Von München nach Reichenhall

Nachdem man doch einmal einigen Fleiß auf die Sache verwendet hat, ist das Gelüsten von Zeit zu Zeit wieder nachzusehen, alte, liebe Orte abermals zu besuchen, den ländlichen Freunden neuerdings die Hand zu schütteln, nachträglich ergänzende Notizen zu sammeln und den neuesten Bestand mit dem früher beschriebenen zu vergleichen — dieses Gelüsten, sag' ich, ist zur Sommerzeit ein angenehmer Stachel aus der Stadt zu gehen und glücklicher Weltvergessenheit im nahen Gebirge obzuliegen. Hinterdrein regt sich dann auch der Wunsch, das Gesehene und Gehörte reinlich niederzuschreiben und wohlwollenden Lesern darzulegen, woraus denn solche Schilderungen hervorgehen, wie die hier folgenden, deren erste eine kurze Wanderung von München nach Reichenhall besprechen, vielmehr sporadische Bemerkungen darüber mitteilen soll. Über den Weg bis Holzkirchen ist übrigens nicht viel neues beizubringen, doch darf Deisenhofen, das Dorf, welches am Ende des langen Grünwalder Forstes liegt, jetzt nicht mehr mit Stillschweigen übergangen werden, denn seit dem Herbste 1861, wo dieses Büchleins erste Auflage vorbereitet wurde, ist ja in dem unscheinbaren Örtchen ein Phänomen ans Licht getreten, welches ein Pilgerziel für Tausende, ein Gegenstand der Unterhaltung für Hunderttausende geworden. Wer da als Reisender noch so ruhig am Wagenfenster saß und vielleicht gar nicht auf Beobachtungen ausging, dem musste an dieser Station doch auffallen, welch' große Menschenhaufen ausstiegen und frohen Mutes den Weg nach dem bescheidenen Dörflein einschlugen, welches unter Obstbäumen halb verborgen in dem nächsten Tälchen liegt. Hier lebte nämlich damals noch Frau Amalie Hohenester, aus dem berühmten Geschlechte der Nonnenmacher, welches in den Annalen der vormärzlichen Strafrechtspflege so oft genannt wird. Sie hatte wohl auch einmal den Spruch gehört, dass immer hunderttausend Gulden auf der Gasse lägen, wenn man sie nur aufzuheben wüsste, und hielt sich für gescheit genug, um wenigstens den Versuch zu wagen. Und siehe da! anfangs sehr leise, aber bald ganz laut und immer lauter verbreitete sich der Ruf, zu Deisenhofen sei eine natürliche Heilkünstlerin erstanden und habe bereits mehrere Kranke, unter andern einen vornehmen Grafen, den die Ärzte schon aufgegeben, vom Tode errettet. Nun begann der Zug der Leidenden von nah und fern und das Dörfchen und das Wirtshaus zu Ober-Haching, das am nächsten lag, früher beide so still, wurden nachgerade sehr lebendig und wimmelten von Menschen jeder Art. Die Doktorbäuerin, so wurde sie bald genannt, war in aller Leute Munde. Ihre Mittel schienen übrigens sehr einfach zu sein; sie pflegte ganze Körbe voll kräftiger Wiesenkräuter in großen Waschkesseln zu sieden und daraus verschiedene Tränke zu bereiten. Sehr angenehm war es für die Leidenden, dass sie nicht nach Deisenhofen zu reisen brauchten, denn Amalie erkannte ihre Krankheit schon aus einem bisschen Flüssigkeit, das man ihr von fern her zugeschickt. Nachdem sie scharf durch das Gläschen geschaut, wusste sie immer anzugeben, ob der Patient eine Pfarrersköchin oder ein Stellwagenkutscher, ob er eine rote Nase oder einen Kropf habe. Am meisten Vertrauen gewann dies Wesen bei der hohen Aristokratie und bei den Bauern, in welch' beiden Ständen noch immer am meisten Vorzeit steckt. Der gebildete Mittelstand lächelte und hielt sich ferne. Amalie ging bald auch in die Literatur über. Es erschien ein Schriftchen von einem Gläubigen, das ihre Methode rechtfertigte, mehrere aber, die gegen dieselbe polemisierten. Auch die Gerichte hatten viel mit ihr zu tun und verurteilten sie zu verschiedenen Malen, ohne dass sich ihr Ruf vermindert hätte. Einmal bei einer Verhandlung gestand sie zu, dass sie nach den Vorschriften „ägyptischer“ Bücher heile, welche sich seit Jahrhunderten in ihrer Familie erhalten. Vor anderthalb Jahren erhob sich aber die Wundertäterin mit ihrem ganzen Hauswesen und verließ das obskure Deisenhofen und erkaufte mit ihrem redlich erworbenen Vermögen das Bad Maria-Brunn bei Dachau, wo sie jetzt als „Badbesitzerin“ lebt und öfter in den Zeitungen von sich Meldung macht. Aber, ach, wie vergesslich ist die Welt! — so viel noch vor zwei Jahren von der Doktorbäuerin gesprochen wurde, so gehört sie doch jetzt schon bald zu den gefallenen und verschollenen Größen.

Beim schönen Markt Holzkirchen wollen wir aber doch auch des großen Brands gedenken, der im März 1861 diesen Ort betraf, und bei dem sich Herr Assessor Brockard von Miesbach durch seine energische Leitung so hervorgetan hat, hart kämpfend freilich mit dem Umstande, dass auf dieser trockenen Hochebene nicht einmal ein Bächlein seine Wellen zur Hilfe bietet, vielmehr in dem Flecken nur ein einziger erheblicher Brunnen sich findet, den vor Jahrhunderten ein Abt von Tegernsee hat graben lassen. Das Wasser wurde bei dieser Feuersnot in aller Eile auf der Eisenbahn von München herbeigeführt. Hier herum in der Nachbarschaft, ein paar Stunden vom Gebirge, dessen blaue Häupter fast in alle Fenster schauen, finden sich Dörfer, die jahraus jahrein, wie die Venezianer, von der Dachtraufe leben, welche sie in großen Zisternen sammeln.


Vagen, uraltes agilolfingisches Vagen, jenseits der Mangfall, mit den schönen Häusern in dem reichen Obstbaumschatten, an dem dunkeln Höhenzug, wo noch der hellgrüne Buchenwald die Stelle bezeichnet, auf welcher einst die weite Burg geprangt — mancherlei hab' ich in den letzten Monden über deine alte Ritterschaft in Kürze nachgelesen, ohne dass mein Geist jedoch zur Ruhe gekommen wäre. Es weiß zwar jetzt fast jeder Schriftgelehrter, dass die Vagana zu den fünf edelsten Hauswesen der Bojoarier gehört haben, weil sie als solche in den frühesten Gesetzen dieses Volks genannt sind und gewissermaßen die Standesherren in der ältesten Verfassungsurkunde Bojoariens bilden — aber wie sie zu dieser Ehre gekommen, ist fast noch so rätselhaft als zuvor. Doch meinen die meisten, jene fünf Familien seien alte Gaukönigsgeschlechter gewesen, die der neue Glanz der Agilolfinger in den Schatten gedrängt und zu Landsassen herabgewürdigt habe. Zu hoffen ist, dass unser Felix Dahn (Bild vorhanden), wenn er in seinen „Königen der Germanen“ endlich auch auf die Bojoarier gekommen, diesen alten Streit entscheiden und hinfüro den Zeitverderb der Forscher abschneiden werde. Wie reich aber wären die Germanen doch an unabhängigen Fürstengeschlechtern, wenn die Mediatisierungen nicht schon in so frühen Jahrhunderten, in der Wiege unserer Geschichte begonnen, wenn die uralten Häuser sich erhalten, und die jüngeren jene Selbständigkeit, die sie in den zahllosen Landesteilungen errungen, niemals wieder verloren hätten? Leicht ein Tausend edler Herrscher könnte heutiges Tags über Deutschland walten, alle gerecht und beharrlich, alle bemüht, ihre Völklein einig, mächtig, groß zu machen, und dabei unsterblich zu werden! Ist es nicht fast schmerzlich, dass wir uns jetzt mit zwei- oder dreiunddreißig begnügen müssen, da, wo ehemals solcher Reichtum, solche Fülle, solcher Überfluss gewesen! Mit einem wehmütigen Scheideblick auf die verschwundene Königspfalz fährt man weiter, und gerät bald an ein neues Gebäude, ausgezeichnet durch eine Stattlichkeit, wie sie das alte Schloss der Vagana vielleicht nie gezeigt. Es ist aber keine Hofburg, sondern eine Fabrik, gehört nicht den Gaukönigen an der Mangfall, sondern den hoffnungsreichen Aktionären in der Stadt; es gehen von da keine Mandate, Edikte, Leges aus, sondern Soda, Schwefelsäure, Guano und andere nützliche Erzeugnisse der chemischen Kunst, Aus diesem Hause mag in der Tat ein reicher Segen über die bayerische Landwirtschaft träufeln, wenn sie einmal ihre Augen noch schärfer als jetzt der Anstalt „auf dem Heufelde“ zuwendet, wo einst in mythischen Zeiten Herzog Theodor der Große von Bayern den noch größeren Dietrich von Bern aufs Haupt geschlagen, was immer noch durch keine Gedenktafel der Vergesslichkeit der Mitwelt entzogen ist. Ein schönes Freskogemälde dieser Befreiungsschlacht, an der Vorderseite des edlen Baues schicklich angebracht, würde allerdings jenen Zweck nicht minder gut erreichen und zugleich ein Beispiel sein, wie leicht sich auch jetzt wieder auf der bayerischen Heide, wie im alten Nürnberg, Kunst und Industrie begegnen. Rosenheim, das freundliche und schöne, blüht wirklich auf wie eine junge Rose. Ein mächtiger, stolzer Bahnhof ist der eigentliche Gärtner und Begießer dieser vielversprechenden Pflanze. An seinem Tisch ist offene Tafel für die halbe Welt. Hier erscheint der neugeborne Italiener, um sich unter uns Barbaren etwas auszupusten von seinem jungen Glück, hier kehrt der französische Apostel zu, der den östlichen Völkern unterm Druck jene Freiheit bringen will, wie sie sich der Cäsar an der Seine denkt, hier der treue, edle Magyare, wenn er aus Liebe zum historischen Recht nach Plon-Plon wallfahrtet. Es ist da in der Tat ein Menschengewühl, wie auf dem Boulevard von Sebastopol, im Sommer noch vermehrt durch Hunderte von Alpenfahrern und „Reisendinnen,“ welche bewundernd den erhabenen Wendelstein anstarren, der über dem lauten Leben sein Haupt gar still in den Himmel hebt. Selbst der große Venediger entgeht dem trunkenen Auge nicht, obwohl er, weiß von ewigem Schnee, tief drinnen im fernen Pinzgau steht. Auf allen Seiten bauen sie auch neue Häuser auf, und der Flecken ist schon längst eine Stadt geworden, obgleich er sich trotz Ringmauern und Toren nicht so heißen darf. Einstens soll ihm der vorvergangene Monarch freiwillig den höhern Titel angetragen, aber die Bürger diesen mit Ehrfurcht abgelehnt haben — jetzt, da sie von berechtigtem Selbstgefühl gehoben, sich ihn aus eigenem Antrieb ausgebeten, hat ihr Flehen keine Gewährung mehr gefunden. So zeigt sich auch an den Rosenheimern, wie wahr unser Liebling singt:

Was du von der Minute ausgeschlagen, gibt keine Ewigkeit zurück!

In dem Bahnhofe zu Rosenheim findet man übrigens ein neues Beispiel, wie schwer uns bescheidenen Altbayern der Glaube fällt, dass aus uns und unsern Schöpfungen je etwas großes werden könne. Auch dort legte nämlich der Meister die Erfrischungshalle nicht geräumiger an als die Herrenstüblein, die er etwa zu Neubeuern oder zu Reit im Winkl gesehen hatte. Wenn nun aber jetzt in diesen schönen Tagen die Züge von München, von Wien, von Innsbruck zusammentreffen, die Touristen von den Säulen des Herkules, von den britannischen Inseln, von den rhipäischen Gebirgen, von Colchis, vom Nil und vom Ätna, so stürzen sich — gelinde gesagt — fünfzig bis sechzig Personen an den kleinen schmalen Schenktisch und verlangen zu trinken. Innerhalb steht aber nur eine dicke Samaritanerin, die sich nicht zu helfen weiß. Mittlerweile fangen die Reisenden, welche sechs, sieben Mann hoch übereinander drängen, zu kreischen und zu schelten an. Die Glücklichen in der vordersten Reihe, welche ihr Bierglas und ihre Wurstsuppe errungen haben, beschütten, indem sie sich wieder herauswinden, die übrigen, die noch warten. Die Ungeduld und der Lärm werden immer größer. Die Madame, oder wie wir sie nennen wollen, verliert die Fassung. „Jetzt schreien s' wieder alle z'samm, jetzt versteht man gar nichts mehr,“ ruft sie in solchen schweren Augenblicken und legt die Hände verzweifelnd in den Schoß. Derweilen wird wieder zum Zug gerufen, und die Mehrzahl zieht schimpfend, aber ungelabt von dannen. „Das ist eine ungeschickte Einrichtung,“ sagte kopfschüttelnd ein Sachse, der neben mir stand. Leicht zufrieden, wie wir sind, plädierte ich für mein Vaterland, bezog mich auf die Schwäche der menschlichen Natur und die Unerreichbarkeit des Ideals, worauf aber jener: „Ne, mein Bester, das Ideal ist schon erreicht — kommen Sie nur auf unsern Bahnhof zu Riesa — dort ist eine lange Tafel mit hinreichenden Leuten aufgestellt, und wenn hundert zu trinken begehren, sind sie in drei Minuten bedient!“ Ich fühlte mich belehrt, wusste aber doch nicht recht, wie man in das kurze Zimmer jene lange Tafel stellen sollte.

(Mittlerweile hat die Erfrischungshalle eine bedeutende Erweiterung erfahren, so dass sie allerdings mit den Herrenstüblein zu Neubeuern oder Reit im Winkl nicht mehr verglichen werden kann. Aber der Schenktisch ist noch ungefähr derselbe, und wenn die Züge von München, Wien und Innsbruck zusammentreffen, so ist auch das Wirrsal noch ungefähr das nämliche — wird auch schwerlich geringer werden, wenn nicht, wie zu Riesa, lange Tafeln und hinreichende Leute aufgestellt werden.)

Nichtsdestoweniger blüht in Rosenheim mannigfacher Kunstfleiß, sowie ein reges Bestreben, der Menschheit wohltätig und sich selber nützlich zu werden. Die große Saline und das kräftige Mineralbad sind schon so bekannt, dass wir sie nicht weiter hervorzuheben brauchen. Auch die bedeutende Wasserkraft verspricht dem Ort ein dauerndes Gedeihen. Jetzt schon besteht eine Pulvermühle, eine Kunstmühle und eine Maschinenfabrik mit Hammerwerk und Schleife, welche von den Gebrüder Beilhack vor sechs Jahren erbaut worden ist. Fast ohne Geld, zumeist mit Gottvertrauen und zwei Arbeitern begannen sie das Geschäft, haben aber jetzt schon von den letztern achtzig, erfreuen sich des ehrenvollsten Leumunds, und kommen ihnen von allen Seiten Bestellungen zu. Es ist dieses Brüderpaar ein anmutiges Bild jener bescheidenen Tüchtigkeit, die man unter den Baiwaren so häufig findet, die aber oft, unbekannt und unbeachtet, im Schweiß des Angesichts selbst um mäßigen Erfolg zu ringen hat, weil sie sich nicht auf den Puff versteht.

Denkwürdig ist auch das schöne Unternehmen, welches die Rosenheimer vor wenigen Jahren mit vereinten Kräften ausgeführt haben. Sonst in allem genügsam, waren sie doch nicht mehr recht zufrieden mit der Geschichte des eigenen Vatermarkts, d. h. mit den Schriften, die bisher darüber erschienen sind; denn auch Landrichter Klöckls sonst unverwerfliches Büchlein dünkte ihnen veraltet und der wachsenden Bedeutung des Orts nicht mehr entsprechend. Je tiefer jedoch die Bürgerschaft diesen Übelstand empfand, desto emsiger sann sie nach, wie ihm etwa abzuhelfen wäre, und so verfiel sie bald auf den Gedanken, sich ihre Geschichte selber und mit den Mitteln der neueren Wissenschaft schreiben zu lassen. Mit Vergnügen gab die gebildete Kreisregierung dem Vorhaben und der „Ergötzlichkeit,“ welche Rosenheim dafür bestimmen wollte, ihre Genehmigung. So beriefen sie denn mit ehrenvoller Einladung einen jungen Geschichtsschreiber aus der Hauptstadt, Herrn Otto Titan von Hefner, und als dieser bereitwillig erschienen war („ein Historiker auf der Stör,“ könnte man nach bayerischer Mundart sagen), so schlossen sie ihm alle ihre Schriftenschätze und Urkunden auf und ermunterten ihn zum Werk. Und so entstand das anziehende Bild ihrer Gefahren, ihres Muts und ihrer patriotischen Hingebung, ihrer Frömmigkeit und ihres menschlichen Sinnes, der sich in wohltätigen Stiftungen ergoss, auch ihrer Freudigkeit und ihrer Feste, ihrer Rechte und löblichen Privilegien. Nicht minder wird in dem Buch der Römerzeit gedacht, wo das nahe Westerndorf (Pons Oeni), wie seine Scherbenfelder noch jetzt bezeugen, in der Verfertigung von Vasen groß, ja ein vindelicisches Cäre oder Vulci gewesen. Ferner wird neben manchen andern Dingen, welche wir hier übergehen müssen, auch Handel und Wandel und die eigentümliche Schifffahrt auf dem Inn besprochen, auf dem mächtigen Sprossen des hohen Rhätiens, der einst in Bayern ein eigentlicher Brot- und Weinstrom war, indem er das Getreide ins Gebirge, und, da sich noch nicht jeder Durst im braunen Bier ertränken mochte, die roten Feuertropfen aus Ungarn und aus Wälschland unserm biedern Volk zum Genuss herbeiführte. Seine Wogen gehen an vielen schönen Städten und vielen schönen Frauen vorüber, welch letzteres zwar auch in Rosenheim, jedoch noch mehr im tirolischen Inntal und weiter hinab gegen Passau und selbst bis Linz mit Vergnügen bemerkt wird. Es ist Schade, dass dieses Gewässer, dem es nicht an malerischen Ufern fehlt, die Dampfboote, die man ihm auflegen wollte, keineswegs ertragen hat, so dass jetzt nur zeitweise noch ein schweres Schleppschiff sich durch seine Wellen mühsam heraufarbeitet.

Ehemals bot es aber selbst den höchsten Potentaten eine erwünschte Fahrgelegenheit. So landeten z. B. im Jahre 1765 Kaiser Joseph II.(Bild vorhanden) und seine Gemahlin mit dem ganzen Hofstaat zu Rosenheim, um Mittag zu halten, wobei jedoch durch ausdrücklichen Befehl des Landesherrn jede „öffentliche Demonstration“ verboten war. Auch Maximilian Emmanuel, der abenteuerliche Kurfürst, stieg immer mit seinem Leibschiffmeister Hans Rieder zu Rosenheim ein, wenn er auf Heldentaten gen Ungarland und nach Belgrad fuhr. Jetzt gehen wohl noch manche Fahrzeuge den Strom hinunter, auch manche Schiffszüge hinauf, von starken Rossen gezogen, von waghalsigen Männern geleitet; doch ist auf dem Hufschlag (Leinpfad) schon lange nicht mehr das alte Leben, welches jetzt auch in der Zeit der Eisenbahnen kaum wieder erstehen wird. Die nautische Sprache der Innschiffer hat sich übrigens seit ältesten Zeiten ganz für sich und aus bestem deutschen Holz gebildet. Man hätte es zwar nicht denken sollen, dass schon so bald, nachdem die deutschen Regierungen unsere Flotte verschachert und uns zum Ersatz die Spielhöllen wieder geschenkt, von einer durch Privatkonzerte, Strohlotterien usw. zu errichtenden und allenfalls später durch den noch lebenden Hannibal Fischer zu versteigernden Seemacht die Rede sein würde; allein da es jetzt doch so gekommen, so wollen wir puristische Flottenfreunde gleichwohl aufmerksam machen, dass man auf dem Inn den Capitano Seßstaller und das Admiralschiff die Hohenau heißt, so wie auch, dass noch manche andere Ausdrücke hier zu finden wären, die man selbst im Jadebusen oder auf der Ostsee mit Nutzen verwenden könnte.

Im Allgemeinen sind Rosenheims Bürger mit dem Bild ihrer Taten und Leiden, welches Otto Titan von Hefner vor ihnen aufgerollt, zufrieden und finden den mit Holzschnitten reich verzierten Spiegel nicht nur getreu, sondern sogar ein wenig schmeichelhaft. Es tun sich in dem Heimatort Adelsreiters nur einzelne hervor, bei denen die Kritik an der Hand der Bildung, welche massenhaft hereindrängt, schon so scharf geworden, dass sie laut behaupten, die Geschichte von Rosenheim würde sich ganz anders ausnehmen, wenn man sie gleich einem Ranke oder Schlosser übertragen hätte. An unsern Ernest Geiß, an unsern Siegert scheinen sie nicht zu denken, und es ist dies nur ein neues Zeichen, wie tief, trotz des angeblichen Partikularismus, die Ausländerei schon bei uns eingedrungen ist. Prien, das freundliche Dorf, von Forst und Hügeln schön umgürtet, gewährt reizende Spaziergänge durch Wald und Heide. Viele lockt der nahe Ratzinger Berg, eine von jenen mäßigen Höhen, welche sich wie der Peißen-, der Tauben-, der Irschen-, der Hochberg als ein grünes Polster in die Ebene hineinlegen und mit einer großartigen Ansicht der Alpen zugleich auch einen reizenden und weithintragenden Blick über die Seen, die Wälder und Felder des flachen Landes gewähren. Gar nicht weit vom Orte trifft man auch die uralte Kirche von St. Salvator, wo nach dem Volksglauben die wanderlustigen Untersberger Männlein zuweilen nächtlichen Gottesdienst halten. Dort erquicken auch zwei neue Römerheilige das unbefangene Auge, von Herrn Echter, einem Schüler Kaulbachs (Bild vorhanden), gemalt, Sebastian, der Pestabwender, und Florian, der schützende Held in Feuersnot. In Endorf, der letzten Station vor Prien, haben die Landleute sogar ihre ganze Kirche im mittelalterlichen Stile renovieren lassen. Es ist erfreulich, dass die Münchener Kunst ihre Fäden immer mehr über das flache Land hinspinnt, und dass die Bauern in ihrem wachsenden Wohlstand derselben gern entgegenkommen. Die meisten unserer Dorfkirchen befinden sich durch die scheußlichen Bestrebungen der beiden letztvergangenen Jahrhunderte in einem Zustand, dass ein ästhetischer Sinn sie nur mit Wehmut, wenn nicht mit Widerwillen, betrachten kann. Und leider sind die Kirchen der Städte nicht viel besser daran. Es ist eine gute Einrichtung, dass Dissonanzen, falsche Zeichnung und schlechte Arbeit in den plastischen Künsten den Menschen nicht so rasch aufsprengen und in die Flucht treiben, wie die Dissonanzen, falschen Akkorde und schlechte Ausführung in der Musik, denn sonst wäre es fast unmöglich, den Zudrang der Gläubigen in unsern Gotteshäusern nur halbwegs zu erklären. Wollen wir hoffen, dass die edleren Gestalten, die jetzt allmählich an die Stelle der verzerrtesten Figuren treten, auch das Gemüt des Landvolks heben und veredeln. Wenn so ein unbezähmbarer Dachauer Raufer, der trotz der früher administrierten Prügel, trotz Gefängnisstrafe und Wirtshausverbot von seinem volkstümlichen Sonntagsvergnügen nicht lassen will, wenn ein solcher den feinen Leib des heiligen Sebastian von Echter beschaut, so könnte ihm vielleicht doch einmal der Gedanke kommen, wie sündhaft es sei, das schöne Ebenbild Gottes in besoffener Rohheit um Aug' und Ohr und Nase zu bringen, ihm die Finger zu zerbrechen und Arm oder Bein abzuschlagen.

Der Bahnhof zu Prien hat übrigens eine etwas schalkhafte Natur, vor der wir warnen zu dürfen glauben. Freundlich lassen die Leiter des Zugs die harmlosen Fremdlinge aussteigen und rufen ihnen traulich zu: Erquicket und labet euch! Mitunter aber setzt sich ohne ein Zeichen, einen Ruf oder Pfiff die Maschine plötzlich in Bewegung, und enteilt mit dem Zug, noch lange verfolgt von den Wehrufen und Verwünschungen derer, die sie zurücklassen. Wer erinnert sich nicht an den melancholischen Fall, als am 12, Mai 1861 auch zwei angesehene Herren aus Tirol zur Stelle waren, ein geistlicher und ein weltlicher, vielleicht gar ein Reichsrat, welche sich in die nächste Nähe zerstreut hatten, und plötzlich mit peinlichster Überraschung die Lokomotive ohne allen Abschiedsgruß davonjagen sahen. Der eine Herr, der weltliche, sprang zwar noch auf Leben und Tod in einen Packwagen hinein, der andere, der geistliche, welcher von seinen beiden Beinen weder das linke noch das rechte riskieren wollte, blieb zurück, machte noch eine sprechende Gebärde, und begab sich dann, aufrecht erhalten durch die Tröstungen der Philosophie, ins Wirtshaus, wo er nicht weniger von der Freundlichkeit der Bedienung, als von der Bildung der dort versammelten Honoratioren überrascht war. Teilnahmsvoll sagten ihm die Eingebornen, dass sie an den Anblick Zurückgebliebener schon gewöhnt seien, da dieses unabwendbare Missgeschick nicht gar selten hereinbreche. Und auch am 23. Juli so eben, als ich in dritter Klasse fuhr, da ich wie Herzog Ludwig zu Giengen „unter meinem Volk“ sein wollte, und vor der geschlossenen Wagentüre stand, ging der Zug urplötzlich unter meinen Händen durch, so dass der nächstgelegene Kondukteur nicht einmal die Türe mehr öffnen, sondern mir nur zuschreien konnte, mich zu retten wie ich könne. Worauf ich denn nachlaufend noch zufällig ein anderes Pförtchen offen und dort auch den besagten Kondukteur wieder fand, welcher mir auf die Bemerkung, dass ich mich diesmal über solche Manier gleichwohl beschweren werde, den freundlichen Rat erteilte: ich solle lieber der Vorsehung danken, dass ich nach allem diesem noch meine geraden Glieder habe. Wünschenswert wäre es aber gleichwohl, dass eine Methode erdacht würde, um künftig auch auf der Station zu Prien (nach einigen, aber wenigen der Hauptsitz der alten Horazischen Breuni oder der Breonenser) eine halbe Minute vor Abgang ein Warnungszeichen zu geben — eine Rücksicht, welche, wenn auch nicht die Einheimischen, so doch die fremden Reisenden zu verdienen scheinen. (Eisenbahnbild vorhanden)Auffallend ist es immerhin, dass unsere Oberkondukteure, obgleich die wenigsten studiert haben, doch nicht praktischer sind. Manchmal scheint dieser Zug zwar auch noch höher hinaufzusteigen, wie man denn bei der großen Eröffnungsfahrt nach Wien im Jahre 1861 zwar eine vollständige Sammlung der wichtigsten Bureaukraten, Diplomaten und Postbeamten hinunterschickte, dafür aber die berühmten Pfleger der Wissenschaft, die Münchener Mitglieder der Wiener Akademie, die österreichischen Künstler, die mit Zelebrität in München leben, und andere literarische Männer, die im Nachbarlande sehr gut bekannt sind, in Vergessenheit ließ, während man ihre Namen, wenn man sie nicht selber wusste, bei gebildeten Leuten leicht hätte erfragen können. Bei solchen Gelegenheiten fühlt man noch heut zu Tage sehr kräftig, dass wir in einem agricolen Lande leben, und dass die aus dem Nährstande hervorgehende Bureaukratie oder wenigstens ein ziemlicher Teil derselben, unsre „höhern Güter,“ wie Kunst, Wissenschaft, Literatur, immer noch als Dinge betrachtet, welche ins alte echte Bayerland gar nicht herein gehören. Es ist daher Pflicht, stetig darauf hinzudeuten, dass die Repräsentation einer Hauptstadt nicht in einem lebendigen Auszug aus dem Staatshandbuche besteht, sondern eher aus jenen Leuten, welche sich unabhängig davon einen Namen erworben haben. Wie ein gebildeter Fremder, der nach München kommt, zuerst nicht nach unsern Bezirksgerichts-Akten, Regierungsblättern und Verordnungssammlungen fragt, sondern nach Kunstschätzen, Ateliers, Theater, Konzerten usw., so wird man auch, wenn man in andern Städten derlei Festzüge mustert, zunächst nicht nach dem Registrator V**, nach dem Sekretär W**, nach dem Assessor X**, auch nicht, wenn sie sonst nichts weiter sind, nach dem Kollegialrat N** und dem Direktor Z** sich erkundigen, sondern nach Künstlern, Gelehrten, Dichtern usw. Das wollen aber jene Leutchen nicht begreifen, weil sie immer glauben, dass die ganze Welt sich nur um ihren Angel dreht.

Während wir aber so dahinrollen, wo Hohenaschau, die alte Feste, so nahe, könnte uns der verstorbene Archivar von Huschberg, wenn er noch lebte und mit uns führe, eine schöne Historie von Pankraz von Freiberg erzählen, welche ich neulich in seiner Geschichte der Grafen von Ortenburg gelesen und nun statt seiner vortragen werde.

Die Freiberger, ursprünglich aus Graubünden und nach den waghalsigen Genealogen des sechzehnten Jahrhunderts sogar von einem der Curiatier, welche mit den Horatiern kämpften, stammend, hatten schon im vierzehnten Jahrhundert jene Burg erheiratet und lebten dort mehrere Menschenalter still und gemütlich dahin. Aber in den Zeiten der Kirchenverbesserung kam eine Unruhe unter das Geschlecht und es erhob sich allmählich viel Redens von ihm. Gern erzählen die Geschichtsschreiber jener Tage, was namentlich Pankraz von Freiberg zu Hohenaschau und Wildenwart für ein männlicher Held gewesen. Pankraz von Freiberg, sagt z. B. Wigulens von Hund, sein körniger Zeitgenosse, im bayerischen Stammbuch, hat etlich ehrlich Züg getan nach der Provinz in Frankreich oder Delphinat und Italiam, mit Herrn Caspar von Fraunsperg, der ihn lieb gehabt und ein Schwester verheiraten wollen, so hernach erblindet. War Pfleger zu Aibling Anno 1546 oder 1547, darnach Herzog Albrechts Cammerrath zu München; nach demselben Hofmarschall, davon er letztlich widerwärtiger Religion halber mit etwas Ungnaden wider heimkommen. Ein geschickter, ernstlicher, fleißiger und arbeitsamer Mann, der außerhalb der Religion seinem Herren und dem Hof sonst wohl angestanden. Dieser kauft von Wolfen Hofer die Herrschaft Wildenwart — — — Item er hat an Aschaw vil gebawt, auch zu beiden Herrschaften vil kauft und daran gebessert, bis ihn das Podagra, dass er vil Jahr gehabt, Anno 1565 gar hingerichtet.

Aber, obwohl Pankraz von Freiberg ein so männlicher Held gewesen,*) so wäre ihm doch eines Tages der Mut bald ganz verfallen. Der gefährliche Hang zum Bücherlesen, dessen sich doch jetzt der gemeine Landadel aus Fürsichtigkeit zumeist entschlagen, dieser Hang hatte nämlich Pankrazen unvermerkt, aber immer tiefer in die Ketzerei hineingeführt. Nun begab es sich im Jahre 1564, dass Herzog Albrecht alle seine Räte und adeligen Landherrn nach München berief, um über die Neugesinnten, den Grafen Joachim von Ortenburg und seine Freunde, darunter auch den Herrn von Freiberg, ein Urteil zu sprechen. Diesen wollte aber bedünken, als wenn dasselbe nicht bloß beschwerlich, sondern etwa auch für Freiheit und Leben hinderlich werden könnte. Pankraz, der selbiger Zeit als ein Gast zu München war, erhielt überdies eine namenlose Mahnung, sich ohne Verzug in Sicherheit zu bringen.

*) Dass er auch mit den Alten wohl vertraut war, zeigen die Namen, die er seinen Söhnen gab, wie Alexander, Vespasianus, Julius, Octavianus. Neben diesen klassischen liebte der bayerische Adel damaliger Zeit auch noch die Namen der deutschen Heldensage, wie Wolfdietrich, Wigalois (Wiguleus), Parcifal, Tristram, Gramoslantz, und für die Frauen Melusine, Sigaun, Isolde usw. — ein Zeichen, dass die alten Mähren noch wohl bekannt und beliebt waren.

Er eilte heimlich und allein nach Aschau, aber ein Bote des Herzogs erreichte ihn noch, als er schon fast zu Hause war, und lud ihn gen Hof. Er würde, ließ er ängstlich sagen, seiner herzoglichen Gnaden demnächst zu Diensten sein. Als er nun einritt in seine Burg, zerstört und voll Gram und Schmerz, lief ihm, wie der Pfleger von Markwartstein berichtet, „sein Dienstpueb mit abgeblöstem Haupt und gezogenen Knien entgegen und hieß seinen gnädigen Herrn gottwillkumm, worauf dieser aber mit zährenden Augen geantwurtet: Setz auf, mein Herrlichkeit ist aus und der deinen gleich! worüber der Pueb nicht wenig erstaunte.“

In der Nacht aber verließ Pankraz die Burg und ging mit seinen beiden Söhnen flüchtig in den Sacheranger Urwald, wogegen seine wackre Hausfrau der Dinge gewärtig auf dem Schlosse blieb. Unverzüglich aber erschien ein neuer Bote, der wiederholte Ladung und die Zusage freien Geleites brachte. Also ritt Pankraz auf dieses hin gen München. Dort traf er seine Freunde Hieronymus von Seiboldsdorf, Hans Christoph von Baumgarten, Mathias Pelkofen und Wolf Dietrich zu Maxelrain, den Reformator von Miesbach, welche alle gleich ihm ihres Glaubens halber zitiert waren. Graf Joachim zu Ortenburg, wegen dessen eigentlich die Versammlung ausgeschrieben war, erschien jedoch nicht, hatte vielmehr eine Freistätte bei dem Pfalzgrafen zu Neuburg gefunden. Pankraz von Freiberg aber sprach treu und mutig für den abwesenden Freund und führte unerschrocken seine Verteidigung. Auch hatte er einen Vertrauten zu München, der ihm viele geheime Botschaften mitgeteilt, und man hätte gar gerne erfahren, wer denn dieser Heimliche sei. Aber selbst als der Herzog immer tiefer in ihn dringen ließ und die Nennung jenes Namens gebieterisch forderte, gab der Freiberger dennoch zur Antwort: Er tue es nicht und wenn's ans Leben ginge; besser ehrlich gestorben, als unehrlich gelebt. Da ließ man ihn und begann seine Treue hoch zu achten. Diese glänzende Versammlung der bayerischen Landherrn löste sich damals ohne erheblichen Verdruß. Alle die Angeschuldigten erhielten vom Herzog die Bewilligung zur Ausübung der evangelischen Religion, und sie mussten sich nur verpflichten, nichts feindliches gegen die Landeskirche zu unternehmen. Später nahm man sie allerdings etwas schärfer her, und zuletzt hörte bekanntlich die Duldung, die man in der Not der Zeiten gewährt hatte, wieder gänzlich auf.

Indem wir nun auch, obwohl in einiger Entfernung, an dem Schloß von Markwartstein vorüberfahren, will ich nicht verschweigen, wie es mir mit dem dortigen Schullehrer ergangen, als wir jüngst beim Abendtrunk einander gegenüber saßen. Damals war nämlich die Rede von jener alten Burg und ich hätte gerne vernommen, was etwa noch von der alten Mähre, die um sie spielt, im Volke sich erhalten habe. Der Lehrer behauptete nun, das Volk sei in diesem Stück ganz gut unterrichtet, worauf ich freudig bat, mir die umlaufende Fassung der Sage mitzuteilen. Hierauf schmunzelte er und meinte etwas listig, es wäre ihm wohl lieber, wenn ich vorausginge und zuerst erzählte, wie mir die Geschichte berichtet sei. In meiner Gutmütigkeit ließ ich mich auch darauf ein und trug vor, wie der leichtsinnige Herr Markwart von Markwartstein (so steht's nämlich in den boischen Monumenten*) das leichtsinnige Fräulein Adelheid von Frontenhausen entführte und sie zu einem Weibe nahm, und wie im dritten Monat seiner Flitterwochen die beiden Sohne einer vornehmen Witwe, mit welcher er früher zusammengehalten, den Ritter, ihrer Mutter zur Rache, im Walde ermordeten, und dieser dann sterbend seiner jungen Gattin auftrug, St. Margarethen zu Ehren das Kloster Baumburg zu gründen.

*) Siehe Bayrisches Hochland S. 308.

Als ich aber geendet, wurde der Schullehrer ganz lachend und rief: Da fehlt's bedeutend, lieber Herr, und die Hauptstücke sind grundfalsch! — Was! sagte ich, grundfalsch? es ist ja die alte Erzählung. — Ja, wer wird sich denn, sprach der Gegner, um solche alte Erzählungen kümmern? da gibt es ja eine viel neuere und bessere! (Ich war ganz auseinander, da ich nun noch beweisen sollte, dass die alte Erzählung, die der Mönch des zwölften Jahrhunderts schriftlich hinterlassen, verlässiger sei, als die neuen, was ich aber gar nicht unternahm). Nu, und wie lautet denn die neuere und bessere? fragte ich ärgerlich. Was, rief der Schullehrer, die kennen Sie nicht? (Jetzt hätte ich die auch wieder kennen sollen!) Nein, sagte ich aufgebracht, bei den Gebeinen der schönen Adelheid, ich kenne sie nicht! Nun gut, sprach der Lehrer mit dem ruhigen Ausdruck literarischer Überlegenheit, wenn Sie sie nicht kennen, hier will ich sie Ihnen zeigen und mitteilen. Indem er so redete, nahm er aber seine Brieftasche heraus, öffnete sie und enthob derselben eine nicht gar alte Nummer des Traunsteiner Wochenblattes. In dieser war nun wirklich eine Romanze zu lesen, welche die Sage von Markwart und Adelheiden in zierliche Reime gebracht. Der ländliche Dichter hat sich aber mit eigentümlicher Freiheit herausgenommen, die Söhne der vornehmen Witwe auch zu Markwarts Söhnen zu machen, und Adelheid stiftet statt des Klosters Baumburg die weithin gesehene und weltbekannte Schnappenkapelle, welche hoch oben am Hochgern dicht über Markwartstein noch heutiges Tages zu finden ist. Ich las und las und nachdem ich gelesen, schüttelte ich bedenklich das Haupt. Dieser sonst gute Poet, sagte ich endlich, entzieht ja dem Kloster Baumburg seinen glorreichen Ursprung und oktroyiert denselben der Schnappenkapelle ! — Ei was! sagte der Lehrer, für uns Markwartsteiner ist's jedenfalls viel interessanter, wenn die schöne Adelheid die Schnappenkapelle gründet — was geht uns denn das Kloster Baumburg an? ist so längst aufgehoben. — Und die Söhne der Witwe, rügte ich ferner, sind hier ja Vatermörder geworden! — Das gefällt mir auch viel besser, sagte der schreckliche Lehrer, wenn die Söhne ihren Vater umbringen; das ist viel poetischer! — Mit einem Wort, meine Reden fielen alle zu Boden und es gelang mir nicht, den Pädagogen an seiner Traunsteiner Romanze irre zu machen. Er aber verbreitet sie nunmehr weiter unter seine Schulkinder und diese tragen sie wieder ins elterliche Haus und in wenigen Jahren wissen es die Landleute gar nicht mehr anders, als dass Frau Adelheid die Schnappenkapelle gestiftet und Herr Markwart von seinen eigenen Söhnen den Tod erlitten habe. Die Traunsteiner Dichter und alle übrigen mögen aber aus dieser Geschichte lernen, was für Wirrnis und Unheil entstehen kann, wenn sie die alten Sagen, welche mit der größten Treue und Ehrerbietung behandelt sein wollen, noch auszuschmücken und zu verschönern trachten. Zur Entschuldigung unsers landsmännischen Poeten kann man höchstens anführen, dass auch Eduard Duller, als er denselben Stoff in eine Ballade schlug, wenigstens in Betreff der Söhne schon auf jene neue Wendung verfallen ist.

Traunstein, die schöne Land- und Salinenstadt, kränkelt ein bischen, und gesteht es im Vertrauen auch gern ein, dass ihr die Eisenbahn mehr genommen als gegeben habe. Früher, als diese von München nur bis hieher reichte, sehr besucht und geräuschvoll, ist der Ort nunmehr ziemlich leer und stille geworden. Lediglich der schöne Weg über Inzell, der von anderer Seite nicht angegriffen werden kann, zieht noch manche wohlunterrichtete Fremde durch das Städtchen, während der große Haufe, ohne umzusehen, nach Reichenhall oder Salzburg weiter rollt. Vielleicht erweisen wir den Bewohnern Traunsteins, wo so viel Freundlichkeit und auch unter den Herren Beamten ungewöhnliche Eintracht herrscht, einen Gefallen, wenn wir erinnern, dass sie nach dem furchtbaren Brand, der die Stadt 1851 in Asche legte, auf einen großartigen Fremdenbesuch gerechnet und sich darnach eingerichtet haben. Gleichwohl ist das Städtchen leider in den wenigen Jahren seit seiner Wiedererstehung auswärts nicht bekannt und berühmt genug geworden, um jetzt auf seinen Lorbeeren ausruhen zu können. Es wäre aber in der Tat schade, wenn diese eleganten und doch billigen Gasthöfe, die nicht bloß bescheidenen Anforderungen genügen, aus der Erinnerung des Publikums entschwinden würden. Wer nur auf Landaufentalt bei guter Verpflegung, auf eine einfache Badekur ausgeht, wie z. B. mein alter freisinniger Freund Herr W. Sch., weiland Juwelier in der Weinstraße, der wird sich hier gar leicht behaglicher fühlen, als in dem Gedränge des teueren Reichenhall. (Bei einer spätern Anwesenheit bemerkten mir die Traunsteiner, sie kränkelten gar nicht und ließen sich vielmehr dem Publikum bestens empfehlen. Sie seien noch ebenso besucht, wie früher, aber mehr von stillen, innigen, poetischen Seelen, gerade solchen, denen ihr Weichbild früher zu geräuschvoll gewesen. Auch gibt man sich noch immer einige Mühe, das Städtchen recht komfortabel zu machen und in letzterer Zeit hat man sogar an Errichtung eines Lesezimmers gedacht, was einen bedeutenden Aufschwung des Traunsteiner Esprits kennzeichnet. Ein Lesezimmer bestand nämlich bisher nicht, weil die Exhalationen der Salzwässer eine geistige Genügsamkeit verbreiten, welche an den Münchner Lokalblättchen, der Illustrierten Zeitung und dem Kladderadatsch ihre vollkommene Befriedigung fand und Mitteilungen über Andres, was in den literarischen Kreisen sich regt, durch eine glückliche Intuition zu ersetzen wußte. Also geschah es, dass über sechzig Beamten, unter welchen auch viele Gebildete, trotz jener Entbehrung ganz behaglich dahin lebten, während man doch in Tölz, Fürstenfeldbruck und an andern kleineren Orten schon vor langen Jahren so weit gekommen war, dass man den Fremden an den vielen Regentagen, die sich einsfinden, auch einige von jenen ästhetischen Journalen reichen konnte, an welche sie sich in Ländern, die sich mehr auf Schöngeisterei verlegen, gewöhnt haben mochten.)

Der Hochberg bei Traunstein, nur etwa tausend Fuß über dem Tal erhaben, auch sehr leicht zu besteigen, ist bisher noch kaum besprochen worden, verdient aber endlich eine Erwähnung wegen seiner unermesslichen und doch so bequem zu genießenden Rundsicht. Sie geht weit hinein ins Salzkammergut und bis an den Böhmerwald und über die bayerische Ebene hinaus, hinaus in die ungeheure Ferne, bis wo Wald und Heide mit dem Himmel verschwimmen. Der Chiemsee liegt in ganzer Mächtigkeit zu Füßen ausgebreitet; leider dass keine weißen Segel die blaue Flut durchstreichen, dass vielmehr das große Gewässer so leblos und so öde ist.

Adelholzen, das freundliche Bad, will ich nicht erwähnen, ohne zugleich an die Bäder zu Rosenheim und zu Aibling zu erinnern. Obwohl an den letztern Orten schon die Gemahlinnen französischer Gesandten und die Vertreter auswärtiger Potentaten Herberge genommen, so rechnen diese drei Anstalten doch hauptsächlich auf die bürgerlichen Landeskinder. An ihren Mittagstischen erschallen die reinsten Klänge der ehrwürdigen bayerischen Mundart von München, Moosburg, Landshut und Ingolstadt, wie sie schon in der Schlacht bei Gamelsdorf gesprochen wurde. Die „Neuesten Nachrichten“ aus der Hauptstadt mit ihren Todesfällen, Anstellungen, Beförderungen usw. beherrschen das Gespräch. Man kritisiert hier lieber das Rindfleisch und den Kartoffelsalat als die neuen Leistungen in der bayerischen Geschichte. Die Preise sind billig, das Essen vaterländisch. Das deutlichste Streben nach bürgerlicher Eleganz scheint Herr Beutling zu Aibling an den Tag zu legen, welcher Unterstützung verdient, da er das Anwesen vor kurzem sehr hoch übernommen. Dort ist auch, nebenbei gesagt, ein „Hôtel Duschel“ erstanden, gewiss ein sehr reinliches und freundliches Wirtshaus, aber wozu denn diese moderne französische Etiquette in dem uralten, altbayerischen Aibling, wo sich selbst die Würdenträger durch die Einfachheit ihrer Manieren auszeichnen? Warum gibt man denn jetzt überhaupt in unserm Deutschland die poetischen alten Wappentiere, den goldenen Löwen, den schwarzen Adler, den roten Ochsen usw., warum gibt man diese Schilder, die durch Jahrhunderte unwandelbar hergehalten, hochmütig auf und beschert uns dafür die höchst uninteressanten Namen glücklicher Wirtssöhne oder spekulativer Oberkellner? Warum müssen wir nunmehr die Hotel Bauer, Müller, Fischer, Mayer, Maulik unserm Gedächtnis einprägen, um oft in wenigen Jahren zu erfahren, dass an die Stelle des ersten Niemand schon wieder ein zweiter oder dritter getreten? Fudge! O kehret doch, ihr ehrgeizigen Leute mit der Serviette unter dem Arm, o kehret lieber zu unsern historischen Bestien zurück, die uns viel kongenialer sind als eure eingebildete Wichtigkeit!

Wie niedlich und schön es am Miesenbach ist, will ich eigentlich gar nicht näher ausführen. Die schnöde Welt weiß noch lange nicht, wo dieser Bach sein Rinnsal hat, und ich mag's auch heute nicht verraten. Es ist immerhin ein Wunsch des zartern Gemüts, dass noch ein grüner Winkel gedacht werden könne, wo sie nicht alle hinlaufen mit Plaid und Krinoline, sondern nur diejenigen, „die noch etwas haben, was die andern nicht verstehen.“ Bei dem Schweigen, das ich mir auferlegt, will ich auch nicht veröffentlichen, wie sich die stille kleine Herberge im Wiesengrund nennt, wo man mit wackerem Abendimbiss, Trunk und trefflichem Lager noch um vierzig Kreuzer über Nacht bleiben kann. Frau Wirtin, sagte ich andern Morgens, ihr habt die seltene Gabe der Billigkeit, und bei euch ist alles proper und reinlich. Ihr solltet hier noch einen Gaden anbauen lassen mit fünfundzwanzig Gemächern, auf dass die Fremden kämen, und ihr ein schönes Geld löstet. Ach mein lieber Herr, entgegnete die Wirtin, viel stoischer als ich, was kümmert uns dieses lästige Landfahrervolk, das in der tiefen Nacht daherkommt, nach dem Bartscherer verlangt und seinen Tee haben will und ein Moorschlammbad und um drei Uhr in der Früh seine frischgebratenen Hühner und zu allen unrechten Zeiten das Unrechte und nur Zuckerwasser trinkt, beständig spöttelt und dann doch um alles knickt und schachert! — In diesen Worten liegt die Stärke und die Schwäche des oberbayerischen Wirtshauswesens. Wer die Landessitte einhält und nur das Herkömmliche zu den herkömmlichen Zeiten begehrt, ist gern gesehen und meistens befriedigend verpflegt — wer den Gastgeber und seine Gattin aus der Ordnung bringt und belästigt, den vermisst man lieber und wenn er noch so gut bezahlt. Letzteres ist übrigens ein Punkt, über welchen unsre werten Gäste aus dem deutschen Ausland überhaupt noch nicht zu festen Grundsätzen gekommen sind, denn während die einen der Wirtin oft mit prahlender Großherzigkeit zurufen: Wie können Sie dies so billig geben? — dafür dürfen Sie ja das Doppelte verlangen! — halten sich wieder andre, wie nordische Geheimräte, pommerische Dichterinnen, Nachkömmlinge alter Raubritter aus der Mark und ähnliche für die beständigen Zielscheiben abgefeimter Prellerei und fangen, wie die Engländer, überall schon vorher zu handeln an. Beide Manieren führen zu einer künstlichen Verteuerung. Denn im ersten Falle setzt die Wirtin die Preise hinauf, damit sie nicht durch ihre Niedrigkeit beleidigen und im zweiten verlangt sie mehr, damit sie wieder etwas nachlassen kann. Damit soll aber keineswegs gesagt sein, dass sich unter den Fremdlingen aus Norddeutschland nicht auch sehr liebenswürdige und verständige Leute finden, eine Anerkennung, welche in diesem Buche immer als stillschweigend wiederholt zu gelten hat, wenn wir uns hin und wieder über unsere Gäste eine gutmütige Heiterkeit erlauben. Unsere Absicht ist niemals sie zu verletzen, sondern nur ihnen mit Sanftmut zu zeigen, dass sie eben so gut ihre Schwächen haben wie wir.

Hinten am Miesenbach in der stillen Herberge, und zwar beim Abendtrunk, kam die Rede auch wieder auf den fabelhaften Tatzelwurm; der damalige Wirt, der seitdem leider gestorben, war ja eine der Hauptquellen über dieses Tier, da er einmal ein solches erschlagen haben wollte. Auch war ein junger Liebhaber zur Hand, der sich mit der Naturgeschichte desselben schon viel beschäftigt hatte und mir manche beachtenswerte Winke darüber zusteckte. Der Tatzelwurm ist unter verschiedenen Namen allenthalben im Gebirge bekannt und eigentlich eine Art Krokodil oder Lindwurm, dessen Hauch und Anpfiff giftig sind, so dass sich jedermann entsetzt, der ihm begegnet. Franz von Kobell hat in seinem Wildanger die Aufmerksamkeit der wissbegierigen Welt neuerdings auf dieses Untier gelenkt und auch jene merkwürdige Tafel mitgeteilt, welche auf einem Bildstöcklein bei Unken sich findet und darzustellen sucht, wie ein Bauer, von zwei Tatzelwürmern verfolgt, dem Tod verfällt. Dies ist fast einem urkundlichen Beweis über das Dasein des seltsamen Wurmes gleich zu achten, und die standhaften Aussagen glaubwürdiger Männer sind nebenbei auch nicht ganz zu übersehen. So will ich zum Beispiel keineswegs verschweigen, dass auch ein hochbetagter Forstmeister zu Reichenhall erzählt: es habe vor vielen Jahren ein ihm bekannter Jäger den Tatzelwurm erschossen, da er eben jenseits eines tiefen Grabens mit seinen Jungen spielte. Der Jäger habe seine Beute nach St. Peter zu Salzburg getragen und dort einen guten Freund getroffen, der ihm versprochen: er wolle ihm das Wundertier nach Wien versenden, wo es sicher fürstlich bezahlt werde. Allein der gute Freund habe sich später immerdar entschuldigt, dass er von Wien keine Antwort kriege, und so wisse man seitdem nicht, was aus der Sache geworden. Auch in der forellenreichen Einöde von Seehaus trifft man einen tapfern, im traurigen Krieg mit den Wildschützen erprobten Waidmann, der einmal vor fünfzehn Jahren dem grausen Phänomen gegenüberstand. Er schlenderte im Juli durch die nahe Urschlau, als er plötzlich etwas neben sich rascheln hörte. Es war ein Tatzelwurm, der sich um einen Baumstamm schmiegte und ihn mit giftigen Augen anstarrte. Der Waidmann fuhr überrascht zurück und ging, sorgsam umschauend, in den lichtern Wald hinaus, wo er bald einen Rehbock schoss. Dieses Glück erkräftigte ihn und mit neuem Mut schritt er nun wieder nach dem alten Platz, um den Kampf mit dem Drachen aufzunehmen, allein dieser hatte sich mittlerweile in seine Häuslichkeit zurückgezogen und war nicht mehr zu finden. Übrigens sei er vierthalb Fuß lang, schwarz und eidechsenartig gewesen, in der Dicke ungefähr „wie ein Bierkrügel.“ Füße habe er sechs gehabt, während ihm die gewöhnliche Meinung deren vier oder gar nur zwei beilegt. Man sieht aus allem diesem, dass der Tatzelwurm jetzt durch verlässige Zeugnisse schon dermaßen umgarnt und in die Enge getrieben ist, dass man ihn nur noch zu fangen braucht, um von seinem Dasein vollkommen überzeugt zu sein. Jüngere Naturforscher, die oft tatenlos aber ruhmesdurstig in den Kneipen umherliegen, könnten sich durch solchen Fang ein neues Verdienst um die deutsche Wissenschaft erwerben. Und selbst klingende Prämien sind den glücklichen Findern des geheimnisvollen Wesens schon ausgesetzt worden. Erzherzog Johann, der spätere Reichsverweser, versprach einst fünfzig Dukaten demjenigen, der ein solches Tier lebendig oder tot vor sein Antlitz bringen würde und erst im letzten Jahre hat ein Kurgast zu Reichenhall eine ansehnliche Summe für den gleichen Zweck bestimmt. Aber diese Preise wurden bisher nicht eingelöst, denn der Tatzelwurm zeigt sich zwar zuweilen der erstaunten Menschheit, aber er hat, wie es scheint, keine Lust sich fangen zu lassen.

Vom Miesenbache, von Rupolding auf die Reichenhaller Straße herüber führt der Weg durch das schäferliche Tal „am Froschsee“. Dass unsere Voreltern auf Eigennamen der Orte so wenig Wert gelegt und die glänzendsten Kleinodien der Landschaft so ordinär, so unpoetisch, so bauernmäßig benamset haben, das verdrießt mich noch heutzutage. Warum heißt's da nicht wenigstens am Elfensee, am Nixenteich? Die Griechen nannten ihre Bäche Jlissus, Cephissus, Eurotas — wir heißen sie Entenbach, Kälbelbach, Kuhbach — ihre Berge hießen die Hellenen Hymettos, Parnassos, Helikon — wir nennen die unsrigen Krötenkopf, Katzenkopf, Saurüssel — welch letzterer sich gar nicht weit von Rupolding befindet. Freilich — so tröstet uns die Philologie, wer weiß denn eigentlich, wie jene hellenischen Namen zu erklären sind? Und bei dem jetzigen Stand unserer Wissenschaft muss jeder zugeben, dass Parnassos eben so leicht Saurüssel bedeuten kann als Dichterberg; bedeutet ja auch Italia, wie die gelehrtesten Sprachforscher wissen wollen, nichts anderes als das Land der Kälber.

Das Tal, welches der Froschsee ziert, ist südlich durch wildes Felsengeschröfe des Rauschenbergs, nördlich durch mildere Waldhöhen eingegrenzt, und seine Wiesen sind durch Laubholz angenehm unterbrochen. Die gute und schöne Gelegenheit des Orts hat schon den Ahnen in grauester Vorzeit dermaßen eingeleuchtet, dass sie hier einen Hof an den andern bauten, während doch von Rupolding nach Reit im Winkel auf dem vier Stunden langen ebenen Weg nur Almenhütten und Köhlerhäuschen zu treffen sind. Unter jenen Niederlassungen sollen einst auch sieben rittermäßige Ansitze gewesen sein. Einer davon, am Hallweg,*) hat sich auch noch bis auf den heutigen Tag einen gewissen, obwohl blassen Glanz erhalten, indem er über seinem Portal ein Wappenschild (wenn ich richtig blasoniere, im roten Feld einen weißen, mit drei roten Rosen gezierten Sparren) zeigt. Darüber steht zu lesen: „Steinbacher'sches Familienwappen“. Da man sich bei einem Wappen immerhin eine gewisse Vornehmheit denken zu müssen glaubt, so war ich sehr überrascht, als sich die Edelfrau in ihrem Abendneglige zu nähern begann, und so schlicht und einfach aussah, wie nur irgendeine Bäuerin am idyllischen Froschsee. Auch in ihren Zügen lag nichts mehr von der alten Ritterschaft, sondern eher die Spur angreifender Feldarbeit und häuslicher Mühsal. Sie sagte, sie sei die letzte der Steinbacher von der einen Linie, die Erbtochter des Hofes gewesen, und habe das Gut vor so und so viel Jahren ihrem jetzigen Manne angeheiratet. Da das Tal so einsam ist und der innere Sinn wohl wenig zerstreut wird, so dachte ich wahrhaft in einen Ameisenhaufen von alten Familienüberlieferungen stechen zu können, Geschichten und Märlein zu hören von dem edlen Geschlecht der Steinbacher hinauf bis zu seinem Anfang in der Zeit der Agilolfinger, vielleicht auch Einwanderungssagen zur Beleuchtung der Frage, ob die Baiwaren ihren Ursprung den Markomannen, den Quaden oder gar den Kelten zu verdanken haben.

*) Siehe Grimms deutsche Mythologie S. 761.

Aber unser Bauernvolk schaut immer dermaßen in die Zukunft, dass ihm die Vergangenheit ganz gleichgültig ist. Das geborne Fräulein von Steinbach zu Hallweg am Froschsee wusste daher nicht mehr von ihrem Geschlecht, als dass es aus — Sachsen stamme. Vor zehn Jahren etwa seien auch zwei Zigeunerinnen des Wegs gekommen, und hätten sogleich und unaufgefordert die Bemerkung abgegeben, dass das Wappen, welches sie wohl erkannten, ihnen schon in jenem Lande vorgekommen. Dies ist alles, was aus der vielleicht sehr reichen Geschichte des Geschlechts noch hängen geblieben. Auf die Frage, ob kein Stammbaum oder Wappenbrief vorhanden, meinten Mann und Frau, ein solcher sei allerdings noch da und befinde sich halbvergessen in der „guten Kammer“. Wir gingen hinauf und nahmen eine alte Schachtel vor, in der sich aber zuerst nur Wallfahrtsbildchen, Steuerzettel und ähnliche Schriftstücke zeigten. Endlich machte sich auch ein Pergamentblatt bemerkbar, und die Bäuerin sagte fröhlich: Jetzt kommt er! Als wir aber das Pergament entfaltet und wahrgenommen hatten, dass es weder Stammbaum noch Wappenbrief, sondern eine Urkunde über Ablösung von Grundlasten aus der Zeit des alten Königs Max sei, sprach die Bäuerin achselzuckend: Dann ist er halt fort! Wer weiß, wer ihn hat! Und was tuts auch? Wenn wir nicht selbst unsere Wiesen hätten und unsere Felder und fleißig darauf arbeiteten, von Wappenbrief oder Stammbaum könnten wir doch nicht leben!

Gleichwohl gab ich ihnen den Rat, sie sollten die Ehre ihres Geschlechts tunlichst zu erhalten suchen, und da es gar nicht unmöglich, dass einer ihres Hauses einst einen Ungläubigen erlegt, so dürften sie immerhin auf dasselbe von einem der Jünger des großen Cornelius ein historisches Freskobild malen lassen, wie Parzival von Steinbach in der Hunnenschlacht auf dem Lechfeld einem türkischen Pascha den Kopf zerspalte. Und als die Bäuerin zweifelnd sagte: wenn das aber nicht wahr wäre? tröstete ich sie mit der Bemerkung, dass man, was Verdienste und Taten der edlen Geschlechter des Vaterlandes betreffe, ohnehin auf Genauigkeit keine großen Ansprüche mache.

Widmen wir nun auch einen beiläufigen Blick dem düstern Rauschenberg, der hier zur rechten Seite aufsteigt. Dieser soll in seinem Innern fast so hohl sein, wie ein leeres Schneckenhaus von lauter Gängen, Stollen und Schachten, welche der Fleiß und die Geldgier früherer Zeiten hinein getrieben. Den ersten Anfang dieser Bergwerke legt man in ferne Jahrhunderte zurück, nähere und verlässige Nachrichten darüber hat man aber erst seit dem sechzehnten. Im siebzehnten, nämlich im Jahre 1674, übergab die Regierung, wie uns neulich Regnet berichtete, den ganzen Rauschenberg einem Italiener, Namens Pezoli, der sich zu Schwaz in Tirol als Handelsmann niedergelassen hatte, und zwar gegen eine Berggilt von jährlich hundertfünfzig Gulden. Herr Pezoli hatte viel Vertrauen auf den düstern Berg, rief seine Landsleute aus Wälsch-Tirol herbei, stellte viele Arbeiter an, warf sein ganzes Vermögen in die Gruben, aber die Knappen brachten einen Tag wie den andern nur taubes Gestein aus der Tiefe und der Unternehmer wurde immer trauriger, da auch seine Mittel immer weniger wurden. Da ließ er allmälig von seinen Arbeitern einen nach dem andern wieder heimwärts ziehen, solange bis zuletzt nur der letzte noch übrig war, dem er eines Tages ebenfalls sagte, jetzt seien die Dukaten zu Ende, seine Hoffnungen wie sein Vermögen dahin und er seines Dienstes mit Dank entlassen. Der Knappe meinte, dagegen könne er wohl nichts einwenden, allein das letzte Loch, das er eben gebohrt, das wolle er doch noch sprengen und dann seine Tätigkeit im Rauschenberg gleichwohl beschließen. So ging er noch einmal hinauf in den Stollen und legte die Lunte an und sprengte ein Stück des Felsens heraus. Und als er die Trümmer hinweggeräumt, da fand er jubelnd, dass er dem Berg jetzt seine Schätze abgerungen, denn das blinkende Erz lag in großer Mächtigkeit vor ihm. Als Herr Pezoli dies hörte, fühlte er einen schweren Stein vom Herzen fallen und ward wieder froh, rief seine Wälschen wieder, ließ sie bohren und hauen, gewann sein ganzes Vermögen aufs Neue und noch mehr dazu. Um seinen Leuten eine wohnliche Unterkunft zu verschaffen, baute er dann auch das Knappenhaus, das noch hoch oben, obwohl ohne Dach und Fenster, am Rauschenberg steht und von der Straße aus gesehen wird. Im Jahre 1681 nahmen indes die Herren zu München dem Unternehmer die Werke wieder ab und ließen sie für ihre Rechnung betreiben, allein die schönen Zeiten waren bald wieder vorbei, die Erze wurden immer seltener, die Werke allmälig aufgelassen und jetzt ist es schon lange her, dass keine Haue mehr im Rauschenberg erschallt.

Von dem Tal am Froschsee steigt man eine milde Höhe hinunter und findet sich dann auf dem ehemaligen Seeboden, wo nunmehr in weiten Wiesen und Feldern das Dorf Inzell („die Inzel“) steht. In diesem Dorfe kam 1841 an einem Herbstabende und zwar, da die Sonne schon lange untergegangen war, bei vollkommener Dunkelheit ein Reisewagen an, aus welchem, als er geöffnet worden, der uns wohl bekannte, jedoch in der Inzell damals noch ganz fremde Reisende J. G. Kohl herausstieg. Es ist ein Privilegium der Fremden, dass ihnen vieles auffällt und ihr Auge anzieht, was uns längst gleichgültig geworden, und dass wir ihnen gerne lauschen, wenn sie mit angenehmer Redseligkeit Dinge erzählen, die uns so alltäglich sind, dass wir sie kaum zu berühren wagen. So weiß denn auch unser Kohl von seinem kurzen Aufenthalt in der Inzell allerlei Anmutiges zu berichten, wie es mir selber, obgleich ich dorten öfter eingekehrt, niemals eingefallen wäre, und ich denke daher, es wird allen, die dieses lesen oder lesen hören, nicht übel anstehen, wenn ich ihnen seinen Bericht nach einigen Abkürzungen hier abschriftlich mitteile: — — „Weil die bayerischen Dorfwirte in der Regel große, reiche Bauern sind und nicht Alles blos auf die Gäste zugeschnitten ist, so vergisst man oft, dass man in einem Wirtshause sei. Die Schlafzimmer haben prachtvoll bemalte, mächtige Federbetten, altmodische Schränke, Spiegel und Kommoden, die voll sind mit der Wirtin Vorräten. Alle Möbeln sind mit hübschen Gläsern, kleinen, plumpen Porzellanfiguren, altmodischen Uhren und anderen Gerätschaften und Familienerbstücken ausgeschmückt, zwischen welchen gemachte Blumenbouquets und Äpfel zur Zierde liegen. Man könnte sich daher ebenso gut einbilden, ein geehrter Familienfreund oder ein Hochzeitsgast, als ein zahlender Fremdling zu sein. Auch sind die Leute voll Anstand und Höflichkeit, beinahe wie am spanischen Hofe. So sagte unsere Wirtin, wenn wir ihr eine Prise Tabak anboten, jedes Mal: „mit Erlaubnis“, und nahm dann dieselbe erst, nachdem sie zuvor noch einige Komplimente und Zeremonien mit den Fingern gemacht hatte, die ich in Kürze nicht zu beschreiben verstehe. Freilich hatte sie schon die Erlaubnis stillschweigend dadurch, dass wir ihr die Prise anboten, und sie hätte allenfalls nur zu danken gebraucht. Allein die große Artigkeit dieser Leute bittet auch da noch um Erlaubnis, wo sie längst gewährt ist. Erst nachdem sie die Prise genommen und gleich darauf geniest hatte, dankte sie uns sehr verbindlich.“

„Nicht weniger höflich war auch die Kellnerin. Denn jedes Mal, wenn sie herumkam in dem Zimmer, um die Talglichter zu putzen, bat sie bei jedem Tische erst um die Erlaubnis dazu. „Mit Verlaub“, sagte sie und putzte das Licht. Welche ungemeine, man könnte sagen raffinierte Höflichkeit, sogar für eine Handlung um Erlaubnis zu bitten, für welche man Dank erwarten sollte! Endlich wünschte sie uns eine „gehorsame“*) gute Nacht. Mit unserer Erlaubnis leuchtete uns die Wirtin die Treppe hinauf, mit Verlaub öffnete sie uns die Türe, mit Verlaub fragte sie an, wann wir den Kaffee befehlen, mit Verlaub wünschte sie uns nochmals eine „gehorsame“ gute Nacht.“

*) Ein kleines Missverständnis! Die Wunschesformel ist geruhsame Nacht!“

„Am andern Morgen zeigte uns die Wirtin ihre „Kästen“. So nennen die Bauern hier ihren Braut-, Haus- und Familienschatz, in welchem Vorräte von allen möglichen Dingen, die man im Hause brauchen kann, aufbewahrt werden. Da die Wirtschaft, in der wir uns befanden, mit den dazu gehörigen Äckern, Alpen, Mühlen, Schmieden, Brauereien etc. auf 90.000 Gulden geschätzt ward, und eine große Familie mit mehreren Kindern darauf wohnte, so waren die Kästen sehr bedeutend und füllten nicht weniger als drei Zimmer aus, die ich etwas näher beschreiben will, weil solche „Kästen“ und solche Ansammlungen von Vorräten auf dieselbe Weise im ganzen südlichen Bayern üblich sind. Diese bayerischen Kästenzimmer sind nicht solche unschöne „Polter- oder Vorratskammern“, wie man sie wohl in einigen Gegenden Norddeutschlands trifft. Vielmehr wählt man in der Regel die besseren Zimmer des Hauses dazu und schmückt deren Inneres so bunt und prachtvoll mit Tellern, Krügen, Schüsseln aller Größe, mit Leinwand, Wolle, Strümpfen, Knopfsammlungen und Sparbüchsen aller Art aus, dass das Ganze einer wahren Kunst- und Industrie-Ausstellung gleicht. Die einzelnen Stücke Leinwand sind z. B. in großen Rollen übereinander gelegt, und zwar so, dass die Enden dieser Zylinder zum Schranke herausgucken. Hier sind sie mit roten Fädchen, mit Sternchen und Blümchen nach allen möglichen Mustern aufgenäht; auch stecken Blumenbouquets, Gold- und Silberflittern in den Zwischenräumen der Rollen.“

„Unser Wirt hat jetzt die dritte Frau, und sowohl der Brautschatz dieser, als auch das Eingebrachte der früheren Frauen befand sich in eigenen Schränken aufgestapelt. Auch hatte jedes Kind aus den verschiedenen Ehen seinen eigenen Schatz und seine eigene Sparbüchse. Denn es ist eine Sitte dieser bayerischen Bauern, sogleich bei der Geburt eines Kindes einen solchen Schatz für dasselbe anzulegen. Die Sparbüchsen und Schüsselchen der Kinder waren reichlich mit Gold- und Silbermünzen aller Art gefüllt. Zwischen den Leinwandrollen der Töchter steckten silberne Löffel und andere silberne Geräte, Geschenke von Paten und Verwandten, und in und auf allen Schränken standen vergoldete und bemalte Wachsstöcke, die in den verschiedensten Formen zusammengelegt waren. Hier in Bayern, in Österreich und Steiermark gehören die Wachsstöcke überall zu den gewöhnlichen Höflichkeitspräsenten, welche die Leute sich unter einander machen, und die man daher überall zahlreich als Andenken von diesen oder jenen werten Menschen verwahrt sieht.*) Ebenso wie die Wachsstöcke gehören zu solchen Präsenten auch die Rosenkränze, die sich, aus allerlei Stoffen, z. B. aus Silber und Korallen gearbeitet, durch die Leinwandrollen hinschlängeln.“

*) Die eigentliche Bestimmung dieser Wachsstöcke ist eine kirchliche. Bei den Frühmessen und Abendandachten im Winter stellt man sie nämlich angezündet auf den Betstuhl und liest bei ihrem Scheine im Gebetbuch.

„Unsere Wirtin sprach immer mit besonderer Hochachtung von den Kästen ihrer Vorgängerinnen und Stiefkinder, die ihr heilig seien, und von denen sie nie etwas anrühre. Diese Kästen sind mehr zum Luxus als zum Nutzen, und man tut den Leuten sowohl eine besondere Ehre an, wenn man sie bittet, dieselben zu zeigen, als Jeder auch sich es zu einer besonderen Ehre anzurechnen hat, wenn sie ihm gezeigt werden. Bei Festlichkeiten im Hause, bei Taufen, Hochzeiten usw. werden die Schränke alle geöffnet und den Gästen ihre Pracht geoffenbart. Ich musste erstaunen über die Masse von Silberzeug, welche unsere Wirtin hier zusammengehäuft hatte, über die silbernen und goldenen Mützen für ihre Töchter, die silbernen und vergoldeten Knöpfe für ihre Männer, die Menge silberner Geschnüre, wie die bayerischen Mädchen sie an ihrem Mieder tragen, dann auch über die silbernen Bestecke mit so und so viel Dutzend Löffeln, Messern und Gabeln für jedes ihrer Kinder. Alle diese Dinge sind bloß zum Luxus hier angehäuft und bloß auf den Fall, dass sie gebraucht werden könnten, auf den Fall, dass eins der Kinder sich verheiratete, auf den Fall, dass ein Sohn sich etablierte.“

Diese Sitte der Prunkzimmer und Kleinodienkästen geht durch ganz Altbayern und auch durch Oberschwaben. Lentner hat davon in seinem handschriftlichen Nachlass eine Schilderung aus dem Amperland gegeben, welche fast noch farbenreicher ist als obige; nichtsdestoweniger wollten wir hier lieber Herrn Kohl als Norddeutschen von den Eigenheiten unseres Gebirges sprechen lassen und drücken zugleich unsern Dank für die freundliche Auffassung aus.

Merkwürdig ist, dass Frau Anna Kammel, die Posthalterin in der Inzell, von dieser Beschreibung nie etwas erfahren hat. Erst letzten Mai, als ich selbst hinkam, das Büchlein bei mir trug und ihr die betreffende Stelle unterbreitete, erhielt sie Kunde hievon, aber nicht gerade zu ihrer Freude, denn die Leute in und an den Alpen sind der Wahrheit so ergeben, dass sie jede, auch die geringste Abweichung übel nehmen. Wie man nur solche Sachen schreiben kann, rief sie immer wieder aus, so falsch, so übertrieben! — Herrn Kohls Beschreibung scheint allerdings aus verschiedenen Erhebungen und Mitteilungen zusammengesetzt. Sie enthält keinen unwahren Zug, passt aber freilich nicht ganz auf den Tatbestand zu Inzell. So füllen z. B. die Kästen daselbst nicht drei Zimmer aus, sondern nur eines, und diese Hyperbel hat Frau Anna Kammel am meisten geärgert, weil sie meinte, die Leser würden sie ihr zur Last legen, als habe sie dem Reisenden ihre Reichtümer größer angegeben, als sie sind. Es muss aber dem Schilderer der Länder und der Völker wohl nachgesehen werden, wenn er mitunter aus verschiedenen, auseinander liegenden Motiven das Bild einer interessanten Erscheinung des Volkslebens zusammenstellt, und selbst wenn er dies Gemälde an einen bestimmten Ort verlegt, gesetzt auch, es fehlte dort diese oder jene Einzelheit, welche sich anderswo trifft und daher entlehnt ist. In dieser Beziehung ist's vielleicht gut, wenn auch meine Schriften nicht von allen Posthalterinnen gelesen werden.

Von der Inzell, der ahnungsvollen Pforte höchster Bergschönheit, zieht es uns bald in die Schlucht zwischen dem Falkenstein und dem Kienberg hinein, und wir sind mit einem Schritt wieder in den Alpen. Vielleicht nirgend anderswo ist der Eingang und Anfang des Hochgebirges so genau, ja fast auf den Zoll abgesteckt, wie hier. In großartigem Schwung erhebt es sich und beginnt. Bald zeigt sich selbst ein Wasserfall, damit dem neugierigen Flachländer, welcher überrascht und wonneselig in die neue Umgebung hineinfährt, auch dieser Leckerbissen nicht zu lange vorenthalten bleibe. Hierauf das grüne Wiesenland am Weißbuch mit seinen glücklich verteilten Höfen, dann der wildschöne Pass am Mauthäusel mit seinem tiefen Abgrund, die hohen Felswände an der Wegscheid, der malerische Nesselgraben mit dem tröstenden Blick hinunter auf das stille Gewässer des Thumsees und die einsamen Höfe und Felder in dem schattigen Bergkessel, den der Karlstein behütet, die malerische Ruine, die von dem großen Karl den Namen haben soll, und St. Pankraz, das erhabene Kirchlein, endlich beim Austritt aus der Schlucht das großartige Tal von Reichenhall und die Aussicht in die ferne blaue Ebene — ja es ist wirklich kein Wunder, dass ihr von allen Weltgegenden mit den Erübrigungen eures Fleißes in der Tasche hierher kommt und seelenvergnügt alle die Schönheiten begafft, welche die Natur zur Ausschmückung eurer Urlaubswochen da versammelt hat!

Im Kaffeegärtchen des Mauthäusels gerät der Wanderer, der von den Alpenweiden oder vom Froschsee und dem Miesenbach herabkommt, zum erstenmal wieder in Berührung mit der Kultur der deutschen Vornehmheit. Er sieht wieder deutsche Frauen, welche Fichtes Reden an unsere Nation gelesen, deutsche Frauen mit dem ungarischen Hütchen, der afrikanischen Zuavenjacke und dem französischen Reifrock. Für letzteren ist Reichenhall überhaupt ein sehr gedeihlicher Platz — mit der Großartigkeit der Natur wächst, wie es scheint, auch die Krinoline, und man wird daher eine Erweiterung des Trottoirs kaum mehr lange umgehen können. Die fremden Damen suchen es darin den einheimischen zuvorzutun, die schönen den garstigen, die vornehmen den geringen, die gelehrten den unwissenden. Wenn das ausländische, schöne, vornehme und gelehrte Fräulein Sigelinde N. breit und mächtig wie ein fruchtbeladener Erntewagen die Gasse herunterschwankt, so möchte ich ihr gern, wenn man sich ihr nähern könnte, ins Ohr hineinflüstern: Wissen Sie denn nicht, oh holde Unschuld, dass die große Kaiserin diese Tracht nur erfunden hat, um ihre interessanten Umstände zu verbergen?

Aber die Mode ist eine viel stärkere Macht als die öffentliche Meinung. Unser voriges Ministerium z. B. ist an letzterer zu Grunde gegangen, aber was haben bisher die warnenden Stimmen der Weisen, die leidenschaftlichen Angriffe der Presse, die Ironie der Humoristen, was haben die Laterne, Fliegende Blätter, Punsch und Kladderadatsch gegen die Krinoline vermocht? Welche Demütigung für jene ausgezeichneten Männer, die am Steuerruder unseres Staatsschiffes saßen, dass sie sich nicht einmal so steif und fest machen konnten wie ein Reifrock! Unbekümmert um alle Verdächtigung beschreibt dieser wie ein himmlisches Gestirn seine Bahn, und ist neuester Zeit selbst an den Wirtstöchtern in Schneizelreuth und in der Bayrischen Zelle sichtbar geworden. Ein unbedachtes Unternehmen war es auch, als heuer in Reichenhall mehrere Ehemänner, sowohl ansässige, als herbeigewanderte, einen Gegenverein errichten wollten, der sich über ganz Deutschland ausbreiten sollte. Sie fanden nämlich bei näherer Überlegung bald, dass häuslicher Friede viel unentbehrlicher sei, als öffentliche Wirksamkeit, und entsagten ihrem schönen Vorhaben.

Reichenhall — dieser meiner Wanderung ersehntes Ziel — wenn ich deine Salzquellen und deine Kuranstalt, deinen Staufen, deinen Untersberg und deine Unbequemlichkeit erwähnt, was bleibt noch viel zu sagen übrig? Kriegsnöten und Feuersbrünste haben dem biedern Städtchen so viel zugesetzt, dass es eigentlich nie zu rechtem Wohlstand gelangen konnte, obwohl seine Quellen gleichsam ein flüssiges Gold sind. Pfannhausleute, Beamte und etliche Gewerbsmänner teilten sich behaglich in die kleinen Häuser an den weiten Gassen, bis Herr Inspektor Rink seinen Zauberstab erhob, die Geister bis nach Skandinavien, ja bis zum äußersten Thule hin aufrüttelte und hierher beschied, worauf dann plötzlich alles zu enge wurde. Wer hätte es vor zehn Jahren gedacht, dass jetzt in den Reichenhaller Gasthöfen die Fremden zu hundert, ja zu zweihundert an dem frugalen Tische sitzen, und dass es der Neuangekommene oft nur der besondern Gefälligkeit des Oberkellners verdankt, wenn er noch einen Stuhl und Teller erhält? Um diese Table d'hôten weht eine europäische Atmosphäre, die ich für kurze Zeit gegen die vaterländische nicht ungern eintausche. Auf den Spazierwegen sieht man gekrönte Häupter und solche, die es zu werden wünschen, erlauchte Damen von so hohem Rang, dass uns schwindelt, wenn wir zu ihnen hinaufblicken, liberale Erb- und ungezogene Nebenprinzen verschiedener Art, nebst vielen anhänglichen Seelen, die sich in solchem Glanze sonnen wollen oder müssen. Auch sonst soll viele Distinktion vorhanden sein, Geheimräte und andere gelehrte Häuser, die schon mehrere Bücher herausgegeben, tapfre und berühmte Kriegsleute aus unserer langen Friedenszeit, siebenfache Ordensträger, deren Verdienste gar nicht zu erfragen sind, usw. Ich obskurer Pilgram kannte aber nur aus Mecklenburg Herrn Julius von Wickede, dem ich noch von Meran her dankbar bin*), und den ich hier neidlos sich im schönsten Flor der besten Gesellschaft bewegen sah. Nebenbei freute mich auch, dass ich als ein Münchener auf der Promenade nach Kirchberg hinaus eine halbe Stunde zwischen lauter deutschen Herren, Frauen und Fräulein lustwandeln konnte, ohne meines gleichen zu begegnen, und dies schien mir ein großer Vorzug, den ich anderswo schon schmerzlich vermißte.

*) Siehe Allg. Ztg. Beilage vom 15. Jan. 1853.

Auch viele Berliner sind hier, unter denen man namentlich die Juden auszeichnet, über welche man schimpft. Aus Liebe zu den Berlinern und aus Liebe zu den Juden habe ich diese Angaben einer scharfen Prüfung unterzogen, aber einiges wenige scheint doch daran zu sein. Man hat übrigens auch in Reichenhall schon gefunden, dass der wahre und aufrichtige Jude nie arroganter ist, als man ihm es eben zu sein gestattet, und auf einzelne Versuche darüber hinauszugehen, sind schon Zurechtweisungen erfolgt, die den Waghälsen sicherlich besser bekommen, als wenn sie Knigges Umgang mit Menschen zehnmal nach einander durchlesen müßten.

Die christlichen Berliner sind gern gesehen und suchen die Freundschaft zwischen Süddeutschland und dem Norden mit Wärme zu nähren. Sie freuen sich, aus ihren Patzke-Stieberschen Lüften herausgekommen zu sein, und betrachten mit Interesse unser reines konstitutionelles Leben, das für sie noch in blauer Ferne schwebt. Sie geben zu, dass der Pöbel zu Reichenhall, wenn man so sagen darf, viel gebildeter ist, als in ihrer Residenz, und sind überzeugt, dass man hier z. B. Humboldt- und Schillerfeste, ja selbst Krönungseinzüge feiern könnte, ohne dass Mädchen und Frauen auf der Straße verunehrt und Brutalitäten jeder Art verübt werden. Die Meisten derselben, will man wissen, schreiben jetzt an ihren Nobilitierungsgesuchen, und bereiten sich in stiller Sammlung auf den großen Tag zu Königsberg vor. (Vor der Krönung zu Königsberg ging nämlich durch die Zeitungen ein arger Rumor, dass viele Familien die schöne Gelegenheit benützen wollten, um sich in den Adelsstand erheben zu lassen. Später las man, es sei Alles nur ein leeres Gerücht gewesen, ja es kamen Fälle vor, dass verdiente Bürger die unerbetene Ehre ablehnten.)

Darf der wahre Freund des Vaterlandes, umgeben von der großartigsten Alpennatur, zwischen Staufen und Untersberg auch an guten Kaffee denken? Fräulein Julie Dungern hat es gewagt, und ihre vielleicht zuwenig beachteten Erfahrungen im Frankfurter Konversationsblatt (Juni 1858) niedergelegt. Diese freimütige Passagierin also fand den Kaffee in den Sommerlokalen an den schönen Ufern der Salach dazumal „sehr schlecht“. Ob er seitdem besser geworden, habe ich nicht untersucht, da ich in diesem Punkt eine Vorsicht beobachte, welche fast eines höhern Zweckes würdig wäre. Aus eigener Erfahrung kann ich nur sagen, dass auch das Nationalgetränk etwas misslich schmeckt. Glücklich der Mann, der hier wieder in sein Säuglingsalter zurückkehren kann, um sich mit Milch und Zuckerwasser zu nähren. Über letzteres habe ich nie eine Klage gehört, aber über den Wein in der Gmain ließe sich schon etwas Unangenehmes vorbringen. Die Gmain, welche zwar nahe, aber schon auf kaiserlichem Boden gelegen, ist ein hübsches, zu den Füßen der alten Burg der Plaien hingebautes Dörfchen, welches die Badegäste, da kaum eine andere Wahl, fast täglich besuchen, um sich dabei zu überzeugen, welch' unüberwindliche Heiterkeit den Anwohnern des Untersbergs zu Teil geworden ist, da sie selbst bei so saurem Nektar noch so fröhlich sein können. Sonst sind gegen den Karlstein zu noch zwei Wirtschaften vorhanden, welche aber mehr für süddeutsche Fuhrleute als für norddeutsche Kurgäste eingerichtet sind. Schneizelreuth liegt schon etwas ferne und würde erst bequem zu erreichen sein, wenn einmal ein Verbindungssträßchen nach Jettenberg angelegt wäre. Aber wie z. B. ein gesulzter Schweinskopf oder anderes vornehmes und berühmtes Gericht auf der Tafel des Reichen nicht allein serviert wird, sondern in Gesellschaft von allerlei Brühen, Gemüse, Salaten und andern Leckerbissen, also soll auch ein solcher vornehmer Bade- und weit berühmter Kurort nicht allein sein und für sich, sondern umgeben von einem muntern Häuflein unserer Neben- und Hilfsorte, die sich gefällig zur Auswahl bieten, wenn der liebe Gast ein Frühstück auf dem Lande, ein Mittagessen im Freien, eine Tasse Kaffee unter der Linde oder den Abendtrunk in milder Waldluft genießen will. An empfehlenswerten Örtlichkeiten, auf welche die Kultur sich werfen könnte, ist auch kein Mangel. Namentlich das stille Non, das stille, alte, römische Non, nicht weit entlegen, angenehm zu erreichen, durch Straßenlärmen nie gestört, mit schönster Aussicht begabt — dieses wäre sehr geeignet für ein niedliches Haus im Alpenstil mit Veranda und Lauben, mit zierlichem Gärtlein und kleinem Springquell, mit gutem Keller, duftendem Kaffee und saftigen Beefsteaken. Indessen — bis der Anlagetrieb der Reichenhaller sich zu solchen Unternehmungen aufschwingt, werden wohl noch ein paar Frühlinge ungenützt verstreichen*). Um aber den Nöten einstweilen möglichst abzuhelfen und mehrere Labestellen zu schaffen, hat man, natürlich unter Widerspruch der Wirte auf sieben Stunden in der Runde, etliche Forstleute und Bauern angereizt, sich im Fach der Hospitalität zu versuchen. Diese Dilettanten erstreben ihr schönes Ziel mit gutem Willen, aber mit großer Nonchalance. Julie Dungern schildert schon die Bewegung, die beim Molkenbauer (jetzt „Gasthofbesitzer“ Georg Gruber) entstand, als sie eines Abends frische Eier oder Kartoffel mit Butter verlangte. Die Eier und die Butter waren nämlich eben „ausgegangen“. Dieses „Ausgehen“ ist überhaupt der böse Geist, der selbst die besten unsrer Landwirtshäuser, ja auch die guten in den Städten jahraus jahrein beunruhigt und quält. Man trifft kaum eines, wo nicht jeweils einer der gewöhnlichsten Artikel fehlte. Bald ist der Wein, der Zucker, Kaffee, Käse, Butter, Essig, Öl, Senf, Pfeffer, Eier, Kartoffel, ja selbst das Weißbrot „ausgegangen“. Dass aber eine Sache, von der man täglich nimmt, am Ende ausgehen müsse, ist ein Lehrsatz, wichtig genug, um auf den landwirtschaftlichen Schulen auch dem kommenden Geschlechte schon eingepflanzt zu werden, wenn möglich mit dem Beisatz, dass man vor dem Ausgehen noch für einigen Nachschub sorgen solle. Nebenbei kann man auch erwähnen, dass von den Badegästen eine Abgabe erhoben wird, aus welcher die Umgebung verschönert werden soll, und betrug die zusammengelegte Summe schon vor zwei Jahren wohl über dreitausend Gulden. Die Vorschläge, wie das Geld zweckmäßig zu verwenden, lagen schon zwanzig oder dreißig Monden in München, aber es fehlte noch immer der Auftrag, sie auszuführen. Mit täglich wachsender Spannung betrachtete man jeden Postillon, der von Teisendorf hereinfuhr, ob er ihn vielleicht mitbrächte, aber er kam nicht. Während nun die Einheimischen mit loyaler Ergebung harrten, begannen die Ausländischen schon zu murren und sich um die richtige Verwendung ihrer Beisteuer zu sorgen, was die Stimmung trübte und den Erfolg der Kur leicht beeinträchtigen konnte, denn, wie es auf dem Badehause zu Rosenheim zu lesen ist: Qui curat, non curatur [Wer Sorgen hat wird nicht geheilt]. Aber wie oft plötzlich geschieht, was man lang erwartet, so kam einmal bei Nacht der Postillon daher, und bald nach ihm Herr Hofgärtner Effner, der einen großartigen Verschönerungsplan mit sich brachte und also gleich Hand an die Ausführung legte. Seitdem soll Vieles geschehen sein, was ich aber noch nicht gesehen habe.

*) Mittlerweile ist gleichwohl das stille Non meinem Rufe gefolgt und empfiehlt dem Wanderer seine Kaffeewirtschaften, die der treuherzige Lackner Johann Fuchs nächst dem Kirchlein St. Georg mit seinem schönen gotischen Altar, ferner die im Sennerinnenalter stehende Tochter Schneizelreuths auf der Padinger Alm und die jugendliche, reifrockumgürtete Poschenbäuerin, geborne Schullehrerstochter von Karlstein, auf dem quellenumflossenen Poschengute eröffnet haben.

Ein ganz neues Ereignis ist es aber, dass das Kaltnersche Bräuhaus sich jetzt einen glänzenden Titel beigelegt hat, nämlich „Zum russischen Hof“. Ich weiß nicht, ob ich wirklich nur so grämlich bin, oder ob ich einen guten Grund habe, wenn mir diese Errungenschaft auch wieder nicht behagt? Ich möchte aber lieber etwas Eigentümliches, Bergartiges, Alpenhaftes, nicht eine so auffallende Erinnerung an die teuren Hotels in Frankfurt, Mainz oder Köln. Warum also nicht „Zum grünen Panthertier“, dem alten Wappen der Burg zu Karlstein und der Stadt zu Reichenhall? „Zum goldenen Gams - oder Steinbock“? Warum „Zum russischen Hof“? Jedermann meint, das müsse etwas bedeuten — aber was? Soll es nur eine Schmeichelei oder Unterwürfigkeit gegen russische Gäste sein, die vielleicht in ihrem Hofe lieber einkehren werden, als in einem andern? Obgleich sich sonst der russische Hof durch seine Geschichte nicht sonderlich empfiehlt. Aber warum dieser Bückling vor den Russen, während uns doch die norddeutschen Brüder, namentlich die ständig kommenden Berliner, viel näher liegen und daher wohl Anspruch hätten, dass man durch einen „preußischen Hof“ der gesetzlichen Sehnsucht nach ihrer angestammten Dynastie ein Opfer brächte. Oder soll durch jene Widmung etwa den Ideen des Fortschritts gehuldigt werden, insofern als diese jetzt in Rußland einen großen Aufschwung zu nehmen scheinen? Dann war es sehr leicht, auf heimischem Boden zu bleiben, und man durfte nur sagen „Zum jetzigen Ministerium“, „Zur neuen Gerichtsorganisation“, „Zum aufgehobenen Lotto“ u. dergl. Wollte man aber irgend eine geheime Bosheit auslassen, eine Ironie andeuten, so konnte man im deutschen Vaterlande auch wieder ganz passende Firmen finden, als „Zum Bundestag“, „Zur deutschen Eintracht“, „Zu den kurhessischen Zuständen“ usw., so dass das Gute auch hier sehr nahe lag. — Man entschuldige diese Bemerkungen, welche eigentlich nicht gerade in mein Fach einschlagen, aber doch aus dem löblichen Wunsch hervorgehen, der überall wuchernden Nachahmungssucht, dann der daraus hervorgehenden Einförmigkeit entgegen zu wirken, und ein Volk, das in Erfindung ansprechender Wirtshausschilde hinter keinem andern je zurückgeblieben ist, auf seinen eigenen Bahnen männlich festzuhalten.

Der herzlichste und heißeste Wunsch der Reichenhaller ist übrigens auf eine Eisenbahn gerichtet. Sie dünkt ihnen sehr leicht zu beschaffen, denn die Strecke nach Freilassing an der Salzburger Bahn ist nicht lang und der Boden scheint fast keine Schwierigkeit zu bieten. Zur Zeit steht aber noch die Stadt Laufen an der Salzach im Wege, welche furchtbar jammert, wenn sie von diesem Projekte hört, da nach dessen Ausführung wahrscheinlich die seit uralten Zeiten betriebene Salzfracht auf dem genannten Flusse eingehen würde. Wie zwischen jenem Wunsch und diesem Jammer zu entscheiden, weiß ich nicht und überlasse es daher gern den Weiseren. (Die Bahn ist jetzt im Bau begriffen und soll binnen Jahr und Tag eröffnet werden.)

Das Wachsen und Aufblühen eines solchen Badeortes, wie überhaupt die Zunahme des Wohlstandes und mit ihm der Bildung, ist immerhin eine angenehme Betrachtung und geistige Augenweide, doch kommt dabei auch manches vor, das uns grämt. Mich z. B. verdrießt es fast, wie das Landvolk aus seiner Bergfreiheit in Dienst und Hörigkeit der Badeleute hereingezogen wird, wie diese Wildschützen und Gämsenjäger, diese Almenhirten und Sennerinnen so rasch in Fremdenführer, Sesselträger und Eseltreiber, in Wasch- und Bademägde ausarten. Man hätte vielleicht lieber Schweizer einladen sollen.

(Über das Gedeihen und den Fortschritt Reichenhalls hat Herr Dr. v. Liebig, der Sohn des Größeren, seit vier Jahren unter dem Titel „Reichenhall, sein Klima und seine Heilmittel“ Annalen herausgegeben, aus deren letztem Hefte zu entnehmen, dass der Kurort im vergangenen Sommer einen ansehnlichen Zuwachs von Heilmitteln und Bequemlichkeiten erhalten habe. Der Schluß der Kurliste ergab eine Zahl von 2.641 Gästen, wovon die meisten, nämlich 842 aus Preußen, 771 aus Bayern, 239 aus Rußland, 155 aus Österreich, 33 aus England, 14 aus Amerika, 10 aus Frankreich gekommen waren.)

Jetzt aber genug für diesmal und versöhnender Schluß! Sollte nämlich diese unbefangene Betrachtung hoher Naturwunder und menschlicher Schwächen manchem bojoarischen Poeten oder anderm redlichen Schriftsteller, der mehr für vaterländischen Lobgesang gestimmt ist, nicht in allen Stücken so gelungen scheinen, wie er sie vielleicht selbst verfasst hätte, so wolle er nicht vergessen, dass dieselbe nur die erste von mehreren ist, welche sich wie abwärtssteigende Orgelpfeifen zwar immer verkleinern, aber auch immer zu höherem und feinerem Schalle ausbilden, und sogar an geeigneten Stellen in den panegyrischen Flötenton überschlagen werden, so dass am Ende die vollste Harmonie und das schönste Ebenmaß der Stimmung erreicht sein und selbst der raue Zensor und scheelsüchtige Tadler, deren uns immer genug zu Diensten stehen, in die Shakespeareschen Worte ausbrechen dürfte: Ende gut, alles gut.






Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderung im bayrischen Gebirge