Erste Anmerkung Naturvorgang und Geschichte.

Die geschichtlichen Evolutionen und Einzelleistungen verlieren nichts von ihrer Größe und Schönheit, wenn sie im Rahmen dieser anscheinend physikalisch-geometrischen Entwicklung betrachtet werden. Denn die Einreihung in ein größeres und einfacheres Gesetz streift zwar von heroischen Ereignissen einen Teil des Zufälligen und Willkürlich-Freien ab, sie lässt es aber um so mehr als ein Notwendiges und Zuverlässig-Sicheres erkennen und stärkt unsre Zuversicht, daß die Kraft der göttlich-menschlichen Natur noch jederzeit ausreicht, um veränderten Bedingungen zu entsprechen, notwendige Heilkräfte zu bezeugen und aus Bedrängnissen Möglichkeiten höherer Entwickelung zu gewinnen. Tatsächlich beherrscht den ganzen Kreis des uns bekannten Lebens ein Gesetz, das sich in gleicher Umfassung im Vegetabilischen wie im Animalischen offenbart: das Gesetz der Ausnutzung jeder gegebenen Lebensbedingung und der Erfüllung jedes gegebenen Lebensraumes. So wie ein Wasserstrom zerklüftetes Gestein durchdringt, derart, daß jede Spalte und Ader sich mit Flüssigkeit erfüllt, gleichviel, welchen verworrenen, kaum auffindbaren Weg ein jeder Teil des Elements zu nehmen hatte, so ergießt sich das Leben, immerfort verwandelt und umgestaltet, unerschöpflich an Erfindungskraft, in jede Existenzmöglichkeit, in jeden durch noch so verwickelte Bedingungen beschränkten Hohlraum. Dies schöpferische Gesetz wirkt früher als das der Auslese: denn um unter geschaffenen Lebensorganisationen auszuwählen, müssen Lebensorganisationen geschaffen sein; und die stündlich erneute Anpassungsarbeit jedes fertigen Organismus zeigt, daß nicht Zufall noch das Gesetz großer Zahlen die Entwicklungsarbeit der Kreatur bestimmt, sondern ein erfinderischer Lebenswille. Was nun, uns unbekannt, etwa in den Geweben eines Pflanzenkörpers, sich vollzieht, der sich veränderter Bestrahlung, Temperatur, Nahrung oder Lebensgemeinschaft anzupassen gezwungen ist, das erblicken wir sinnlichen und geistigen Auges, bis in die feinsten Einzelregungen zergliedert, in einer Volksgemeinschaft, deren Anfangszustand gegeben, deren Endzustand bestimmt ist. Sollte dieser Endzustand bezeichnet sein durch den komplexen Begriff, den wir Mechanisierung genannt haben, so wird der Weg des Geistes von der Naturbetrachtung zur Naturberechnung führen, der Weg der Wirtschaft vom Einzelbetrieb zur Organisation, der Weg der Arbeit vom Handwerk zur Technik, der Weg der Politik vom Territorialbesitz zum Nationalstaat; und die geschichtliche Betrachtung wird staunend verzeichnen, wie an jeder Wegkreuzung, von den tiefsten Mächten emporgesandt, ein genialer Geist ersteht, um der Menge die Richtung ihres unbewussten Willens zu weisen, der sie zürnend folgen muss. Wird dies anerkannt, so bedarf es nicht mehr der Frage, ob und wieweit die Forschung in den letzten Jahrhunderten den Geist der Neuzeit bestimmt habe: wenn Kepler und Newton Himmelsgesetze niederschrieben, so waren sie in sich nicht minder frei und vom Genius getragen, indem sie doch dem Willen zu neuen Produktions- und Lebensgesetzen gehorchen mußten, der, um Tatsächlichstes zu erzeugen, der Tatsache und ihrem Gesetz neuartigen Wert verlieh.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Walther Rathenau Gesammelte Schriften - Band 1