Das Bauerntheater in Seebruck

Um aber unser Seebruck nicht ganz zu vergessen, so war es im Wirtshause doch nicht recht geheuer — es machte sich vielmehr eine Stimmung bemerklich, als wenn alles am Vorabend großer Ereignisse stünde. Öfter vernahm man unerklärliche Hammerschläge, die von oben im Hause kamen, zuweilen sah man eine seidene Schärpe, einen goldpapiernen Helm, einmal sogar eine hölzerne Hirschkuh vorübertragen. Als man nach dem Grunde dieser seltsamen Erscheinungen fragte, erhielt man die Erläuterung: die Bauern von Seebruck würden am nächsten Abend Theater spielen. Welche Überraschung!

Der erste Anstoß zu diesem Unternehmen scheint von der königl. Gendarmerie ausgegangen zu sein. Im Nebenhause des Gasthofes ist nämlich ein kleines Lager aufgeschlagen, in welchem drei Gendarmen friedlich beisammen leben. Sie erscheinen in ihren Freistunden auch im Hauptgebäude und wissen sich durch Dienstwilligkeit und kleine Aushilfen in Haus und Hof und Stall sehr beliebt zu machen. Einer davon ist „der Kommandant,“ ein gebildeter Krieger, welcher im Königreich schon viel herumgefahren und den Landleuten an Weltkenntnis weit überlegen ist. Dieser zuerst erfasste, so scheint es, nach unsers Schillers Vorgang den Gedanken, die Bühne als Bildungsanstalt zu benützen, und so auf die ästhetische Erziehung der Seebrucker zu wirken. In kurzer Zeit waren auch die nötigen Talente gewonnen und es fehlte bald nichts mehr als das Stück. Nun ging aber in der Gegend schon lange ein Gerücht, dass ein solches in dem benachbarten Höselwang zu finden sei, und so machten sich denn etliche von den Seebruckern auf und holten es im Triumph herüber. Aber auch die hohe Obrigkeit musste dem Vorhaben ihre Weihe geben, und da man den Herrn Landrichter von Trostberg zu Seon im Bade wusste, so zog eine Deputation an diesen Ort und brachte mündlich ihre Bitte vor. Der gemütliche Landrichter hörte sie lächelnd an, fragte nur, was etwa der geistliche Herr, des Dorfes Seelenhirt, dazu sage, und als die angehenden Mimen berichteten, dieser habe das Stück schon durchgelesen und nichts anstößiges darin gefunden, so sprach der kunstliebende Badegast: Geht nur hin und spielt; Wir werden eurer Vorstellung selbst beiwohnen!


Wie? was war das? ruft hier vielleicht ein ergrauter Registrator oder Kanzleidirigent, der an die sieben und dreißig Bände der Döllingerschen Verordnungssammlung denkt — welches Benehmen in der Stellung eines königlich bayerischen Landrichters! Und alles so mündlich wie in der grauesten Urzeit, in den Tagen der Schachtelhalme und der Jchthyosaurier! wo bleibt da schriftliche Instruktion, Protokoll, abweisender Beschluss und Publikation desselben, Rekurs, Aktenvorlage, Regierungsentschließung, die durch ihre Weisheit imponiert, Eröffnung derselben, Nullitätsbeschwerde und Deservitenabstrich! wo bleibt die Strafe wegen ungebührlicher Schreibart? Welcher Schlendrian! Ach wie kahl wird nun die Welt, wie unerquicklich diese Übergangsperiode, bis einmal die Buchstabenschrift wieder in ihre geheiligten Rechte eingesetzt ist! Und wie leidet einstweilen der Dienst und das Amt und die Regierung und der Staat und das ganze königliche Haus!

In der Tat wurden diese Dinge in anderen Landgerichten auch viel gründlicher behandelt. Die Audorfer, früher für weltliche Stücke die ersten Histrionen des Hochlands, sie wissen wohl zu erzählen, wie oft ihnen in den letzten dreißig Jahren ihr „Gspiel“ erlaubt und verboten worden, und wie viel Schreiberei darüber ergangen ist, bis endlich der große Brand von 1857 die Bühne mit der kostbaren Garderobe und den Dekorationen und den Spielbüchern in Asche legte. Damals verbrannten nicht allein die Stücke, die sie selbst geschrieben, sondern auch Johanna von Montfaucon und Otto von Wittelsbach, ja sogar „Hamlet, Prinz von Denemarkt,“ und damit die lehrreiche Gelegenheit, zu untersuchen, wie sich der große Brite und sein Meisterwerk in den Köpfen der Inntaler Bauern zurecht gerichtet hatte. Die Bewohner von Kiefersfelden, in derselben Nachbarschaft, welche, wie ihr ältliches Schauspielhaus bezeugt, schon vor Jahren die dramatische Muse mit Eifer pflegten, sie kämpfen jetzt auch wieder um die langentzogene Erlaubnis, obschon sie aus ihren Leistungen gar keinen Vorteil ziehen, sondern die Überschüsse aus den Eintrittsgeldern zu einer Stiftung verwenden wollen, auf dass in der nahegelegenen Ottokapelle alle Jahre für das Seelenheil des ganzen Landgerichts eine heilige Messe gelesen werde! Die dortigen Liebhaber sind meistens Arbeiter im Eisenhammer, und es ist wirklich sehenswert, wie ihre, obwohl rußigen Gesichter zu leuchten beginnen, wenn man mit ihnen vom Theater zu sprechen anfängt und die Hoffnung äußert: es könnte vielleicht doch noch einmal die Zeit kommen, wo es wieder erlaubt würde.

Eine gewisse Bitterkeit erregt es in den Herzen des bayerischen Inntals immerhin, dass im tirolischen, bei Kufstein, in der Thiersee, in Erl, in Sewi und allenthalben gespielt werden darf. Die bayerische Obrigkeit, indem sie den Hirten des Hochlands mit ihrem Rosenfinger den theatralischen Mund verschließt, beteuert zwar, es geschehe nur, um sie vor unnützen Ausgaben und den Verführungen der Leichtfertigkeit zu bewahren, allein ihre Maßregeln haben, wie dies mitunter bei jeder guten Regierung vorkommt, gerade die entgegengesetzte Wirkung. „Dass jetzt wir nicht spielen dürfen,“ sagte jüngst ganz grämlich der würdige Vorsteher eines bayerischen Grenzdorfes, „und in Tirol, da schlagen sie überall ihre Theater auf! Da hat man schon die Zeit nicht, solche Sachen zu verbieten. Wenn die Herren in der Stadt etwa hoffen, dass sich ihnen zu Lieb der Bauer sein schönstes Sonntagspläsier abgewöhnt, da dürfen sie noch lange warten. Jetzt lauft und fahrt an Sonn- und Feiertagen alles ins Tirol hinein, zecht in dem teueren Tirolerwein, lebt in der größten Lustbarkeit, und kommt in der finstern Nacht mit leerem Beutel und paarweise wieder heim — alles von derowegen, weil unser Gspiel dahier der Sparsamkeit und den guten Sitten schaden könnte! Hätten wir unser Theater im Dorf, dann blieben die ledigen Leute daheim, und wir könnten selber auf sie Obacht geben!“ Der Vorsteher meinte dabei, es sei ohnedem längst ausgemacht, dass die bayerischen Bühnen die bessern Stücke hätten, und erzählte nebenher zum Beispiel: auf einem tirolischen Theater hätten sie eine Art von Passionsspiel aufgeführt, und da habe der kohlschwarze Teufel mit dem Judas ein Protokoll auf Stempelbogen aufgenommen, dass dieser ihm seine Seele verschreibe (scheint eine feine Ironie auf die gerichtliche Umständlichkeit), und dann als der Verräter vom Baum gefallen und ihm der Wanst geborsten, sei ein ganzes Gequirl von schmackhaften Würstchen — seine Eingeweide vorstellend — herausgequollen, welche dann die jungen Teufelchen sofort unter furchtbarem Halloh des hingerissenen Publikums verzehrt. „Das wäre bei uns doch nicht mehr möglich,“ sagte der Vorsteher mit einem gewissen bayerischen Geisteshochmut, während wieder andere in jenen Zügen gerade die liebenswürdigen Reste mittelalterlichen Volkshumors erblickt haben sollen. Woher dieser unüberwindliche Hang zum Schauspiel stamme, wollen wir hier nicht untersuchen,*) aber uns gleichwohl die Meinung erlauben, dass er, abgesehen von der persönlichen Freiheit, die in konstitutionellen Staaten doch auch ein bißchen Achtung verdient, viel mehr Nutzen als Schaden bringt. Es ist ein Trieb zur Bildung, der gewiß begünstigt werden darf. Für die Welt lernen die Leutchen zu wenig, für ihr Dörflein, wenn nicht zu viel, doch mehr als sie verwenden und erhalten können. Da tritt nun das Theater helfend ein als lebenslängliche Feiertagsschule; sie üben sich wieder im Lesen und Schreiben, Singen und Dichten, und ihr Geist, der sich doch zur Indolenz hinneigt, bleibt in erfrischender Bewegung.

*) Dr. Hollands schönes Büchlein über das deutsche Theater im Mittelalter und das Ammergauer Spiel (München 1861) teilt hierüber manches Lehrreiche mit.

Nachdem also den Seebruckern ihr Gespiel erlaubt war, so ging „die heilige Genofeva“ am Sonnabend, den 3. August, auch wirklich über die Bretter. Es sollte zunächst eine Vorstellung für das Dorf und die Badegäste von Seon sein, denn der Zufluss der weiteren Nachbarschaft wurde erst für den darauffolgenden Sonntag erwartet. Da jedoch ein starkes Gewitter eingefallen war, so blieben die Seoner leider aus; der Saal hatte demnach außer den Gästen des Wirts nur die Dorfleute aufzunehmen und war wenigstens nicht überfüllt.

Der Text der heiligen Genofeva war also in dem nahen Höselwang geholt worden, aber nach dem Verfasser hatte man nicht gefragt, und es wußte ihn niemand zu nennen. Wahrscheinlich ist's ein junger Ackersmann, der Morgens mit dem Pflug zu Felde geht und nur „des Abends auf den Helikon;“ denn die Bacherl kommen bei uns nicht blos unter den Dorfschullehrern vor, sondern reichen bis unter die Bauernknechte herab. Es ist eine Frage, ob der Dichter auch nur eine wandernde Truppe je spielend gesehen, wie denn selbst von dem Seebrucker Personal nur ein einziger einmal zu Traunstein dieses Glück genossen. Auf jene Frage führt übrigens die so zu sagen zyklopische Haltung seines Werks, welches so viele Unbeholfenheiten und Naivitäten enthält, dass es schon deswegen interessant ist. Im ganzen liegt das Genofevabüchlein des Verfassers der Ostereier zu Grunde, und wo dasselbe Zwiegespräche oder Monologe enthält, fährt unser Dichter auch ganz sicher und behaglich dahin, obwohl er notwendigerweise vielfache Abkürzungen eintreten ließ — wenn aber das Büchlein die dramatische Form verlässt, so ist unser Landmann in sichtlicher Verlegenheit und hilft sich bestmöglich ohne Worte durch. Hievon gibt gleich der Anfang ein gutes Beispiel. „Siegfried und Genofeva,“ heißt es nämlich in der Erzählung, „lebten in der seligsten Eintracht. Eines Abends spät nach Tische, da man schon das Licht angezündet hatte, saßen beide vergnügt in dem gewöhnlichen Wohnzimmer. Genofeva sang und spann, und Siegfried begleitete ihren Gesang mit der Laute.“ Als Schilderung dieser glücklichen Häuslichkeit sehen wir nun, nachdem der Vorhang aufgerollt, die beiden Gatten „im gewöhnlichen Wohnzimmer“ an einem Tischlein sitzen, sie mit dem Spinnrade, ihn mit untergeschlagenen Beinen, doch ohne Laute. Es steht eine Flasche Wein zwischen ihnen, nach der Etikette zu schließen: Forster Riesling von Weinwirt J. B. Michel in München. Der Graf füllt die Gläser, und sie stoßen ohne ein Wörtchen zu sagen an, messen sich aber allerdings mit bedeutsamen Blicken. Nach diesem beginnen sie ein häusliches Duett zu singen, bei dessen Ende schon der Bote hereintritt, der den Grafen zum Kriegszug gegen die Mohren ladet. Dieser hat kaum Abschied genommen und die Wohnstube verlassen, als Golo mit seinen „schändlichen Anträgen“ hervorkommt. Das Büchlein gibt weiter keine Worte an die Hand, und der Dichter muss daher selber sprechen. Für Golos sündhafte Begierden bringt er auch noch einen ganz anständigen Satz auf, aber Genofeva findet keinen Ausdruck mehr für ihre Tugend. Um nicht reden zu müssen, gibt sie ihm einen stummen Schlag ins Gesicht, er geht mit einer kurzen Drohung ab, und damit ist der Knoten geschürzt. Die Pfalzgräfin entschließt sich nun unverweilt an ihren Gatten zu schreiben und beginnt: Lieber Siegfried! Obgleich Du mir auf verschiedene Briefe, die ich an Dich gerichtet, bisher noch keine Antwort gegeben hast usw. Der Dichter hat nämlich die spätere Bemerkung des Büchleins, dass Golo alle Briefe der Gräfin an den Grafen und umgekehrt unterschlagen habe, schon hieher verwendet, obschon Siegfried, wenn Genofeva zum Fenster hinaussehen wollte, sich gewiß noch im Burghof finden müsste. Jene Zeilen soll nun der getreue Drako besorgen, der aber vom hereinstürzenden Golo durchbohrt wird und sie sterbend auf den Boden fallen läßt. Das Schreiben bleibt nun noch sieben Jahre lang auf dem Boden liegen, bis es Siegfried bei seiner Rückkehr gewahrt, aufhebt und darin einen neuen Beweis der Unschuld seiner Gattin findet.

Der nächste Akt führt diese im Kerker vor. Sie deutet da auch beiläufig an, dass sie „in andern Umständen“ sei. Ein städtischer Dramatiker würde nun wohl die Verwirklichung dieses Winks in den Zwischenakt verlegen, aber der Dichter von Höselwang läßt seine Heldin einfach hinter die Kulisse treten und nach ein paar Sekunden mit einer Windelpuppe, die sie eben geboren, wieder hervorkommen. In unserer Metropole hätte diese Erscheinung wohl ein schallendes Gelächter hervorgerufen — aber die Landleute von Seebruck waren in so getragener Stimmung, dass sie niemanden auffiel. Derlei wunderliche Vorkommnisse waren aber noch mehrere hervorzuheben, doch übergehe ich sie lieber, um nicht zu lang zu werden.

Stehen nun diese Bauernspieler auch in den meisten Dingen hinter den dramatischen Künstlern der Stadt zurück, so sind sie ihnen doch darin voraus, dass sie keines Souffleurs bedürfen, denn ihr Gedächtniß scheint vortrefflich. Sonst werden ihre Leistungen allerdings nur im Licht eines ersten Versuchs zu betrachten sein. Die meisten spielten mit ägyptischer Steifheit; Bertha und Schmerzenreich, der ein Lammfell und eine langhaarige schwarze Perücke trug, sprachen jenen monotonen Diskant, welcher in den Landschulen für das Hersagen der bayerischen Geschichte eingeführt ist; mit Ausdruck und einigem Selbstvertrauen traten eigentlich nur Golo und der eine der Knechte auf, welche Genofeva morden sollen. Diese selbst genügte in den Elendszenen des Kerkers und der Wildnis, war aber schwach und fast gefühllos gegen das Ende, wo sich die Freude über die Rettung und die Leidenschaft ihrer Liebe zeigen sollte.

Nach der alten Tradition der geistlichen und der weltlichen Volksbühne ließ sich übrigens vor jedem Akt ein Chor vernehmen, der mit spröder Stimme eine Strophe absang, welche den Inhalt des kommenden Aufzugs ankündigte und besprach. Wer diese Vorworte gedichtet, vergaß ich leider zu fragen. Während des Gesangs war aber der Vorhang herabgelassen, so dass sein Schall nur aus dem Verborgenen kam. Die Sänger und die Sängerinnen hielten es nämlich, wie sie später erläuterten, für unschicklich, sich mit aufgesperrtem Mund vors Publikum zu stellen und dieses in ihren dunkeln Rachen und geheimnisvollen Schlund hinunterschauen zu lassen — eine unerklärliche Diskretion, welche übel angewendet fast unsere ganze Oper unmöglich machen würde. Dagegen fehlte die lustige Person, Hanswurst oder Kasperl, welche im Bauernspiel der Tiroler nie vermisst wird, an die aber unser Dichter, bei seiner Abneigung sich selbst vernehmen zu lassen, wohl kaum denken konnte.

Die Einrichtung der Bühne bot nichts auffallendes. Das „gewöhnliche Wohnzimmer“ war einfach gelb getüncht und durch einen gestreiften Vorhang rückwärts abgeschlossen. Wenn dieser aufgezogen, sah man in den Wald, der durch frische Tannenbüsche bezeichnet war. Einmal ging oben auch der Mond über die Bühne — ein ernsthaftes Antlitz aus Ölpapier, durch eine dahinter verborgene Lampe beleuchtet, welches an einem Bindfaden langsam vorüber gezogen wurde.

Als das Stück zu Ende war, entfernte sich das ländliche Publikum ohne zu klatschen und zu jubeln, welches durchaus gegen den Charakter des Volkes wäre, aber doch mit vollkommener Befriedigung, Wenn man die Einzelnen fragte, wie es ihnen gefallen, gaben sie wie mit Einer Stimme zur Antwort: Warum soll es uns nicht gefallen haben? wir haben nie was solches, nie was schöneres gesehen! Ihre innige Teilnahme hatte auch schon das Schluchzen bezeugt, welches sich bei den rührenden Stellen sehr vernehmlich erhob.

Der darauf folgende Sonntag war also der eigentliche Spieltag, der auch mit unermüdlichem Eifer ausgenutzt wurde. Genofeva hatte des Morgens kaum ihren frommen Gesang auf dem Kirchenchor beendet, als sie auch schon das weiße Gewand der Pfalzgräfin um sich schlug und die andern zur Eile drängte. Nach flüchtigem Mittagessen begann bereits um elf Uhr die erste Aufführung, die zunächst für die Kinder des Dorfes und der Umgebung bestimmt war. Hierauf folgte des Nachmittags die zweite, welche die Herren und Damen von Seon mit ihrem Besuch auszeichneten, und Abends endlich die dritte, bei welcher hauptsächlich die Landleute der Nachbarschaft vertreten waren. Wir hatten diesen Tag auf einem Ausflug nach Stein verbracht, erfuhren aber, als wir des Abends zurückgekehrt, dass alles wieder ganz gut abgelaufen und dass die Zuschauer, trotz der großen Hitze, die oben im Spielsaal geherrscht, sich doch sehr zufrieden und vergnügt gezeigt. Der ländliche Teil derselben blieb auch noch später beisammen und suchte seine Erquickung in Herrn Isaak Wellkammers großen Gastzimmern, die solchen Andrang kaum ganz fassen konnten. Die Helden und Heldinnen des Spiels hatten sich an einem langen Tisch zusammengesetzt und wurden von den andern nicht ohne eine gewisse Aufmerksamkeit betrachtet und behandelt. Sie selbst gaben sich sehr bescheiden, waren zum Teil noch ganz in sich versunken und erwachten erst allmälig für Gespräch und Unterhaltung. Als die Mitteilung lebendiger geworden, fing Golo, der Gemeindevorsteher, mit großem Lobe von den Verdiensten des Kommandanten zu reden an, von seinen Bemühungen, das Theater in Seebruck aufzubringen, und von seinen trefflichen Ratschlägen, welche über manche Verlegenheiten bei der Inszenierung hinweggeholfen hätten. Auch sonst, sprach Golo, indem er aufstand und die Stimme erhob, auch sonst sei er ein wahrer und herzlicher Freund der Gemeinde, der, ohne seiner Pflicht zu fehlen, alle Unannehmlichkeiten und Stänkereien zu vermeiden wisse, daher auch die allgemeine Achtung verdiene und genieße. Er schloss mit einem Hoch auf den Gefeierten, welches den lautesten Anklang fand. Hierauf der Commandant: Von seinen Bemühungen um das Theater wolle er nicht sprechen, denn sie seien kaum der Rede wert; aber es scheine ihm eine gute Stunde gewesen zu sein, als er nach mancherlei Umzügen im Lande Bayern endlich zu Seebruck einen entsprechenden Wirkungskreis gefunden. Der Beruf des Instituts, dem er anzugehören die Ehre habe, sei zwar ein schwieriger, aber unter so braven und redlichen Leuten, wie seine Seebrucker seien, könne er ein sehr leichter werden, und sich sogar, wie der eben vernommene Trinkspruch beweise, Anerkennung und Zuneigung erwerben. Je weniger Aufgaben die Gendarmerie zu lösen habe, desto glücklicher müsse sie sich fühlen. Dieses Glück sei aber nach seinen Erlebnissen ihm nirgends so sehr zur Seite gestanden, wie in Seebruck, und deswegen erlaube er sich ein dreifaches Hoch auszubringen auf diese biedere und ehrenwerte Gemeinde!

Ich gestehe, dass mir das Verhältnis; zwischen Gendarmerie und Volk nie in schönerer Wirklichkeit vor Augen getreten ist, als hier. Übrigens, sagte ich mir selbst, kann man sich in der Tat nicht mehr über mangelnden Fortschritt im Bauernstand beklagen, wenn jetzt die Gemeindevorsteher schon frisch und keck Toaste auf die Gendarmeriekommandanten ausbringen, während doch selbst höhere Staatsbeamten ihre Festreden noch abzulesen pflegen. Goethe gibt im Wilhelm Meister bekanntlich den Rat, dass jeder Mensch, um sich über dem Gemeinen zu erhalten, wenn es möglich zu machen, alle Tage wenigstens einige vernünftige Worte sprechen soll, und dieses Hausmittelchen schienen mir jedenfalls die beiden Redner im Dorfe Seebruck besser angewendet zu haben, als es vielleicht an manchem größeren Ort und Landgerichtssitz zu geschehen pflegt.

(Dem Herrn Kommandanten bin ich später wieder einmal begegnet, als wir beide auf dem Dampfboot über den Chiemsee fuhren, von Frauenwörth nach Seebruck. Ich war anfangs etwas zweifelhaft, ob ich mich über die Person nicht täusche und blieb daher vorerst als stiller Beobachter auf meinem Stuhl. Allmälig begann aber der andere, indem er auf mich herübersah, verschiedene „Schlauderwörtlein“ abzulassen, wie zum Beispiel: Ja, über die Gendarmerie schreibt jetzt so mancher, der es besser bleiben ließe. Ein Gendarm ist gar ein eigenes Gewächs! Nützen können ihm die wenigsten, aber schaden gar ein jeder! — Man kann sich denken, wie mir zu Mute wurde, da nun kein Zweifel mehr übrig war, dass ich erkannt und der Apostrophierte sei. — „Schönen guten Morgen, Herr Kommandant, sagte ich aber, und es freut mich, Sie wieder zu sehen, obgleich Sie etwas verstimmt scheinen.“ — Ja, ja, entgegnete er, ich kenne Sie schon noch, Herr Doktor, und habe mir schon längst vorgenommen, Ihnen die Meinung recht hinein zu sagen. Sie haben uns in eine schöne Patsche gebracht mit Ihrer Schreiberei! — „Wie? jene harmlosen Zeilen, so anerkennend, so wohlwollend.“ — Ja, wohlwollend! — Unsere Vorgesetzten haben das halt anders aufgefasst. Dienstwilligkeit und kleine Aushilfen, heißt es da in Ihrem Artikel (ursprünglich stand es nämlich in der Allgemeinen Zeitung) — kleine Aushilfen in Haus und Hof und Stall — das kann man gerade so verstehen, als hätten wir dem Metzger beim Kuttelfleckwaschen geholfen und der Köchin beim Abspülen. — „Das wäre aber ein sehr gesuchtes Missverständnis.“ — Ei, unsre Herren haben nicht lange gesucht und haben's doch gleich gefunden. Haben uns verantworten müssen, warum wir unsern Charakter so hintansetzen. — „O Himmel! — welches Unheil hat da mein guter Wille angestiftet.“ — Ja, so ist's und man sieht halt wieder, wer's nicht recht versteht, soll über einen Gensdarmen gar nichts schreiben. — Als der Kommandant diese Worte gesprochen und somit seine Seele erleichtert und sein Herz ausgeschüttet hatte, war auch die Verständigung nicht mehr ferne und wir stiegen zu Seebruck versöhnt ans Land. Seit der Zeit habe ich mir aber ganz fest vorgenommen, gar nichts mehr über die königliche Gendarmerie zu schreiben, was ich bisher auch gehalten habe.)

Nachdem ich aber damals bemerkt, dass da jedermann spreche, ergriff ich auch das Wort und hob hervor, wie sehr wir landliebenden Stadtleute überrascht gewesen, hier ein so ernstes Streben zu finden, einen so festen Vorsatz, dem deutschen Drama eine Stätte am schönen Chiemsee zu gründen. Ihr harmonisches Zusammenspiel habe uns überzeugt, dass ihnen die Worte des Dichters der Genofeva keine unverständlichen Laute geblieben. Das Theater sei übrigens, wie schon unser Lieblingsdichter dargetan, nicht ein leerer Zeitvertreib, sondern eine Stiftung, das Herz des Menschen zu bilden, und daher wohl berufen, Hand in Hand mit der Kirche zu gehen. Andererseits sei es auch eine Fortsetzung der Schule, indem es die Kenntnisse, die sie, die Seebrucker, dort errungen, zu erhalten und auszubilden allen Anlaß gebe, so dass sie fortschreitend allmälig mit dem besten und schönsten, was unsere Literatur erzeugt, sich bekannt machen würden. Einem solchen Beginnen müsse jeder Freund des Vaterlandes zustimmen, und zum Wahrzeichen unserer Zustimmung sei hiemit ein Hoch gebracht auf die Schaubühne von Seebruck!

Nicht ohne gehörigen Beifall ließ ich mich wieder nieder, jedoch fast zweifelnd, ob ich der Goetheschen Anforderung wohl eben so gut wie meine Vorredner entsprochen haben möchte. Nur dessen war ich sicher, dass ich meinen Spruch in einem ganz angenehmen, nach den besten Elementarbüchern orthoepisch [Orthoepie: Lehre von der richtigen Aussprache der Wörter] gebauten Hochdeutsch abgehalten, und nicht etwa, wie der sonst für die bayerische Muse sehr ein genommene Unbekannte neulich in einem Wiener Blatt andeuten wollte, in den ungezähmten Lauten des Isarwinkels oder der Holledau. Hat uns — nämlich einen gelehrten Allgäuer, der sich selbst verteidigen mag, und mich — hat uns der sonderbare Verehrer weiter nicht erschreckt, indem er jenem eine ,,raue oberschwäbische Mundart“ und mir gar ein „mastiges bojoarisches Idiom“ beilegte, während ich doch wegen meiner feinen Sprechweise im Zillertal schon vor zwanzig Jahren für einen Mecklenburger gehalten worden bin!*) Abgesehen davon hat man sich seit Einführung der Trinkberedsamkeit durch die beständig wiederholten Toaste bald auf „das einige Deutschland“, bald „auf Deutschlands Zukunft“ gerade in den schmelzenden Tonarten der Muttersprache dermaßen eingeübt, dass man von Buxtehude bis an den Meraner Küchelberg bei volkstümlichen Zweckessen und andern günstigen Gelegenheiten, wenn keine bessern Sprecher vorhanden sind, allenthalben als Not- und Hilfsredner auftreten könnte, ohne durch jene bedauerliche Makel sich und dem engern Vaterland einen Schimpf zuzuziehen.

Nachgerade fingen die Landleute auch zu singen an. Was singt der Bauer heutzutage am Chiemsee oder überhaupt in Oberbayern? Auf diese Frage werden die Kulturhistoriker viel weniger Antwort geben können, als man meint. Die Schnaderhüpfel gelten uns allen so sehr als alleiniger Ausdruck der Volkspoesie, dass sich eigentlich niemand um ihre anderweitigen Lieder und Gesänge viel gekümmert hat.**) Auch Lipowsky, in seinem gekrönten Schriftchen über das Landgericht Moosburg, erwähnt nur die erste Gattung. Es ist aber auch nicht so leicht, diesen Dichtungen beizukommen, denn wenn des Sonntags die wilden Bauernweisen durch die Wirtshausfenster schallen, wagen es zartere Gemüter selten, die rauhen Sänger zu stören, des Werktags aber sind die Liederkundigen in Feld und Wiese beschäftigt, deswegen schwer zu finden und nicht immer aufgelegt, ihre Gesänge anzugeben. Darum ist es höheren Orts vielleicht nicht einmal bekannt, dass sich ein kleines Lied vorfindet, zwar nicht hochpolitisch, aber doch beliebt, welches die Auswanderung nach Nordamerika besingt.***) Die Seebrucker sangen es noch am Anfang des Augusts 1861, obgleich schon damals die Ereignisse herankamen, welche unsern Ideologen die oft empfohlene Lehre: Nil admirari wiederholt einprägen konnten. Ferner sangen sie ein Eisenbahnlied und ein Telegraphenlied, welche beide sicherlich in der Gegend und zwar zur Zeit, als Eisenbahn und Telegraph im Bau waren, entstanden sind. Es geht ein satyrischer Zug durch beide, doch sind sie in Sinn und Reim so vernachlässigt, dass wir sie als Bereicherung unseres Liederschatzes nicht ansehen können. Später griffen die Sänger noch auf einige ältere, echte Bauernlieder zurück, die mir, wenn nicht das Beste, doch jedenfalls das Eigentümlichste des Repertoires zu sein schienen.****)

*) Siehe Drei Sommer in Tirol S. 554.

**) Doch teilt Freiherr v. Leoprechting in seinem Büchlein: Aus dem Lechrain achtzehn Nummern mit.

***) Es lautet:
Jetzt ist die harte Stunde da;
Jetzt reisen wir ins Nordamerika.
Unsre Wagen stehen vor der Tür;
Mit Weib und Kindern ziehen wir.
All' unsre Freunde weinen sehr;
Sie sehen uns ewig nimmermehr.
Jetzt steigen wir ins Schiff hinab;
Vielleicht ist das schon unser Grab.
Soll unser Tod im Meere sein.
So geben wir uns willig drein.
Wir scheuen keinen Wasserschwall
Und glauben, Gott ist überall.
Jetzt sind wir dort an jenem Ort;
Jetzt heben wir die Hand' empor
Und rufen aus: Vivat, vivat!
Jetzt sind wir in Amerika!

****) Namentlich eines, ein vielstrophiges, in folgendem Stil:

Was braucht man auf ein Bauerndorf?
Was braucht man auf ein Dorf?
Ein' Hund, der wacker billt,
Ein' Müller, der nicht stiehlt,
Ein' Kellnerin, die nit z'gscherzig ist,
Ein' Gockelhahn auf jedem Mist —
Das braucht man auf ein Bauerndorf,
Das braucht man auf ein Dorf.


Aber wie sehen denn die Leute, von denen du so lange plauderst, eigentlich aus? Sehr gut, sage ich, denn es ist ja bekannt, dass der altbayerische Bauer noch etwas auf seine Volks- oder Standestracht hält, und dass Männlein und Weiblein für ihr „Feiertaggewand“ nicht leicht etwas zu schön und zu teuer finden. Ferner ist der Stamm der Chiemgauer gut gebaut und kräftig, auch groß gewachsen, und es schadet ihm nicht, dass er fast ohne Ausnahme die Nase ziemlich lang trägt — eine Entdeckung, welche schon anderswo verzeichnet ist und vielleicht von bleibendem Wert sein dürfte. Übrigens sind die Männer so zu sagen fast schöner als ihr Gegenpart, denn unter den Gestalten der Jungfrauen findet sich wohl manche, welche man leidlich und angenehm nennen könnte, jedoch keine von jenem aphrodisischen Liebreiz, wie ihn so viele Tirolermädchen ganz ungezwungen mit auf die Welt bringen. Aber nicht etwa die Gemeinde Seebruck und ihre Nachbarschaft oder der Chiemgau allein leidet unter diesem empfindlichen Mangel, sondern überhaupt das ganze Oberland und all das bayerische Gebirge. Gewissenhafte Landgerichtspraktikanten, welche aus Liebe zur Wahrheit die Sache der gründlichsten Prüfung unterzogen, behaupten da wie dort: in ihrem ganzen Bezirke finde sich keine einzige Huldin, die den goldenen Apfel aufzuheben würdig wäre. (Und wirklich hat man auch in der Auswahl garstiger Kellnerinnen seit den letzten Jahren so riesige Fortschritte gemacht, dass eine Umkehr viel wünschenswerter scheint, als ein Weiterstreben auf dieser entsetzlichen Bahn.) Viele behaupten sogar nicht ohne einigen Schein: da alle Wohlgestalt nachgerade unter die Männer gegangen, so würden diese fürderhin „das schöne Geschlecht,“ so dass das andere nur „das schwache“ bliebe — fast zu wenig im Vergleich mit seiner bisherigen Stellung und seinen sonstigen Verdiensten. Die richtige Meinung ist aber wohl die, dass in einem sonst kerngesunden und wohlgeschlachten Volke die Schönheit periodisch wiederkehren müsse, wenn auch jetzt ihre Tage noch nicht so nahe sind, als manche wünschen. Es ist nämlich wohl der Erinnerung wert, dass die Jungfrauen, deren Geburt unter die nachwirkende Herrschaft des elfer Kometen fiel, sich in den dreißiger Jahren zu München durch jene himmlischen Reize hervortaten, welche wahrscheinlich noch in den Liedern fortleben würden, wenn wir damals schon so viele und so gute Poeten gehabt hätten, wie jetzt. Und wie gewaltiger Lärm war damals von den herrlichen Sennerinnen, den wildschönen Alpentöchtern, die im Gebirge ein schreckliches Spiel mit den städtischen Herzen treiben sollten, während es doch jetzt davon ganz ruhig ist. Wenn nun jene Meinung (und wer kann sie bestreiten?) sich bestätigen sollte, so mochten die Kometen, die sich in den letzten Jahren an unserm Abendhimmel zeigten, wahre Hoffnungssterne gewesen sein, und mancher Musensohn, der eben die Pandekten zu studieren beginnt und die Absicht hat, bei seiner einstigen Anstellung sich zu verehelichen, kann immer den Trost hinnehmen, dass er mit seinen „zärtlichsten Trieben“ auch noch in die gute Zeit fallen werde. Während wir solches sehnlichst wünschen, schließt sich aber dieses Kapitel, um dem nächsten, welches das vierte sein wird, Platz zu machen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderung im bayrischen Gebirge