oben mitgeteilte Brief hat uns ziemlich anschaulich die Lokalität der alten Oderbruchdörfer gegeben; die Frage bleibt noch: Wie waren die Bewohner nach Charakter, Sitte, Tracht?

Zunächst ihr Charakter. Wie gut auch das Zeugnis ist, das noch jetzt an einigen Stellen des Oderbruchs den Überresten der wendischen Bevölkerung im Gegensatz zu den »Pfälzern« ausgestellt wird, so ist es doch nicht sehr wahrscheinlich, daß es vor hundert Jahren und darüber mit diesen von der Welt abgeschnittenen, von jeder Idealität losgelösten Existenzen etwas Besonderes auf sich gehabt habe. Es waren vielleicht gutgeartete, aber jedenfalls rohe, in Aberglauben und Unwissenheit befangene Gemeinschaften 1), die trotz ihres christlichen Bekenntnisses mit den alten Wendengöttern nie recht gebrochen hatten. Der Aberglaube hatte in diesen Sümpfen eine wahre Brutstätte. Kirchen gab es zwar ein paar; aber der Geistliche erschien nur alle sechs oder acht Wochen, um eine Predigt zu halten, und der Verkehr mit den glücklicheren Randdörfern oder gar mit den Städten, wohin sie eingepfarrt waren, war durch Überschwemmungen und grundlose Wege erschwert. Man darf mit nur allzu gutem Rechte behaupten, daß die Brücher in allem, was geistlichen Zuspruch und geistiges Leben anging, von den Brosamen lebten, die von des Herren Tische fielen. Die Toten, um ihnen eine ruhige Stätte zu gönnen (denn die Fluten hätten die Gräber aufgewühlt), wurden auf dem Wriezener Kirchhof oder auf den Höhe-Dörfern begraben, und die Taufe der Kinder erfolgte vielleicht vier- oder sechsmal des Jahres in ganzen Trupps. Es wurden dann Boote nach der benachbarten Stadt abgefertigt, die dem dortigen Geistlichen die ganze Taufsendung zuführten, wobei sich’s nicht selten ereignete, daß von diesen in großen Körben transportierten Kindern das eine oder andere auf der Überfahrt starb.




1) Über Charakter und Erscheinung der jetzt noch in einigen Bruchdörfern vorkommenden wendischen Bevölkerung schreibt man mir aus einem dieser Dörfer: »Man gibt hier im allgemeinen dem Charakter der wendischen Bevölkerung vor dem der deutschen Kolonisten den Vorzug. Die Wenden sind allerdings schwerfällig, abergläubisch und geistig weniger begabt als die ›Pfälzer‹ (die allgemeine Bezeichnung für die Deutschen), aber an Kraft, Fleiß und Ausdauer sind sie den Deutschen gleich, während sie dieselben an Treue und Zuverlässigkeit übertreffen. Die Männer haben ausdrucksvolle Gesichter, sind nicht schön und mehr hager als beleibt; die Mädchen und jungen Frauen hingegen zeigen vollere Formen, frische Farben statt des Leder- und Pergamentteints anderer Loch- und Bruchgegenden und sind oft sehr hübsch; die dunklen Augen voll Feuer und Leben.«

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 2. Teil