Der Chiemsee und Seebruck

Eines Tages im eingehenden Augustmond standen wir, von Prien herabgekommen, am Gestade des Chiemsees. Der Ort heißt Stock und besteht aus ein paar Schupfen, ein paar Badehütten und einem Steg. Nicht weit davon, landeinwärts, hat sich aber eine Schenke aufgetan, wo der Wanderer im kühlen Schatten seine Reisehandbücher lesen und sich vorbereiten mag auf die Schauer der Vorzeit, die ihn bald auf den chiemseeischen Eilanden umwehen werden. Mir fiel dort immer der steinalte Hesiodische Vers ein vom Winkel der heiligen Inseln; es ist, wer es zu fassen vermag, ein urweltlicher Duft um diese Seestätten, obgleich die meisten Pilger nur hinüberfahren, um Hechte zu essen und im Lindenschatten der Verdauung obzuliegen.

Schon raucht der hohe Kamin und die weißen Wölklein ziehen dem Gebirge zu. Zu Stock am Stege landet nämlich das Dampfboot, welches die breiten Fluten des Chiemsees befährt — ein schönes Unternehmen, das etwa auf zwanzig Jahre zurückgeht. Allererst trat ein ländlicher Zimmermann auf und stellte verwegenen Sinnes dem Publikum ein naives Schifflein zur Verfügung, eine Bauernarche von rührender Einfalt. Ich glaube nicht, dass hinten in Minnesota über die stillen Gewässer der Winnepagos je ein Dampfboot brauste, dem der Spruch, dass aller Anfang schwer sei, oder vielmehr die liebe Not so deutlich aus jedem Sparren guckte. Doch dauerte dieser ärmliche Anfang nicht gar lange; denn als man gefunden, dass der Chiemsee auch für solche Schiffe gangbar, schlug man das erste zusammen und baute ein anderes, fuhr auch so fort bis jetzt, wo schon das vierte oder fünfte Fahrzeug sich in den blauen Wellen wiegt. Das gegenwärtige ist aber von Eisen, ganz reinlich und schmuck, und gehört dem Kupferschmied Feßler zu München. Dieser hatte einmal gehört, dass beschleunigter Verkehr einem Volke leicht Behagen und Gedeihen bringen könne, nahm fünfundzwanzigtausend Gulden aus seiner Truhe, baute seinen „Maximilian“ und glaubte nun als Wohltäter der Nation einiger Rücksicht würdig zu sein, worin er sich aber vollkommen täuschte, da man ihn von allen Seiten im Stich ließ. Der Kapitän des Maximilian hat zwar nie die Welt umsegelt, ja eigentlich noch nicht das Meer gesehen, ist aber ein Insulaner von Frauenchiemsee und führt sein Schifflein trotz Wind und Wetter ohne Gefahr durch die wogende See. Auch ist er sehr höflich, was ich ausdrücklich anmerke, da mehrere Leute, die es eben so leicht sein könnten, noch immer sehr grob sind.


Das Dampfboot hatte vielleicht etliche gute Jahre, aber jetzt sind seine besten Tage auch wieder vorbei. Es florierte, als die Eisenbahn nur bis Rosenheim reichte, und der Zug der Fremden dem „bayerischen Meer“ gern etliche Stunden schenken mochte; jetzt, da die Schienen das Wasser zu Land umspannen, rollen die meisten in lächerlicher Hast dahin. Nur wenige, aber sinnige Seelen verlassen noch zu Prien den Zug, wandeln einsam nach dem Gestade, rauchen ihre Zigarre auf dem Decke des Fahrzeugs oder stricken an ihrem Reisestrumpf und betrachten denkend das Gebirge und den chiemseeischen Archipelagus. Die Eisenbahn, wenn sie nicht so bequem wäre, so geeignet für Hochzeitreisende und flüchtige Schuldner, wenn sie nicht die Völker zu einander führte, ihnen, wie zu erwarten, die Schrullen austriebe und die germanische Freiheit über ganz Europa ausbreitete, man könnte ihr zwar manchmal einen bösen Tag wünschen, weil sie den Unrat des Reisepublikums gewöhnlich an den sentimentalsten Stellen absetzt, aber auf dem Chiemsee hat sie bisher nichts verdorben, er ist eher einsamer geworden, als er war.

„Als ich eines Nachmittags,“ schrieb zwar damals mit seinen Worten ein guter Freund, den ich jetzt noch nicht verraten will, „im April 1869 die Klosterfrauen auf Frauenwörth mit einem ehrwürdigen pappendeckelumzogenen Perspektiv von hoher Mauer über den See spähen sah, aufgescheucht durch einen schrillen Pfiff, wie er vorher nie über die heiligen Wogen herübergepfiffen, und durch ein weißes, wagrechtes, fremdartiges Rauchwölklein, welches sich länger und qualmender längs der Gestade von Feldwies gegen Grabenstätt hinzog, — als damals, kopfschüttelnd und staunig betrübt, die Hüterinnen des Seeheiligtums den großen schnaubenden Tatzelwurm der modernen Zeit seine „Probefahrt“ gen Traunstein tun sahen, da ward auch mir wehmütig zu Sinn, wehmütig um die stille Poesie jener Lande und jenes Seespiegels, und ich dankte Gott, dass ich sie noch beschreiten und im morschen Einbaum rudernd belauschen konnte, ehe die Eisenbahn ihre Auswürflinge massenhaft dorthin schleudert.“

Aber wie gesagt, Meister Feßler hat eher zu klagen, dass der Auswürflinge so wenige und derer, die vorübereilen, so viele sind. Hat er doch die Preise so nieder gesetzt, dass man auf allen Gewässern nicht billiger fahren kann, und gleichwohl war's immer so still auf seinem Deck! Wenn man das Dampfboot betrachtet, wie es mit den fünf oder sechs sinnigen Seelen, deren wir oben gedacht, dahinfährt und seinen Dienst so ordentlich tut, ohne alle weitere Nachhilfe oder Unterstützung, so meint man fast, es sei eine alte Wohltätigkeitsstiftung, welche die frommen Pilger nicht um schnöden Gewinn, sondern um Gotteswillen über die blauen Fluten führt und in einer bessern Welt jene Vergeltung hofft, welche ihr die heutigen Reisemenschen in ihrer Blödigkeit versagen.

(Es ist Schade, dass die Verwaltung der Verkehrsanstalten der Dampfschifffahrt im Chiemsee seit ihrem zwanzigjährigen Dasein nie einen großherzigen Blick geschenkt hat. Es wäre freilich noch immer Zeit, dass sie sich mit dem Unternehmer wohlwollend verständigte, was zu beiderseitigem Vorteile und zur Bequemlichkeit des Publikums gedeihen könnte. Würde z. B. in Seebruck ein Omnibus einfließen, so brauchten die Reisenden, um nach Prien zu kommen, nicht die holprige Bergstraße über Weisham zurückzulegen und Herr Feßler hätte täglich um ein Dutzend Fahrgaste mehr. Auch mit der Briefpost ist es noch bestellt wie zu Klosterzeiten, ja vielleicht noch schlechter als damals. Die Botin kommt nämlich zwei Mal in der Woche von Weisham, welches anderthalb Stunden entfernt ist, auf die Eilande und bringt fröhlichsten Tage, ja selbst Polterabende, Hochzeiten und Beilager. Unser Haushofer, der dort, wie auch Direktor Ruben, sein häusliches Glück gefunden, fing damals den Chiemsee zu malen an und hat ihn seit diesem Anfang wohl dreißig oder vierzig Male gemalt — es ist immer der alte Chiemsee, aber immer in neuer Auffassung und mit neuen Reizen. Das Gedächtnis; jener Zeiten zu erhalten, legte Friedrich Lentner im Jahre 1841 (es ist schon bald ein Vierteljahrhundert) die Chronik an. Diese ist ein heiterer, fast schnurriger, mit gotischen Randmalereien verzierter Bericht über die Entdeckung der Insel und die Begebenheiten, die seitdem da vorgefallen. Solche, die später kamen, Dichter, Maler und sonstige Naturfreunde setzten dann das begonnene Werk gar fleißig fort, dichteten Elegien, zeichneten Landschaftsbilder, Porträte, auch etliche schätzbare Karikaturen hinein. So ist das Buch ein Kleinod geworden, das mit Sorgfalt erhalten und aufbewahrt, aber den Eilandsgästen, die darnach fragen, gerne gezeigt wird. Gar viele haben darüber schon eine angeregte Stunde zugebracht. Das Inselchen aber erfreut sich noch immer einer großen Beliebtheit, und es fehlt nicht an elegischen Pilgern, welche seine Einsamkeit suchen und gern etliche Tage oder Wochen da verleben. Für Leute, die viel Zerstreuung und Lustbarkeit begehren, ist es aber kaum mehr geschaffen — denn die lustigen Zeiten sind lange dahin. Still ist es noch immer, das grüne Eiland, aber es mangeln die fröhlichen Gesellen und Gesellinnen, welche einst diese Stille kurzweilig machten. Viele davon ruhen schon lang in der kühlen Erde.

So auch Friedrich Lentner. Er starb im Frühjahr 1852 in jungen Jahren zu Meran. Dieser Pfad vom Chiemsee oder von München über Innsbruck ins Etschland hinein war eigentlich die Saite, auf welcher sich die schönsten, aber auch die wehmütigsten und traurigsten Töne seines Lebens abspielten. Auf Lebenberg bei Meran, auf dem schönen Lebenberg stiftete er, all die Unbilden vergessend, welche ihm die tirolischen Staats- und Polizeimänner angetan, eine ähnliche Chronik, doch farbenreicher als die Chiemseer, die er gleich nach der Geburt sich selbst überlassen musste, und trug dort eigenhändig mit Schrift und Pinsel ein, was seine heitern Freunde von Meran sowie andere ehrbare Männer aus Tirol und der übrigen Welt im Lauf der Jahre an seltsamen Stücklein aufgeführt. Herr Kirchlechner, der gastfreundliche „Burggraf zu Lebenberg“, gedenkt noch mit Rührung der alten, schönen Tage, als der Lentner noch gelebt, der auch das ganze Schloss gewissermaßen zu seinem Denkmal umgestaltet, hier eine Tafel aufgehängt, da ein Wandbild, dort einen schönen Reimspruch hingemalt hat — so ermunternd, dass auch der geistreiche Lasaulx, der nach ihm kam, um dort seine Sommerfrische zu verleben, sich in der Spruchpoesie versuchte und ebenfalls seine Reime spendete. Jetzt kommt auch er nicht mehr nach Lebenberg.

Friedrich Lentner hat bekanntlich mancherlei geschrieben, zwei Romane und mehrere feine, zum Teil humoristische Novellen, auf bayerischem und Tiroler Boden spielend. Sein Ruf hat jedoch das Fichtelgebirge nicht überstiegen, obwohl er hier zu Lande hochgeschätzt und gepriesen wird. Als er gestorben war, zeigten sich auch eine Menge Gönner und Gönnerinnen, Verehrer, Bewunderer, welche sich eifrigst nach der Herausgabe seines Nachlasses, vielmehr Zusammenstellung seiner in Zeitschriften zerstreuten Novellen erkundigten und diese ungemein beeilt wissen wollten. So erschien denn (bei Gebrüder Scheitlin in Stuttgart) der erste Band seines Nachlasses, eine bis dahin ungedruckte Erzählung aus Tirol, welcher ein guter Freund die Lebensbeschreibung des Verlebten vorgesetzt hatte. Als aber das Büchlein fertig am Schaufenster stand und etwas Zuspruch wünschte, hatten sich Gönner, Verehrer und Bewunderer mit einemmal ganz verlaufen. Zur Zeit bedenkt sich nun der Verleger natürlicher Weise, ob er den zweiten Band, zu dem er das Zeug schon längst in Händen hat, noch nachschieben solle. Wir erwähnen aber diese Geheimnisse nur, weil sich einige teilnehmende Herzen dem Argwohn hingeben, der gute Freund, der sich um die Herausgabe angenommen, sei aus Lässigkeit oder Widerwillen an der Zögerung Schuld. Immerhin sieht man daraus, wie wenig Glück und Segen es bringt, bei uns und in den Nachbarstaaten der schriftstellernde Liebling des Publikums zu sein. In diesem Stücke wenigstens scheint die Metropole der Intelligenz an der Spree einiges voraus zu haben. Ist ihr niederes Volk viel roher, so möchte leicht ihr gebildetes auch etwas gebildeter, wenigstens viel bücherlustiger sein, als das unsrige, und dort, in dieser Stadt allein, als Schriftsteller, Talent oder Genius, als einer unter vielen rezipiert zu werden, wäre vielleicht eben so nützlich und angenehm, als in Ober- und Niederbayern, München, Freising, Landshut, Tirol und Vorarlberg, Allgäu, Schwaben und Neuburg nebst den angrenzenden Territorien als erster und einziger zu glänzen. Aber warum sollen unsre Geistespflanzen nicht auch im kalten Boden gedeihen wie unsere Rettiche?

Wie ganz anders ist es freilich anderswo, in den mildern Ländern, wo die Muse alle Abende zum Tee kommt? Dort stehen dem künftigen Literaturgeschöpfe schon vom Zeitpunkt der Empfängnis; und lange, bevor es das Licht der Welt erblickt, die Bulletins schriftstellernder Hebammen zur Seite, die auf seinen Zustand und den der männlichen Mutter liebevoll und mit unüberwindlicher Ausdauer aufmerksam machen. In dem Feuilleton, in den Miszellen oder in den Notizen eines der gelesensten Journale findet man eines Tages: Unser N. N. soll an einen nationalen Roman aus dem Hofleben der Vandalenkönige denken usw. Nach einigen Wochen heißt es im Deutschen Museum: Der Roman sei begonnen, aber in die Tage Friedrichs des Großen verlegt worden, da der begabte Autor jene Urzeit viel ärmer an Situationen gefunden, als er einst vermutet; doch sei über die Person der Heldin noch nichts bekannt, daher allenthalben enorme Spannung. Später lesen wir in der Europa: Die Heldin sei nahezu gefunden — wahrscheinlich eine anhalt-zerbstische Hofdame, was sehr interessant. Noch später zeigt sich in der Kölner Zeitung die vielsagende Notiz, jene etwas verfrühte Nachricht bestätige sich dahin, dass es eigentlich ein Höckermädchen aus Potsdam sei — eine äußerst erfreuliche Wendung, da Hofdamen längst nicht mehr populär. Kaum haben wir uns die äußerst erfreuliche Wendung zu recht gelegt, so lesen wir in der Leipziger Zeitung ganz unerwartet die Mitteilung, der geistreiche Verfasser sei an einen kleinen Hof befohlen worden, um der pensionierten Herzogin von X. sein Manuskript vorzulesen, und die hohe Frau sei freudig überrascht gewesen, bei einem bürgerlichen Schriftsteller so wahrhaft vornehme Gesinnungen anzutreffen. Namentlich habe ihr auch seine aristokratische Auffassung der Liebe zugesagt, die in dem Roman fast geschlechtslos erscheine. — Über den ersten Ausgang des Buchs gehen mystische Andeutungen in die Welt, die sich in der blauen Ferne leicht so verstehen lassen, als habe man vor dem Laden Queue [Warteschlange] gemacht. Noch dieselbe Woche erscheinen in den besten Blättern Anzeigen und Besprechungen voller Jubel, dass endlich das längst ersehnte Werk an den Tag getreten, eine längst gefühlte Lücke unserer Literatur ausgefüllt und diese um ein Meisterwerk bereichert sei. So wird, sagen unsre Schriftsteller, der stiere Publikus kirre gemacht, er gewöhnt sich an den Namen, lernt ihn aussprechen, ja wiederholen und frohlockt zuletzt, wieder einen berühmten Deutschen mehr zu haben. Der Berühmte aber wird Tischgenosse der Götter und erfreut sich unsterblichen Lebens.

Aus dieser reichen Fülle des Betriebs, sagen unsre Schriftsteller, blühen für uns nur die Anzeigen in den Leipziger und Berliner Blättern. Wir werden da, wenn wir es verdienen, günstig, sehr günstig, oft ungemein günstig besprochen, aber damit ist's auch vorbei. Unser einer, sagen unsre Schriftsteller, ist dort wie ein schönes Bauernmädchen, das man vom Berge herab als Jodlerin zu einem Münchner Hauskonzert geladen — sie wird drei Stunden lang von jedem ausgezeichnet, sie gilt an diesem Abende mehr als alle übrigen, aber man würde es ihr doch sehr übel nehmen, wenn sie sich zur Familie rechnen wollte. So auch wir — wir singen mit Beifall unser Liedlein und sind entlassen. In den Übersichten, Rückblicken, Generalberichten über die dramatische, lyrische, novellistische Jahresernte, sagen unsre Schriftsteller, in den Literaturgeschichten usw. ist kein Raum für uns; wir haben keine Journale, die uns lieben und loben und unser Gedächtnis fortpflanzen, wenn wir eben nicht auf dem Markte sind; wir blühen einmal, wie die Seelilie, und versinken dann wieder, kurz wir leiden an unfreiwilliger Verschollenheit und unsern Schmerzensschrei will niemand hören. Vielleicht geht's aber den fröhlichen Österreichern, vielleicht den biedern Schwaben ebenso. Und vielleicht kann man allen mit gleichem Recht die Frage stellen: Warum haltet ihr euch nicht auch ein Orchester, in dem die Posaunen der Anerkennung und die Trompeten des Lobes von tüchtigen Lungen geblasen werden? Warum schreibt ihr nicht auch eure Blätter, die in jedem Mondenwechsel wenigstens einmal euren Stil, eure Komposition, eure Charakterschilderungen, eure Landschaftsbilder, eure Abendröten ins Gedächtnis; rufen? Warum seid ihr so rückhaltsvoll gegen eure Freunde und gebt ihnen keine Anweisung, wie sie die Tiefe eurer Intentionen, die Konsequenzen eures Gedankenspiels, das Großartige eures Genius sicher herausfühlen, lebhaft darstellen und mit Liebe preisen sollen? Ihr seid aber kaum auf der heimischen Erde beachtet — was wollt ihr denn von den Fremden? Und damit ist denn allerdings eine andere Wunde aufgerissen, ohne dass die erste zugeht. Der gewöhnliche Bürger findet nämlich, wenn er den Versuch wagt, das meiste, was bei uns gedruckt wird, noch zu hoch, die ungewöhnlichen aber, die in Reichtum und Üppigkeit leben, stellen selbst den Versuch nicht an. Den öffentlichen Würdenträgern hat die Vorsehung zwar Weisheit und gestickten Kragen, aber meistens wenig Glücksgüter verliehen. Der fette Landpfarrer spielt nachmittags seinen Tarock und hat für solche Sachen keine Zeit. Der Gutsbesitzer kauft sich vor dem Sylvesterabend den Sulzbacher Kalender und spricht: zu lesen genug fürs nächste Jahr! Der hohe Adel endlich schwelgt, wie seine Gönner behaupten, lediglich in fremden Literaturen — wie seine Kenner sagen: in gar keiner. Im Allgemeinen aber stellt man sich erstaunt, dass der Schriftsteller, der stets mit dem Geistigen beschäftigt sei, überhaupt wenigstens durch den Hunger noch mit dem Irdischen zusammenhänge und wundert sich, dass er nicht, wie hysterische Seherinnen, sein ätherisches Dasein mit einer wöchentlichen Rosine fristen könne. Dass ein Volksteil, ein Stamm, der eine eigene Literatur haben möchte, sich dafür auch etwas kosten lassen müsse, gilt als eine selbstsüchtige Meinung, als eine habgierige Überspanntheit. Die Reichen und die Vornehmen, wenn sie sich nicht gänzlich ferne halten, bezeigen ihre innige Teilnahme lieber dadurch, dass sie zum Verfasser senden, er möchte ihnen doch sein neuestes Buch, das so interessant sein solle, auf etliche Wochen zum Lesen leihen. Unsere vornehmen Millionäre, Reichsräte, Fabrikanten schicken in die Leihbibliotheken gerade so gut, wie die Nähermädchen, was doch in Altengland für sehr plebejisch gilt. In allen andern Dingen steigt der Luxus auf, in der Pracht der Gemächer wie in den lukullischen Gastmählern, nur in diesem Stücke bewahren sie die Einfachheit der Väter, die ihre Unterschrift mit einem Kreuze fertigten. So lebt der Autor, ob er die Wissenschaft, ob er die Dichtkunst betreibt, unbeachtet, höchstens belächelt, doch in sich selbst vergnügt dahin, bis etwa das Gerücht auskömmt, dass ein fremdes Talent in unsre gastliche Hauptstadt versiedelt werden soll, wonach dann der gewöhnliche und ungewöhnliche Bürger, der Würdenträger, der Landpfarrer, der Gutsbesitzer, der Aristokrat, der Philister und der Idiot mit Einer Stimme aufkreischen: „Haben wir denn nicht unsern A*, unsern B*, unsern C*? Warum denn die Landeskinder hintansetzen?“ — bei welchen Worten aber niemand neidloser und herzlicher in sich hineinkichert, als eben unser A*, unser B*, unser C*.

Doch nun fort von dem schönen Frauenwörth, das so viel besungen, und hinaus in den weiten See, der schon so oft gemalt worden ist! Der Chiemsee hat eigentlich ein doppeltes Angesicht, oder vielmehr dem Schiffer, der über das Wasser fährt, bieten sich im Handumdrehen, im Augenwinken, zwei so verschiedene Betrachtungen, als wäre er in Gedankens Schnelle viele Tagreisen weit geführt worden. Schaut er nämlich gegen Norden, so zeigt sich ihm nur die alltäglichste Waldgegend, ein niederes Gestade mit Nadelholz bewachsen — wie das etwa um die hundert kleinen Seen in der Mark, in Pommern oder in Preußen auch zu finden sein möchte — wendet er sich aber gegen Mittag, so steigt ganz nah ein prächtiges Gebirge auf, riesige almenreiche Gehänge, wie sie von der Salzach bis an die Isar nacheinander sich emporrichten, vom Watzmann bis zum Wendelstein, bunt besetzt mit fernen Häusern, Wallfahrtskirchen, Schlössern und Sennhütten, während durch die Einschnitte, in welchen die Bergbäche herausströmen, lilienweiß die entlegenen Pinzgauer und Tiroler Schneehäupter herübergucken. — Von Frauenwörth sticht oft in der Abenddämmerung ein Schifflein in den See und plätschert sich hinaus in die rosenfarbene Flut. In diesem Rachen sitzt immer eine sinnige Seele, ein Maler, ein Dichter, ein Romantiker. Er rudert mit sanften Schlägen fort in dem stillen Gewässer, bis er kaum mehr das Singen vom Gestade her vernimmt. Nun glaubst du aber nicht, wie wunderlich es dem Schiffer bald zu Mute wird und wie zweifelhaft, ob neben ihm auch noch Menschen auf der Welt sind und wie er sich freut, wenn auf den Eilanden die Abendglocken erschallen und allmälig die ersten Lichter in den fernen Fenstern glänzen. Es weht da nämlich eine solitudo [das Alleinsein], wie vor tausend Jahren; dieselbe Einsamkeit, wie sie aus den Urkunden der bojoarischen Urzeit herausspricht — gegen Aufgang, gegen Mittag und gegen Mitternacht alles öde, nur hie und da ein Kirchtürmlein, das verlassen aus dem Fichtenwalde spitzt, obwohl da Raum genug für sieben Städte wäre, welche sich um ihren berühmtesten Dichter streiten könnten — und selbst gegen Westen nur etliche Lichtstreifen aus den Fischerhütten und der matte Schein der Klosterfenster. Diese tiefe Waldeinsamkeit, welche die bayerischen Seen umgibt, verlangt fast eine Erklärung, die unsere Kulturhistoriker auch nicht lange schuldig bleiben werden. Bis wir die rechte haben, können wir immerhin anführen, dass die Ufer vielfach sumpfig sind. Aber wenn die Ansiedler die nassen Stellen meiden wollten, warum haben sie sich nicht desto dichter auf den trockenen niedergelassen? Gleichwohl spiegelt sich nur im Ammersee ein Flecken, das weiland berühmte, jetzt vergessene Dießen, während an den andern kaum ein namhaftes Dorf sich emporgehoben. Dagegen ward allen als Zierde und Schmuck eine vornehme Abtei, ein reiches Chorherrenstift oder sonst eine Ansiedelung zur Ehre Gottes. Haben vielleicht diese frommen Häuser die Angst und Not der Welt sich lieber ferngehalten und den Verführungen der Sinnenlust die ungestörte Beschaulichkeit und Versenkung in das Übersinnliche vorgezogen? Oder haben sie ihre stillen Freuden, die sich doch meist um das Nämliche drehten, wie bei andern Menschen, dem scharfen Blick der Laien und dem ungeschickten Lärm der bösen Zungen entziehen wollen? Das letztere ist so möglich als das erstere.

Unter diesen oder andern Betrachtungen fuhren wir an dem Steg zu Seebruck an, alle des Willens, den bestellten Wagen zu besteigen und mit Kind und Kegel nach dem Ort zu fahren, welchem wir das ganze vierte Kapitel in schuldiger Aufmerksamkeit widmen werden. Auch sah ich schon von ferne über den langen, schwanken Steg meinen Gönner hereinschimmern, den freundlichen Hausmeister von Seon nämlich, den ich mir eigens gekommen dachte, um uns mit einer glückwünschenden Festrede zu empfangen, das Gepäck zu übernehmen und die Gesellschaft an den Wagenschlag zu geleiten. Jeder Schritt brachte uns näher und näher, und endlich waren wir dicht beisammen. Unser freundlicher Hausmeister, mit dem ich schon manche Viertelstunde unter der Kellerlinde gesessen — er schien mir zwar so kurz und rund wie immer, aber liebenswürdiger als je, und sagte verbindlichst, die Bestellung sei nicht auszurichten gewesen; ganz Seon strotze von den anhänglichsten Familien, die mit den besten Worten nicht weiter zu bringen wären; der Wagen sei also auch nicht da, und er selbst nur gekommen, um die kaiserliche Abtei und Badeverwaltung ergebenst zu entschuldigen und für ein andermal zu empfehlen. Welche garstige Äffung! Manche Stirne runzelte sich, manches Auge zuckte, aber das weiseste schien gleichwohl zu fragen: Was nun? Unser Gönner riet mit dem Dampfboot wieder umzukehren, nach Frauenchiemsee, nach Prien zu schiffen, kurz auf und davon zu gehen, je weiter desto besser. „Aber wie ist es denn hier im Dorfe?“ „Nicht Raum genug für so viele Leute“ (wir waren nämlich, groß und klein ineinander gerechnet, unser neune), „vielleicht wenig Bequemlichkeit“. „Vielleicht mehr als in Seon,“ rief da mit lauter Stimme ein dabeistehender Landjüngling von Seebruck, der die Ehre seiner Heimat ungern herabgewürdigt sah — „geht nur hinein zum Wirt und schaut!“

Dies schien sehr nahe zu liegen und wurde auch gleich versucht. Herr Isaak Wellkammer, der Gastgeber, in dessen christlicher Familie der seltene Taufname von jeher in Übung ist, empfing, uns mit der ihm eigenen Freundlichkeit, sprach sehr hochdeutsch, als wenn wir nicht recht bayerisch verstünden, zeigte uns seine heiteren Zimmer, seine guten Matratzen, und nach schnellem Umsehen fühlten wir uns ganz glücklich, nicht wieder in der Abendkühle auf die treulose Flut zu müssen und eine Stelle gefunden zu haben, wo wir unser müdes Haupt zur Ruhe legen konnten. Und so nahmen wir also Herberge in dem großen und guten Wirtshaus des kleinen Seebrucks, auf der Stelle der alten Römerstadt Bedajum, welche noch durch unterirdische Gewölbe und unverständliches Gemäuer, durch Kaisermünzen, die vor siebenzehnhundert Jahren verloren wurden und jetzt wieder gefunden werden, ihr längst verschollenes Dasein zu bezeugen sucht.

Doch gefiel es uns, noch ein halbes Stündchen zu lustwandeln, hinaus und auf die lange breite Brücke, welche hier über den Ausfluss des Sees, die ruhig flutende Alz, geschlagen ist. Auf der Brücke aber wunderschöner, unvergesslicher Anblick! Gegen Süden das ragende Gebirge des Chiemgaues in tiefer blauer Dämmerung, mit einem durchsichtigen feinen Schleier umwoben, großartig und ehrfurchtgebietend; darüber die leichten Abendwolken wie Rosenblättchen hingestreut, und weiter herüber gegen das Flachland ein goldgelber Schein, den die scheidende Sonne zurückgelassen, in den der finstere Kirchturm von Seebruck und die schweigsamen nächtlichen Bäume des Dorfes seltsam hineinstarrten, und im ruhigen See diese Farben wieder, das tiefdunkle Blau, wo sich die Berge spiegelten, die rosenroten Wolken, der goldgelbe Schein, und dann, wo dieser nicht mehr hinreichte, die grasgrüne Flut, die sich ganz hell und klar ins Röhricht hineinzog, wo die Tauchentchen schwammen und hie und da ein Fischlein aufsprang. Diese Brücke zur Abendzeit und das ganze Dörflein in seinem Obstbaumhaine schien mir so neu, so nie gesehen und überraschend! Bin schon mehrmals da vorbeigekommen, gehend und fahrend, ist mir doch nie eingefallen, wie schön das ist! So mag es oft dem Dichter aus der Stadt ergehen, der jahrelang an einem Gesellen vorüberwandelt, den er zwar dem Namen nach kennt, der ihm aber spröde und widerwärtig und ungenießbar scheint, bis er ihm einst zufällig im Eisenbahncoupé gegenüber sitzt und die Langweile dem andern den Mund öffnet, worauf dieser dann gesteht, dass er alle durchgefallenen Tragödien, Liebeslieder, Romanzen, Balladen und Lehrgedichte seines Nachbars sämtlich gelesen und wunderschön gefunden, sogar Zufriedenheit, Trost und Lebensmut daraus entnommen habe, so dass jener vorwurfsvoll zu sich selber sagt: Welch ein edler Geist! Könnt' ich an dieser Seele so lange vorübergehen, ohne zu ahnen, wie schön sie ist?

Bedajums weitere Umgebungen sind auch nicht zu verachten. Wer z. B. nach Endorf, nach der nächsten Bahnstation, sich wendet, der kommt auf dem alten Römerweg einmal an eine Stelle, wo die Straße abwärts führt und dann auf schmaler Landenge zwischen zwei Seen durchzieht. Die Seen sind waldumschlossen, dunkelschattig, einsam, fast melancholisch. Es ist ein eigentümlicher Fleck, wo für ein romantisches Auge, für einen „blinden Seher“ vielleicht mancherlei zu schauen oder zu ahnen wäre; denn auf der Landenge stand einst eine Burg, Hademarsberg, später Hartmannsberg genannt, wo ein Zweig jener mächtigen Falkensteiner hauste, welche sich nach der Feste bei Brannenburg nannten, die jetzt verfallen ist. In einem alten pergamentenen Buch, im Archiv zu München, ist noch ein Stück des Schlosses abgebildet zu finden, ein mächtiger Grundbau, der aus dem See aufsteigt, und darüber ein Laubengang von romanischen Rundbogen, in dessen Pracht das Edelfräulein erscheint, wie es angelt, Fische angelt aus dem blauen See — wahrscheinlich wußte sie, die holde Unbekannte, auch unvorsichtige Ritterherzen zu angeln, und hat es vielleicht nicht selten versucht. Ach, das fröhliche Mädchen liegt schon lang im kühlen Grab, schon seit siebenhundert Jahren, und weiß kein Mensch mehr, wie sie geheißen und wen sie geheiratet hat und wie es ihr gegangen ist. Ich lebe der Hoffnung, dass sie eine brave Hausfrau geworden und ordentlich gewirtschaftet, nicht in Saus und Braus ihre Habe vertrödelt, ihre Zahlungen eingestellt und Hunderte von fleißigen Handwerkern um ihre Mühe und Arbeit gebracht hat, wie es jetzt mitunter bei alten historischen Familien vorkommen soll. Später in milderen Zeiten wurde die feste Burg zu Hartmannsberg ein offener Edelsitz, den zuerst die Pienzenauer und vor hundert Jahren die Grafen und Gräfinnen von Hörl sommerlich bewohnten, bis sie vergantet [verwildert] wurden. Jetzt ist der Edelsitz ein großes Wirtshaus, das aber, seit die Eisenbahn errichtet worden, nur wenig Besuch mehr sieht. Die freundliche Wirtin hat daher Muße genug, uns in dem obern Stock herumzuführen, wo noch die Schlosskapelle, eingelegte Kommoden und Tische, getäfelte Türen und anderer verschliffener und vergilbter Wohlstand vergangener Zeit — nunmehr alles zur Verfügung zufälliger Herbergsgäste, Fuhrleute, Viehtreiber und wandernder Schneidergesellen. An den Wänden hängen auch etliche alte nachgedunkelte Gräfinnen aus der Zeit des spanischen Erbfolgekriegs, jungfernlichen Standes, wie es scheint, welche jetzt, natürlich nur mit gemalten Augen, den unsaubern Handwerksburschen zusehen müssen, wenn diese Abends in das Bett steigen. Nichts so erhaben und so ausschließlich als der hohe Adel, solange der Portier mit dem breiten Wehrgehänge unter dem Tore steht, und die Wappenwagen anfahren und die schweren Seidenroben über die Treppen hinaufrauschen und die Ballmusik aus den erleuchteten Sälen schallt; aber wenn die Noblesse [Adel, Oberschicht]einmal auf der Retirade [Toilette], so überlässt sie Hausgötter, alte Kommoden und alte Jungfern — letztere sogar zum Aufheiraten — schließlich gern dem bescheidenen Bürgerstande.

Seebruck rühmt sich ferner der Auszeichnung, dass es zur nachmittäglichen Kaffeezeit von Seons Badegästen in großer Anzahl besucht wird. Wer diesen geselligen Freuden etwa ausweichen wollte, könnte gerade um solche Zeit nach Seon wandern, welches nur eine Stunde entfernt ist. Er ginge dabei zuerst die Alz entlang, den stillen glatten Strom, der sich hier glänzend in schattige Waldbuchten verliert, aber bald von steigenden Höhen in Empfang genommen wird, die ihn lange begleiten, und ein so reizendes Tal bilden, dass unser Siegert wahrlich gut getan, es das Tempe des Chiemgaues zu nennen.*) Allmälig ersieht man auch Ischl, ein Dörflein, welches einsam im waldigen Grunde liegt. Man weiß nicht, ob dieser Ort vielleicht vor tausend Jahren, als die Chiemgauer, wie das vierte Kapitel dartun wird, in großen Haufen nach der Ostmark, nach dem heutigen Österreich, wanderten, Stamm- und Namensmutter jenes anderen berühmteren Ischl im Salzkammergut geworden; aber so viel ist gewiss, dass wenigstens jetzt zwischen diesem und jenem nicht die geringste Ähnlichkeit besteht. Dort europäischer Zusammenlauf, Vornehmheit, Luxus und Prellerei, hier die tiefste Einsamkeit und ländliche Stille. Das Örtchen besteht nämlich nur aus ein paar Bauernhöfen und einer Mühle am klaren Bach, welche ein Kirchlein, das mitten im Friedhof steht, verbindet — stilles Kirchlein ohne Altertum und Denkmal. Auf dem Friedhofe hielt ich einst ein bischen an und las z. B. über einem Grabe: „Johann Reitmayer zu Ischl wollte nach dem Wallfahrtsorte Unser Herr auf der Wies gehen, starb aber ganz unvermutet zu Trauchgau.“ Wer uns sagen könnte, warum Johann Reitmayer dazumal nicht zur bayerischen Muttergottes im nahen Altötting pilgerte, oder wenn er ein minder kräftiges Heilmittel seinen Umständen zuträglicher erachtete, warum nicht nach Maria-Eck, nach Tuntenhausen, nach dem Birkenstein bei Fischbachau? Warum so weit über Berg und Tal und Wasserflüsse bis hinaus nach Steingaden, an den Lech, zum schwäbischen Herrgott auf der Wies? Anziehungskraft und Ruf der Gnadenbilder haben auch ihre Geheimnisse, die noch wenig enträtselt sind. Manchmal reißt es den Pilger fort mit Sturmesdrang nach fernen Wallfahrtsorten, an die kein Mensch mehr denkt, deren Namen kaum bekannt, deren Gegend der Schullehrer gar nicht und der Pfarrer erst auf Nachschlagen angeben kann. Der Liebhaber steckt einen ledernen Schlauch mit Silbermünzen und seine Tabakspfeife zu sich, und wandert des Gottes voll wohin ihn die Gestirne leiten! — Auch ein geringes Bildchen an der Friedhofsmauer zog mich seltsam an. Oben kniet ein Jüngling in einer Uniform, wie sie die Bayern in den Freiheitskriegen getragen, und darunter steht: „Mein Sohn, welcher als Feldjäger, fünfundzwanzig Jahre alt, in einer entlegenen Landschaft, die wir nicht wußten, gestorben ist, 1814.“ Weil er bei seiner „Freundschaft“ auf dem Friedhofe zu Ischl doch nicht schlafen konnte, der junge Freiheitsheld, so errichtete ihm der Vater dort an dem stillen Ort ein Cenotaph [Scheingrab]. Wie einfach und wie lieb! — „in einer entlegenen Landschaft, die wir nicht wußten.“ Wo mag es wohl gewesen sein? — zu Arcis in der Schlacht, zu Nancy im Spital, oder sonst wo jenseits der Vogesen! Hätte nicht gedacht, da zu Ischl diese wehmütige Erinnerung an jene Kriege zu finden, an den schönen Wahn und die große Zeit, als die hochherzigen Deutschen ihre Kaiser und Könige vom Napoleon befreiten, um selbst der traurigsten Herrschaft anheimzufallen. Der Feldjäger von Ischl hat es gewiss auch anders gemeint! Gott gebe ihm eine fröhliche Urständ, wo immer auch im fernen Frankreich seine Asche ruht!

*) Herr Collega Siegert behauptete neulich auf dem Keller zu Altenmarkt, das hätte nicht er getan, sondern ich — ich kann mich aber nicht erinnern, wo mir's passiert sein sollte und es mögen daher künftige Forscher in der bayerischen Literaturgeschichte herausspüren, wo sich jener Ausdruck zum ersten Male findet.

Rechts von Ischl fließt die Alz, und wenn wir nicht nach Seon gehen, so erreichen wir, dem chiemgauischen Tempe folgend, in einer guten Stunde die Gegend, wo das Kloster Baumburg weithin sichtbar auf seiner schönbelaubten Anhöhe steht, und der alte Markt an dem rauschenden Fall des Stroms sich ausbreitet, und Trostberg, der freundliche Flecken, mit der Siegertshöhe von ferne glänzt, und gegen Aufgang die Brauerei von Stein zu ihrem flüssigen Golde winkt, lauter Schönheiten, die wir heute nicht näher zu beschreiben brauchen, da dies schon einmal geschehen ist. Nur soll nicht unerwähnt bleiben, dass von der obern Burg zu Stein in diesen klaren Sommertagen oft eine herrliche Aussicht genossen wurde, welche gegen Sonnenaufgang bis an des Dachsteins eisige Ferner reichte, die von der Steiermark herüberleuchteten und gegen Süden über all das Alpenland ging, das wir schon zu Bedajum auf der Brücke gesehen, und noch viel weiter.

Es ist überhaupt eine rühmenswerte Eigenschaft des Chiemgaues, so fernsichtig, so weitausschauend zu sein. Es ist ihm eine so geschickte Anordnung, ein so wohlbemessenes Gewebe des wogenden Hügellandes zu Teil geworden, dass der Wanderer alle Viertel-, alle halbe Stunden, nachdem er ein Tal durchschritten, wieder auf ein Luginsland gelangt, von dem sich die ungeheure Gebirgsansicht und der See und über den Inn hinaus die unermessliche bayerische Ebene zeigt. In allen Landschaften, die sich vor den Bergen ausbreiten, finden sich natürlich vielfach die Stellen, wo sie übersichtlich vor Augen liegen, aber eine so regelmäßige Wiederkehr von Senkung und Hebung und auf dieser von endloser Fernsicht sowohl einwärts in die Alpen, als in die grüne Heide, ins Flachland hinaus, sie hat nur der Chiemgau.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderung im bayrischen Gebirge