Wiligrad, 15. August 1915. Zitronenholztäfelung, Karl Alexander, Sophie von Sachsen-Weimar, Brüsewitz, Graf Schack, Inspektor Bräsig, Fräulein von Grävenitz, Fräulein von Vieregg, dän. König Christian IV., Anna Sophie von Reventlow, Adolf von Schack.

Heute besuchte ich Brüsewitz, die Jugendheimat des Grafen Schack. In Mecklenburg darf man wirklich nicht nur das Land unseres vortrefflichen Inspektors Bräsig ersehen - einzig in Deutschland besitzt Mecklenburg einen unabhängigen Adel, der kraft seines Grundbesitzes, nicht kraft der drei vorgesetzten Buchstaben, eine geschlossene politische Macht bedeutet. Ob diese Entwicklung dem Land mehr nützte oder schadete, bleibe unerörtert, sie hat manche eigenartige und wertvolle Persönlichkeit hervorgebracht, nicht nur Blücher und Moltke, sondern auch ungewöhnlich feingebildete Weltmänner. Dieser Adel ist stolz darauf, daß seine Töchter niemals einheimische Fürstengeliebten wurden (einige vergaßen sich allerdings und machten außerhalb eine glänzende Laufbahn, so die berüchtigte ,,Landesverderberin“ in Württemberg, Fräulein von Grävenitz, so Fräulein von Vieregg, welche die ,,zweite Frau“ des dänischen Königs Christian des Vierten wurde, so Anna Sophie von Reventlow, die es 1721 sogar zur Königin von Dänemark brachte). Im allgemeinen leben diese Familien mit Ausnahme einiger in der Residenz verbrachten Winterwochen still auf ihren Gütern. Sie treiben nicht Luxus, haben jedoch ansprechend vornehme Gewohnheiten, einzig in Deutschland besteht zum Beispiel bei ihnen bis zum heutigen Tag die Sitte, sich auch im engsten Familienkreis abends zu Tisch feierlich umzuziehen. Sie haben Stil.
Natürlich war Adolf von Schack ein weißer Rabe, im Adel jedes Landes wäre er das gewesen. Anderswo hätte man diesen hochgebildeten Aristokraten-Kunstgönner in weiten Kreisen vielleicht mehr beachtet, anderswo hätte man schwerlich dem bösartigen, durch die Taten widersprochenen Klatsch Gewicht beigelegt. Gewiß hat er für ein paar hundert Taler Kunstwerke erworben, die viele Tausende wert waren, aber daß er den Mut hatte, unverstandene Kunst zu unterstützen, das war sein Verdienst. Seiner Bildersammlung zuliebe lebte er einfach, er mußte haushalten, konnte nicht mit vollen Händen geben, auf das dankbarste wurden jedoch auch diese bescheidenen Summen damals von den sich mühsam durchringenden Böcklin, Feuerbach und Lenbach angenommen.
In Brüsewitz ist er vor genau hundert Jahren geboren, hat dort seine Kindheit, seine Jugend verlebt. Ich fand eine übliche norddeutsche Gegend, Wiesen und Wälder und Landstraßen mit Baumreihen bepflanzt. Als ich vor das Herrenhaus trat, war ich trotz der schönen alten Bäume, trotz der guten altmodischen Nebengebäude enttäuscht. Das war ja ödes neunzehntes Jahrhundert, grauer Stuck, Zinnenschmuck am flachen Dach. Nachher erkannte ich die Geringfügigkeit des Schadens, mit Ausnahme der Fassade war alles echt, diese Ausschmückung wurde vom Vater vorgenommen, als Adolph etwa fünfzehn Jahre alt wurde, gewiß haben die Kinder sie als ,,romantisch“ bewundert. Auf das liebenswürdigste führte mich die Herrin des Hauses umher, deutlich erinnert sie sich ihres Onkels, oft verbrachte der gütige, stattliche, fast erblindete Greis den Sommer bei ihnen, hing an der alten Heimat.
Fast unberührt ist diese geblieben, in den wohnlichen Zimmern stehen die guten alten Möbel seiner Eltern, hängen die ihm vertrauten Bilder. In einem Raum sind es Stiche in Mahagonirahmen, Blücher bei Ligny, Napoleons Tod und dergleichen mehr, und im Eßzimmer fesselte mich eine handgemalte Tapete mit Szenen der sonnenanbetenden Inkas. Phan- tastische Felsenufer, Fürsten mit Federkronen, Tempel, Priester und Volk, wie interessant, wie lebendig werden diese Gestalten dem Adolf und seinen Geschwistern gewesen sein! Fenstertüren führten auf die altgraue Steintreppe, auf Hortensienkübel, ringsumher erhoben sich auf dem Rasen herrliche alte Eichen, knorrige, urzeitliche Riesen, und dahinter dehnte sich jene dunkle Lindenallee, die er so liebte. Nur der Ausblicktempel am Ende, wo er mit seinem Lehrer nachts die Sternbilder besah, sich in sie vertiefte, wurde altersschwach, ist unlängst zusammengesunken. Dort, wo einst der Burggraben sich zog, hat Adolf spannende Räuberzüge unternommen, und zu seinen wertvollsten, glücklichsten Stunden rechnete er die, in denen die Erzieherin seiner Schwester mit ihm im Garten umherging, mit ihm über Dichter und Künstler sprach, ihn in seinem Drang nach Schönheit ermutigte und stärkte. Das Kämmerchen, in dem er verstohlen dichtete, denn bei den Eltern durfte er nicht auf Verständnis rechnen, ist vorhanden und hier im Saal steht der Bücherschrank seiner Mutter, den er einmal beschreibt. Da reihen sich die Bücher, die heute noch leben und noch lange leben werden, neben längst vergangenen Lieblingen jener Zeit.
Es ist der richtige Saal eines norddeutschen Herrenhauses, lang, nicht übermäßig hoch, auf dem Parkett ließe es sich gewiß wundervoll tanzen. Zu Weihnachten wurde hier aufgebaut, hier hing ein Gemälde von Palermo, der Knabe hat dieses Bild geliebt, hat sich vorgenommen, später diese Wunderwelt mit eigenen Augen zu sehen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch Deutschland