Die Aufzehrung der Oberschicht.

Noch heute sind die Länder des mittleren Europa nicht von durchweg einschichtigen Völkern bewohnt. Die Herrscherhäuser deutscher Zunge und ihre Gefolgschaften entstammen einer Oberschicht, die sich bei Strafe des Verlustes edelster Rechte mit fremdem Blute niemals mischen darf. Die Heere als Träger und Garanten der Nationalmacht nach außen, der Herrschermacht nach innen, gehorchen adligen Führern. Die Geschäftsführung deutscher Staaten und ihre Vertretung geschieht durch Zugehörige der oberen Schicht, nicht minder die höchste Leitung der Regierung und der größere Teil ihrer Exekutive. Ja selbst die Gesetzgebung kann der Billigung und des Vetos einer Herrenkurie nicht entbehren. Der Geschichtsschreiber später Zeiten wird vor einem Rätsel stehen, wenn er sich zu vergegenwärtigen sucht, wie unsre Zeit mit den äußeren Organen ihres Geistes demokratisch zu fühlen glaubte, während das Wollen ihrer inneren Seele den Aristokratismus noch immer duldete und zu erhalten strebte.

Freilich ist seit den letzten Jahrhunderten Adel nicht mehr reines Abzeichen edleren Blutes; dennoch zieht er seine stärksten Kräfte aus dem Stammhaften: Gesinnung und Physis. Wer ein preußisches Regiment defilieren sah und die Gestalten der Truppe mit denen der Führer verglich, der hat, wenn anders sein Auge für Betrachtung organischer Wesen geschärft ist, den Gegensatz zweier Rassen erkannt: gleichzeitig aber hat er ein sichtbares Symbol und Abbild der Gliederung unsres Volkes erblickt.


Weist somit unsre Zeit, bei allem offenkundigen Hang zum Demokratischen, noch immer sichtbare Spuren der Doppelschichtung auf, so können wir uns den Beginn unsrer Geschichte nicht anders als im Charakter ausgesprochener Zweiheit der Bevölkerung denken.

Vom ganzen ostelbischen Deutschland wissen wir, daß es zu geschichtlich bekannten Zeiten durch Eroberung und Kolonisation als doppelschichtiges Volksgebilde entstand. Die Sieger waren Germanen, die Besiegten Slawen, das Ereignis geschah vom zwölften bis ins vierzehnte Jahrhundert. Auf welchen Unterschichten besiegter Urbevölkerungen das übrige Deutschland ruhte, als es mit seiner aristokratischen Gliederung von Freien, Halbfreien und Hörigen in die Geschichte eintrat, ist unbekannt; doch ahnen wir aus frühen Sagen und späteren Darstellungen manches vom Wesen der Unterworfenen. Dunkelhaarig war der Knechtsbruder des freigeborenen Knaben. Handfertigkeit, schlaue Künste und feiger Sinn ist das Erbteil der Dunkelwesen. Sie sind klein von Gestalt; ihr Haar ist kurz und kraus; deshalb muss zur Hervorhebung des Gegensatzes der Freie in allen Ländern das blonde Haupthaar lang und schlicht um den Scheitel wallen lassen. Bis in die neuere Zeit hinein zeigen die älteren bildlichen Darstellungen von Bauern, Hörigen und Verbrechern die gleichen Züge: runde Schädel, breite Gesichter, aufgestülpte Nasen, kurze, gedrungene Glieder. Dass hier nicht Merkmale des Berufes, sondern des Stammes dargestellt werden sollten, beweisen die germanischen Gebiete des Nordens, wo Jahrhunderte bäuerlicher Arbeit den feingegliederten, schlanken und edlen Schlag nicht verwandeln können.

Indem nun jeder der südwestlich gerichteten Germanenströme die dunkleren Urvölker überdeckte, und zwar mit einer Schicht, die um so schwächer je weiter sie von der Einbruchszone entfernt war, so mußte denn auch die Aufzehrung in verschiedener Geschwindigkeit und verschiedener Vollkommenheit erfolgen: die südwestlichen Halbinseln Europas, verglichen mit der nordöstlichen, zeigen heute den entschiedenen Kontrast dunkler Bevölkerung.

Versucht man, sich die Bilanz der Kräfte zu vergegenwärtigen, denen im Laufe der europäischen Geschichte die beiden Elemente des Volkes, vornehmlich in Deutschland, ausgesetzt waren, so treten folgende Tendenzen hervor:

I. Bezüglich der Herrschaft. Sie war von den Eroberern mit Gewalt gewonnen und wurde zunächst mit Gewalt behauptet; solange, bis sie verfassungsmäßige, soziale oder plutokratische Geltung erlangt hatte. Dann aber mußte die Erhaltung der Herrschaft den Mächten der Ordnung anheimgegeben werden; Gewaltakte waren nur noch statthaft bei der Bekämpfung Aufständischer und Ungläubiger, denn die beiden großen Erbteile des Ostens, Kaisertum und Kirche, wirkten im Sinne der Zivilisation. So blieb das Herrschaftsverhältnis im Innersten ungefestigt und unverteidigt, mußte zerbröckeln wie jeder Bau, den man nicht pflegt und erneuert, sondern seiner eigenen Festigkeit überlassen zu können glaubt.

2. Bezüglich der Herrschenden. Aus Waldland waren sie hervorgetreten, jagd- und waffengeübt, unbekannt mit verfeinerten Bedürfnissen, ungewohnt der Arbeit und des Zusammenlebens. In nicht unähnlicher Lage, wenn auch um vieles tiefer stehend, erblickte man vor einem Menschenalter die edleren Stämme des mittleren Afrika, die seither ihrer Natur entrissen, zum Teil vernichtet sind.

In wenigen Jahrhunderten lichtet sich das Land. Die Jagdgründe wichen zurück, der Zwang des Glaubens, des Lernens, des Erwerbes, des häuslichen und gedrängten Lebens trat heran. Die Frage war: Wie wird dies Waldvolk bestehen und gedeihen in steinernen Häusern, bei fremdartiger Nahrung, tagsüber dicht bekleidet, des Nachts in heißen Betten, im Leben von neuen Bildern, Gedanken und Pflichten umgeben und beherrscht? Die Sehnsucht des Mittelalters blieb der schwindende Wald. Und wenn die heitere Schwermut dieser Zeit zu Ausbrüchen der Schwärmerei, zu Vorstellungen des Verfolgungswahns sich verdüsterte, so wurden die Wirrnisse einer Volksseele offenbar, die ihre Heimat verloren hatte. Kriegszüge und Fehden hielten ununterbrochen ihre Auslese der Vernichtung unter den Besten, indes der Leib des Volkes von periodischen Seuchen erschüttert wurde, deren Verheerungen nicht ihresgleichen gefunden haben. So wirkten veränderte Bedingungen des Bodens und Klimas, neubegründete Lebensweise, Krieg und Pestilenz auf das doppelschichtige Volksgebilde ein; symmetrisch, Gleichgewicht erhaltend zwischen beiden so verschieden gearteten Organismen, konnten diese Kräfte sich nicht erzeigen: und wenn die eine Schale sinken, die andre steigen mußte, so war der herrschende Stamm, der reicher, feiner organisierte, kriegerische und abenteuerliche bestimmt, schwerer unter den neuen Lebensformen zu leiden, die seiner Natur feindseliger waren als der Natur seiner Knechte. Auch darf hier nicht unterschätzt werden, daß eine Religion des Friedens, der Feindesliebe, der Demut, mit instinktiver Abneigung begrüßt, mit Gewalt aufgezwungen, zwar zur Milderung der Sitten führen, gleichzeitig aber die Niederen erhöhen, die Hohen erniedern mußte.

3. Bezüglich der Beherrschten. Ihr sklavisches Schicksal konnte sich nur mildern; die Stärken der Knechtschaft blieben ihnen erhalten. Zähigkeit und Anpassung, Schlauheit und Voraussicht sind die Eigenschaften aller Schwachen, Unterdrückbaren und Unterdrückten; tritt Besitz hinzu oder ein anderer Hebel der Macht, so materialisieren sich diese Eigenschaften zu gewaltigen Kräften. Fruchtbarkeit und Vermehrung, bei hochstehenden Stämmen sich selbst das Maß setzend, finden hier Beschränkung nur durch Not und Sterblichkeit, so daß sie, wie gespannter Kesseldampf, sich schrankenlos ergießen, sobald das hemmende Gewicht beseitigt ist. So sehen wir heute im preußischen Osten das Bild einer Unterschicht, die ihr Gegengewicht überwunden hat und nun in rastloser Ausdehnung den Raum des Landes zu erfüllen trachtet.

Dem Wachstum kommt die Bildsamkeit und Anpassung zustatten, die abhängigen Menschenschlägen eigen ist. Denn da sie ihre Lebensbedingungen nicht selbst schaffen, vielmehr von anderen empfangen, so ist ihre Natur, einmal elastisch gemacht, allen späteren Änderungen der leiblichen und geistigen Umwelt widerstehend. Das Beispiel der Juden bestätigt dies, und noch ein weiteres: daß die Gewohnheit rastloser und zwangläufiger Arbeit allmählich den Arbeitsdrang als neue Notwendigkeit schafft, und um ihn zu rechtfertigen, Zwecke hinzuerfindet; ähnlich wie der Traum des Erwachenden nachträglich ein Erlebnis erdichtet, um das erweckende Geräusch sinnmäßig einzuordnen. Arbeitstrieb, Fertigkeit und die ängstliche Vorsicht bedrückter Menschen gehen aber eine Verbindung ein, die als Vorläufer des Erwerbsund Geschäftssinns auf eine der stärksten Waffen im Rassenkampf hinausläuft.

Auch die gewaltigen Landerschließungen des Mittelalters durch Roden und Urbarmachen konnten, so seltsam es scheint, nur die Unterschicht der Bevölkerung stärken und erweitern. Denn die Territorialbesitzer, die von jeher in ihrer Subsistenz gesichert und daher in ihrer Expansion ungehindert sich fühlten, konnten durch die Erschließung ihrer Besitztümer höchstens bereichert werden; für die Unterworfenen aber wurde Raum, Nahrung, Tätigkeit und damit die Möglichkeit der Ausbreitung gewonnen. Begann erst einmal die Unterschicht, von ihrem gesindeartigen Zustand befreit, sich Raum und Lebensmöglichkeiten selbst zu schaffen, so mußte durch immer nachhaltigere Bearbeitung der Erdgüter die arme Natur zu einer reichen, die dürftige Bevölkerung zu einer behäbigen, die spärliche zu einer dichteren sich entwickeln. Die Herren aber konnten die gleitenden Zügel nicht länger halten; zu Fürsten des Landes konnten sie aufsteigen, Besitzer des Landes und seiner Menschen höchstens dem Namen nach bleiben. Die Bewohner des Landes indessen waren ein neues Volk, das sich allmählich mit den Söhnen und Töchtern seiner Herren vermischte.

So neigt sich die Kräftebilanz nach der Seite der Unterdrückten, bei einer Betrachtungsweise, die keinerlei Entwicklungsstufen und gelegentliche Ereignisse vorausnimmt, die sich hütet, geistige und technische Errungenschaften als Ursachen anzusprechen, da sie ja ebenso gut Wirkungen und Mittel eines unbewusst wollenden Massengeistes sein könnten, die vielmehr lediglich von eingeborenen und uranfänglichen Voraussetzungen auszugehen sich bestrebt.

Entschließt man sich nach diesen Erwägungen zu der Annahme: in einem zweischichtigen Volke, das durch fremde Kolonisation und Erschließung des Landes in veränderte Lebensweise geraten war, habe die Unterschicht von den Umwälzungen den größeren Nutzen gezogen, sich rascher vermehrt und allmählich einen großen Teil der Oberschicht aufgezehrt, so verschmilzt diese Hypothese mit der vorhin berührten Frage nach den Ursachen der nachmittelalterlichen Volkszunahme zu einem einheitlichen Theorem; und es wird augenscheinlich, daß das Gesamtphänomen nicht als eine sekundäre Erscheinung, sondern als die dem ganzen neuzeitlichen Erscheinungsinbegriff zugrunde liegende Ursache betrachtet werden muss. Tiefere Ursachen können alsdann nur noch in den physisch-psychischen Elementen gesucht werden, die als ein Gegebenes gelten müssen. Dagegen werden alle äußeren, also zeitgeschichtlichen Einwirkungen nur als beschleunigende oder verzögernde Momente, alle inneren Einzelevolutionen — und unter ihnen die Reihenfolge der Geistesrichtungen, der wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften — nur als Willensakte und Hilfsmittel eines in bestimmter Richtung strebenden Gesamtorganismus zu betrachten sein. Und da in letzter Linie Wille, Geist und Seele des Gesamtorganismus erkennbar den Weg entscheiden, unerkennbar zum Ziele treiben, so darf diese Betrachtungsweise, obschon sie auf zählbar-sichtbare Elemente sich stützt, den Vorwurf materieller Einseitigkeit ablehnen.

Aufgabe weiterer Erwägungen wird es sein, nach Erledigung einiger Nebenfragen zu prüfen, wieweit die neuzeitliche Weltgestaltung aus dem geschilderten Phänomen: Verdichtung und Umlagerung, sich ableiten lässt.

Es soll jedoch schon jetzt ausgesprochen werden, daß nach der hier vertretenen Auffassung die Doppelerscheinung der Ursachen durch eine Doppelerscheinung der Wirkung unsrer Zeit den Stempel aufprägt: die Verdichtung schafft sich in der sichtbaren Welt ihre Kompensation, die ich Mechanisierung nennen will, und die darauf hinzielt, einem übervölkerten Planeten die Möglichkeit der Subsistenz und Existenz ungeahnter Menschenschwärme abzuzwingen; die Umlagerung spricht sich in der geistigen Verfassung unsrer Völker als Entgermanisierung aus, die ein neues, für die Aufgaben der Mechanisierung seltsam geeignetes Menschenmaterial erschaffen hat.

Indem nun der veränderte Volkskörper dem Mechanisierungsdrang sein Bestes liefert: neugierig forschende Geschlechter mit leidenschaftlichem Interesse für Tatsachen, Zusammenhänge und Anwendungen; indem wiederum die Mechanisierung diesen Menschenschlag fördert durch Assoziation, Organisation und Werkzeug, verzweigen und verweben die Wirkungskomplexe sich so mannigfach, daß man einer einheitlichen Erscheinung gegenüberzustehen glaubt, die gerade deswegen einzigartig und unerklärlich wirkt. Immerhin lassen sich die Geäste sondern, wenn man den Zivilisationsstand der Mechanisierung und die Geistesverfassung der Entgermanisierung losgelöst voneinander betrachtet.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Walther Rathenau Gesammelte Schriften - Band 1