Abschnitt 2

Auf dem Plateau


Gentzrode


1. Von der Gründung Gentzrodes 1855 bis zum Tode von Johann Christian Gentz 1867


Diese vier Wochen waren jetzt um, und wie herkömmlich in Blättern angezeigt wird: »Am heutigen Tage finden Schießübungen statt« oder »Auf dem Glacis werden Sprengungen vorgenommen«, so stand auch im »Ruppiner Anzeiger«: »Am 27. September wird auf der Strecke rechts vom Wittstocker Wege das Gentzroder Heidekraut niedergebrannt.« Eine Warnung und eine Festankündigung zu gleicher Zeit, denn eine große Zahl von Personen fand sich ein, um dem Schauspiele beizuwohnen.

Bei Beschreibung der nun folgenden Szene laß ich den Hauptbeteiligten (Alexander Gentz, auf den ich weiterhin zurückkomme) selber sprechen:

»Es war neun Uhr früh am genannten Tage (27.), als ich, in Begleitung einiger Freunde, von Ruppin her in Gentzrode eintraf. Ein leiser Wind blies bei unbewölktem Himmel über die Kahlenberge hin. Alles gewährte einen heitern Anblick; jeder war an seinem Platze, die Zuschauer erwartungsvoll. Wir nahmen also die bereitgehaltenen Fackeln zur Hand, und ohne uns lange bei der Frage aufzuhalten, wo's wohl am geratensten sei, anzufangen, gingen wir umgekehrt davon aus: ›Die nächste Stelle, die beste.‹ So denn die Fackeln hinein, und im Nu stand eine Heidestrecke von 300 Schritt in Brand. Noch fünf Minuten, und das Feuer fing bereits an, uns Bedenken zu machen, denn der Wind war heftiger geworden. Jetzt erst kam mir der Gedanke, mich auch zu vergewissern, ob seitens meines Inspektors der vorschriftsmäßige Sicherheitsstreifen gezogen sei. Wir waren alle wie vom Teufel des Leichtsinns besessen gewesen. Die gesetzliche Vorschrift, die vier Wochen vorher aufs genaueste befolgt worden war, forderte mit Recht einen zwanzig Ruten breiten, tief umgepflügten Streifen zwischen dem abzubrennenden Heideland und dem weiten Forstbestande dahinter. Und was fanden wir statt dessen! Eine Rute breit lief der Streifen, und nur mit dem Haken, statt mit dem tiefer gehenden Pfluge, war das Erdreich umgebrochen worden. Ein Angstschrei kam über meine Lippen. Dann wurden Versuche gemacht, den schmalen Sicherheitsstreifen durch Ausschlagen des Feuers mit Sträuchen und Büschen zu behaupten, aber vergebens. Die Flamme lief wie eine Schlange über das Gras hin, der Wind wurde Sturm und trieb die Lohe der königlichen Forst zu. Das Heidekraut, die zehn Fuß hohen Tannen, das Kieferngestrüpp, alles war trocken wie Stroh; das Feuer brauste bereits durch die niedrigen Kronen, und ungeheure Rauchwolken stiegen auf, die fast die Sonne verdunkelten. Im Zurückeilen nach dem angesteckten Hofe benahm uns die Hitze schon den Atem, und wir liefen Gefahr, erstickt zu werden. Ich wollte die Mannschaften zu gemeinschaftlicher Hilfe zusammenrufen, aber zerstreut irrten sie hierhin und dorthin, und mein Ruf ging unter in dem unheimlichen Toben der Feuermasse.

Da stieg aus dem Brunnen unser alter ›Maulwurf‹, Maurer Franke, hervor, der einzige, der auch jetzt wieder Geistesgegenwart genug besaß, um auf ein rettendes Mittel zu verfallen. Er wies, ohne ein Wort zu sprechen, auf die vier Gespanne Pferde hin, die weit weg auf dem Felde pflügten. In der Tat, wenn überhaupt noch eine Möglichkeit da war, die königliche Forst zu retten, so konnten es nur diese tun. In wenigen Minuten waren sie herbeigeholt und jetzt mit ihnen in Carrière nach der Feuergrenze, wo sie's möglich machten, auf dem verhängnisvollen Streifen einige tiefere Furchen zu ziehen. Welche Spannung! Ich allein war der Betroffene. Niemand ahnte die volle Verantwortlichkeit, in der ich schwebte. Vor mir 20 000 Morgen Forst ausgedörrt vom heißen Sommer, und hinter mir das heranwälzende Feuermeer, das schon einen Umfang von 300 Morgen einnahm. Ich stürzte zurück nach der Baracke, um auf einem dort untergebrachten Reitpferde nach der Stadt zu jagen, um Hilfe zu holen. Aber – neue Entmutigung! Einige jener Neugierigen, die des Schauspiels halber herbeigekommen waren, hatten sich ohne weiteres mit dem Reitpferde aus dem Staube gemacht.

Wirr und verworren lief alles aneinander vorüber. Außer meinen Leuten, die von Hunger, Durst und Hitze erschöpft waren, war niemand mit Rettungsinstrumenten da. Der gefürchtete Moment kam in der Tat immer näher, schon war der Waldsaum erreicht, und der Sturm begann bereits die Flammen in die königliche Forst hineinzuschleudern. Die helle Verzweiflung faßte mich, meine Kräfte waren hin, und die Phantasie stellte mir das entsetzliche Bild vor Augen: das Resultat einer vierzigjährigen rastlosen Tätigkeit meines Vaters mit einem Schlage vernichtet zu sehen! Vernichtet war ich selber.

Aber dieser schlimmste Moment war auch die Rettung. Die Nachricht von dem Geschehenen war inzwischen nach Ruppin gelangt, alle Sturmglocken gingen, und durch öffentlichen Ausruf ward angekündigt, ›daß jedes Haus zwei arbeitsfähige Männer zu stellen habe‹. Die ganze Stadt war auf den Beinen, die Dörfer nicht minder, und alles, was Wagen und Pferde hatte, machte sich auf, um der bedrohten Stätte zuzueilen. Schon sah ich die Menschen mit überladenen Wagen, Spritzen und Wassertonnen vom Kuhburgsberge herunterfliegen, als mir, auch von der anderen Seite her, die Nachricht kam, ›das Feuer ist bewältigt‹. Es war so. Mit einiger Ruhe konnten wir jetzt dem letzten Akte des Schauspiels zusehen und wahrnehmen, wie die mehr und mehr in sich selbst erstickenden Flammen ihren dunklen Rauch über die Tannen lagerten. War es die Windstille, die plötzlich eingetreten, oder waren es die Weisungen des alten Brunnenmachers, gleichviel, die Forst war gerettet und mit ihr mein Vermögen.«

Alle diese Vorgänge fielen in den Spätsommer 1857. Katastrophen ähnlicher Art brachen von jenem Zeitpunkt ab nicht mehr herein; Wasser war gewonnen, der Boden urbar gemacht, und das Unternehmen begann innerhalb der gehegten Erwartungen, ja über diese hinaus zu prosperieren, nicht zu kleinstem Teile deshalb, weil man den Mut hatte, nicht nach berühmten Mustern und überkommener Weisheit, sondern in einer Art Opposition vorzugehn. In allem gab der »common sense« den Ausschlag. Man wollte nicht Pendant zu Vorhandenem, sondern das Gegenstück dazu sein. Parole wurde: Nur kein System!... »Geld und Nüchternheit übernahmen hier von Anfang an die Gestaltung und Regelung des Ganzen, aber doch derartig eigentümlich, daß sich, innerhalb der nüchternsten Erwägungen, ein beständiger, ans Sublime streifender Hang zu Kalkül und Spekulation zu erkennen gab. Wie Rechner und Schachspieler phantastisch werden können, wie's eine Trunkenheit des Verstandes gibt, ähnlich operierte man auch hier.« Jeder herkömmliche Satz wurde angezweifelt, eben weil er herkömmlich war, die Kritik wurde zum schöpferischen Element.

Und die Devise jedes neuen Tags,
Sie lautete: ich will es und ich wag's.

Im Einklange damit war es, daß, allem Spott der Besserwisser zum Trotz, von Anfang an der eine Gedanke verfolgt wurde: den Ackerbetrieb, mit Rücksicht auf den sterilen Boden, nach Möglichkeit zu beschränken und statt seiner, neben Maulbeerbaumpflanzungen und Seidenzucht, den Brennereibetrieb und, als auch dieser, wie schon vorher die Seidenzucht, versagte oder wenigstens nicht voll genügte, große Waldkulturen in Angriff zu nehmen. Dies ergab relativ glänzende Resultate, da man, von Anfang an, auf nur sehr mäßige Zinserträge gerechnet hatte. Verhältnismäßig rasch war aus der Anlage so viel geworden, daß die ehemaligen »Kahlenberge« als eine märkische Musterwirtschaft angesehen wurden. Ackerfelder zogen sich in breiten Flächen über das Plateau hin, desgleichen frische Wiesen am Fuße desselben, überall aber, den Abhang hinab und dann eingemustert in die Schläge, wuchsen Schonungen auf und bedeckten eine ziemlich bedeutende Fläche mit jungen Eichen, Birken und Buchen. Aus dem Mittelpunkt dieser Neuschöpfung aber erhob sich, quadratisch, ein Komplex von Wirtschaftsgebäuden, hoch von Schornsteinen überragt, deren Rauchfahnen weit ins Land hinein die Wandlung verkündeten, die sich an dieser Stelle vollzogen hatte. Dem entsprachen auch die mittlerweile herangezogenen Arbeitskräfte. Drei Inspektoren waren da, samt vielen Knechten und Mägden, alles in allem 116 Menschen, an einer Stelle, wo, seit dem Hinsterben des letzten Turmwächters auf der »Kuhburg«, kein menschlich Wesen mehr gelebt hatte. Der schönste Moment aber war der, als das erste Kind, ein Junge, auf dieser Stelle geboren wurde, was den alten Gentz das stolze Wort sprechen ließ: »Er ist der erste hier, er soll Adam heißen.«

Alles war in gutem Stand und Gedeihen, als Johann Christian Gentz, zwölf Jahre nach der Begründung, starb.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 1. Teil