Abschnitt. 1 - Was sind nur das für Leute, ...

„Was sind nur das für Leute, deren uns schon mehre hin und her auf einsamen Waldwegen begegnet sind, und was tragen sie in den Schachteln, die über einander gethürmt auf ihren hölzernen Reifen stehen? und warum umgibt sie ein Dunstkreis, wie der Beistand der Ohnmachten, Hoffmannischer Liquor?“ fragte Lenz, als die Freunde am andern Morgen bereits Paulinzelle eine Strecke hinter sich hatten, langsam bergan stiegen, und ein Mann wie der beschriebene, mit ernstem Gruss an ihnen, vom Berge herab kommend, vorüberschritt.

„Das ist eine Frage, Liebster“, erwiederte Otto, „die mich verführen könnte, weitläufig zu werden. Dieser Mann ist ein sogenannter Balsamsträger, insgemein Königsseer genannt; sein Gewerbe hängt eng mit einem Industriezweige des Thüringerwaldes zusammen, das einst dem Lande Tausende einbrachte, jetzt aber im Sinken ist und nach Jahren nur in der Tradition fortleben wird, da in Büchern nur Weniges davon und darüber zu lesen. Nicht nur in Königssee, auf das wir zusteuern, sondern in mehren andern Orten des Waldes, namentlich Breitenbach und Oberweissbach, erhob sich in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts wunderbar schnell ein Medicamentenhandel, der zur blühendsten Ausdehnung gelangte. Ein Breitenbacher Apotheker, Mylius, kam auf den Einfall, Schwefelbalsam zu fertigen und auf dem Walde hausiren tragen zu lassen; ein anderer kluger Kopf, dessen Andenken unter dem Namen Junker Hans, nicht der von Rippach, noch lebt, kochte Wachholdersaft, destillirte Öl von Tannenzapfen, und lernte die Kunst, edle Aquavite zu brennen. Das Geschäft stieg zu immer grösserm Flor, die Laboranten, diess war der Titel der neuen Mediatoren, sandten nun auf den Rücken ihrer Commissionare, der Balsamsträger, Olitätenhändler, in alle Welt alle erdenklichen Essenzen und Tincturen, Pillen und Pulver, Salze und Tropfen; für jeglich Gepress ein Polychrest, und bald gewährte der neue Erwerbszweig den Einwohnern von zwölf Schwarzburgischen Dörfern im Amte Königssee reichlichen Verdienst. Solch ein Mann war und ist eine ambulante Materialkammer, ein allzeitfertiger Defectarius; von Haus zu Haus spricht er ein, in jedem ist doch mindestens ein verdorbener Magen, ein Augenübel, ein Verstopfter, ein Katarrh, eine Unregelmässigkeit, und da muss Dieser Essentia amara, Jener Schneeberger Schnupftabak, ein Dritter Merkurialpillen, diese Brustpulver und jene Aloetropfen nothwendig kaufen. Gedruckte Etiketten geben über den Gebrauch volle Auskunft, und wenn es Euch irgendwo fehlen sollte, so schaffe ich Euch für wenige Pfennige ein gerechtes Haupt- und Flusspulver, das den verlorenen Verstand wiederbringt – das verlorene Gehör, wollte ich sagen. Solcher Handel ging nun eine Zeitlang ungeheuer; ganz Thüringen, Sachsen, Westphalen, Hannover, Holland, die Schweiz, Preussen und Pommern, Baiern und Oesterreich durchzogen die Balsamträger vom Thüringer-Walde mit guten Pässen des Amtes zu Königssee, und waren oft in entlegenen Hütten, wo Arzt und Apotheke fern, Boten des Heils, wie vom Himmel gesandt. Auf den Märkten standen sie mit offenen Buden, von Käufern umdrängt, denn nach Hülfe geht, wer Hülfe bedürftig ist; in der Asche sucht man, nach einem thüringischen Sprichwort, das Feuer. Viele wurden reich durch das Laborantenwesen, und die Handelsreisenden schliffen sich ab in der Fremde, sammelten Erfahrung und Lebensklugheit und trugen heimkehrend auf den leeren Reffen den nützlichsten aller Kobolde, den Luxus, in ihre Waldeinsiedeleien. Natürlich gehörte nächst einiger Kenntniss der Waaren auch Suada dazu, sie anpreisend los zu werden, daher in Hamburg das Sprichwort lebt: He is so klook, as wenn he ut den Thüringerwald keem.“
„Und warum verfiel dieser blühende Handel?“ fragten die Wanderer, die jetzt auf dem Gipfel des waldigen Sandberges, der Schönen Eiche, standen, und sich anschickten, den steilen Pfad nach Königssee hinabzuschreiten.
„Er verfiel“, antwortete Otto, „weil sich die Intelligenz hob. Die Regierungen verboten, eine nach der andern, das Hausiren mit Medicamenten, welches wohlapprobirte und examinirte Aerzte und Pharmaceuten beeinträchtigte; auch begann allmälig im Volke der Glaube an die Unfehlbarkeit der Panacene zu schwinden und mit ihm der beste Grundpfeiler dieses Handels. Er blühet nun unter tausend Beschränkungen gemässigt fort, die heilsame Pflanze des Waldes vegetirt im Garten und hat ihr bestes Arom verloren. Dass sie Manchem zu Gift ward, der sie mit Unverstand brauchte, dazu konnte sie nichts; auch aus ihren Nektarien tranken die Bienen Honig.“
„Du siehst doch Alles mit besonderem Auge an“, sprach Lenz, „und Deine Neigung gestattete wohl noch auf lange Zeit einen Handel, den die Weisheit der Staatsgewalt verbieten und beschränken muss.“
„Kann ich anders?“ fragte Otto entgegnend. „Ich gebe mich, wie ich bin. Es gibt ein Auge der Liebe und ein Auge des Hasses. Der Blick des ersten fällt verklärend selbst auf das minder Schöne, wie ein Sonnenstrahl, der einen rauhen Felsen schmückend umfliesst; der Blick des andern fällt schneidend wie ein Dolch auf das Schöne und verwundet es grausam. Es gibt Menschen, die immer und immer mit dem „bösen Blick“ behaftet sind; ich freue mich, für Vieles den Blick der Liebe zu haben.“ Das kleine Städtchen Königssee, das in alter und neuer Zeit sehr oft grosses Brandunglück erlitt, war bald erreicht. In einen wasserreichen Thalkessel eingebaut, gewinnt die Sage Wahrscheinlichkeit, dass die Stadt an eines See's Stätte stehe. Sein Ursprung verliert sich im grauen Alterthume; im Mittelalter war es bekannt durch seinen unweisen Rath, ein lustiges Narren-Gericht; wir wollen ihm in der Gegenwart einen um so weisern wünschen. Zum langen Aufenthalte bot Königssee keine Anziehungspunkte, daher es Otto vorzog, mit den Freunden, ehe sie ihre Strasse weiter verfolgten, eine kleine Strecke westlich zu gehen und ihnen die grotesken Rauhkalkfelsen des Pfaffensteins zu zeigen, durch welche ein schmaler Fusspfad sich windet. Dann wurde eine Höhle besucht, die Mönchskapelle, die sich in einer über dem Dorfe Garsitz aufgegipfelten Felsparthie, zackig und zerklüftet, befindet und, bei 8 Schritt Breite, gegen 40 Schritte tief ist. Lenz fand in ihr einige Tropfsteingebilde.


Bald sahen sich die Wanderer wieder in dem nettgebauten Städtchen, von dem frühen Ausfluge zurückgekehrt. Ein ländliches Frühstück wurde nicht verschmäht, um zum neuen Marsch zu kräftigen; ein schöner Tag stand bevor, die herrliche Gegend Schwarzburgs sollte, wie eine vollendete Schönheit dem Auge des Malers, alle ihre Reize entfalten.

Ueber mehre Dörfer führte der belebte Weg; bald rasselte ein Fuhrwerk vor oder nach, bald begegneten uns Lustreisende, bald fröhliche, muntere Mädchen, gesprächige Bursche in wohlgefälliger Tracht. Am Katzenberge, über den die Strasse läuft, zeigte sich ein schöner Alabasterbruch, und in der Waldung des Tännigs entdeckte der Botaniker manche nicht gewöhnliche Pflanze. Abwärts stiegen die Wanderer den Bergpfad, Bachesrauschen grüsste aus der Thaltiefe und es lichtete sich das Dickicht des Forstes, der Blick ward frei – aber gefesselt von einer der malerischesten Ansichten, standen die Wanderer staunend da. Hoch thronend auf der Spitze einer Felszunge, die sich in den reizend grünen Thalgrund, von hohen Waldbergen rings umschlossen, hineinstreckte, sahen sie ein stattliches Schloss von der Bauart späterer Zeiten, mit einem Thurm und altertümlichen Nebengebäuden, prangen. Es war Schwarzburg, das Pilgerziel unzähliger Reisenden, die Stammburg zweier blühenden Fürstenhäuser, Wiege und Sarg, da auch das Fürstlich Rudolstädtische Erbbegräbniss sich im Schlosse befindet. Unten am Fusse des Berges, vorzugsweise das Thal genannt, lagert das 50 Häuser grosse Dorf gleichen Namens, dessen Bewohner sich die „Männer von Schwarzburg“ nennen. Wagner rief entzückt aus: „Wahrhaftig, das Schloss dort steht wie eine Königin in malerisch drappirten Gewändern von verschiedenartigem Grün. Unten umfliesst der rauschende Bach als Silbersaum das schimmernde Kleid, und weithin leuchtet das weisse Haupt unter der dunkeln Krone!“

„Lasst uns eingehen in jenen stattlichen Bau ; gewiss enthält er des Sehenswerthen Mancherlei, und wäre das nicht, so muss sich dem dort oben Stehenden das Thal reizend mannichfaltig ausnehmen!“ sprach Lenz, und Otto bestätigte: „Ich führe euch zu Beiden; folgt mir nur hinauf!“

Bald durchwandelten die Freunde Hof und Hallen des Schlosses Schwarzburg, betrachteten im erstem die schöne Säulenkolonade von vaterländischem Gestein, und stiegen die blanke Marmortreppe empor, um auf den langen Gallerien eine ausgezeichnete Geweihesammlung in den Schwarzburger Forsten erlegter Hirsche zu besehen. Ein gefälliger und bereitwilliger Kastellan unterliess nicht, auf manches schöne und seltne Geräth oder Bildwerk in den Zimmern aufmerksam zu machen, bei einer hübschen Sammlung von nahe an dritthalbhundert Stück Pferdebildern anzuführen, dass dieselben von dem Fürsten Ludwig Günther eigenhändig gemalt worden, und endlich an einem der Fenster zum Genuss der wildromantisch-schönen Aussicht einzuladen, die auf vielfache Weise das Auge angenehm beschäftigt. „Wahrlich, wie ich mir den Blick von diesem Hochpunkt dachte, so finde ich ihn!“ rief Lenz aus. „Seht wie schroff diese Felsen sich zur Tiefe hinabsenken und ihren nackten Fuss badend in die Silberwellen des Flüsschens setzen!“ In mannichfacher Abwechslung des Laubgrüns prangend, hob sich gegenüber mitten aus dem Düster der entlegnern Tannenforsten ein Theil des Thiergartens, und auf der Wiese tief unten scherzte unbefangen junges Wild.

„Was tausend!“ rief Wagner: „Was wühlt sich denn dort so schwarz und klumpig aus dem Dickig hervor, das sind doch keine jungen Rehe oder Bären? Ich kann's nicht recht erkennen!“
„Etwas ist's, das man nicht alle Tage sieht,“ bemerkte Lenz auf Wagners Frage: „eine Bache mit einem Rudel Frischlingen. Seht nur wie gehäbig sich das alte Mutterschwein im sumpfigen Rasen der schattigen Waldwiese wälzt, und die Jungen possierlich um sie her springen!“
„Schwarzwildpret ist ein köstliches Essen!“ sprach Otto mit dem tragikomischen Seufzer eines Gourmands, dem nach einer leckern Speise der Mund wässert, und die Freunde, die ihn wohl verstanden, lachten ihn aus.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch Thüringen