Geschichtete Völker.

In seltsamem Doppelsinn deutet das Wort „Geschichte“ — das von geschehen kommt — auf das Geheimnis, daß nur geschichtete Völker Historie machen und erleben. Einschichtige Völker, das heißt solche, die aus einheitlich entstammten oder gut zusammengekochten Rasseelementen bestehen, zeigen, von den Ägyptern bis zu den Chinesen, im Stande der Zivilisation das gleiche Bild: Abgeschlossenheit und Konservativismus, lange Dynastienreihen von wesentlich gleichartiger Physiognomie, langsam-stetige technische Entwicklung, die aber keinen Aufstieg zu einer idealen Kultur bedeutet, vielmehr in Geist und Kunst eine allmähliche Verflachung und Vernüchterung erlebt, indem die lebendige Kraft des einstmaligen, vorzeitlichen Anstoßes sich nach und nach aufbraucht.

Eine Geschichte hingegen, das Werden und Vergehen politischer Formen, geistiger Ziele, Erlebnisse und Träume, Wechsel von leidenschaftlichen, friedlichen und tätigen Epochen, Aufstieg, Ausbreitung und Niedergang, kurz das, was im Leben des einzelnen dem freien, heroischen und tragischen Schicksal entspricht: eine Geschichte ist nur denjenigen Gemeinwesen beschieden worden, die von einer Oberschicht beherrscht, von einer stammverschiedenen Unterschicht getragen waren. Solche Zweischichtigkeit prägt sich mit Entschiedenheit aus im Bestehen von Aristokratien; daß alle Kultur dieser Erde von aristokratischen Gebilden ausgegangen ist, bezeugen Indien, Griechenland und Rom, Florenz und Venedig, England und die Niederlande, Frankreich und Deutschland. Selbst im fernen Osten muss den Japanern die Führung und Verantwortung zufallen, weil ihr Feudalsystem die Reste alter Zweischichtigkeit am Leben erhält. Diese Schöpferkraft des Zwiespalts entspricht einem einfachen Gesetze. Wir können uns keiner Vorstellung bewusst werden als durch den Gegensatz, die Polarität. Wer die See kennt, begreift das Binnenland, wer die Fremde kennt, begreift die Heimat, wer seinen Nächsten kennt, begreift sich selbst, soweit denn ein Begreifen uns beschieden ist. Ein rechtes Volk aber erblickt in seinen Nachbarn den Spiegel nicht; sie sind ihm zu fern, zu fremd und zu verhasst. Den Spiegel erblickt es im fremden Landesgenossen, und bei diesem Anblick wird es sich seiner selbst bewusst. Es beginnt die feinere Scheidung und Erkenntnis der physischen, sittlichen und geistigen Gegensätze, eine Selbsterkenntnis, Kritik und Wertung tritt ein, und mit diesen ersteht ein Ideal. Zugleich brechen die schönsten Kräfte menschlicher Gegensätze und Pflichten hervor: der Obere herrscht, leitet, verantwortet und schützt, der Untere gehorcht, leistet, dient und strebt. Der Obere erzieht sich zur Gesinnung und Freiheit, der Untere zur Ausdauer und Fertigkeit. Dass solche Arbeitsteilung Großes hervorzubringen bestimmt ist, zeigt jede bewusste Organisation bis in die jüngste Zeit.


Nun ereignet sich aber in diesen zweischichtigen Volkswesen jeweils etwas Wunderbares, in einem jeden zu seiner Zeit und ein einziges Mal: die beiden Schichten, einst wie öl und Wasser getrennt, beginnen sich zu lösen, die Kontraste verfließen (die Unteren sagen: die Vorurteile), ein näheres Erkennen, ein engeres Zusammenwirken tritt ein. Noch hat die Oberschicht soviel Recht und Geltung, daß ihre reineren und freieren Ideale den Geist der Gesamtheit beherrschen, noch hat die Unterschicht soviel Glauben und Respekt, daß sie ihr Können, ihr herkömmliches Handwerk, ihre Kunstfertigkeit in den Dienst dieser Ideale stellt. Die Kunstwerke solcher Epochen sind die edelsten Zeugnisse des irdischen Geistes; vor Zeiten nannte man sie hohen Stils, heute werden sie als archaisch oder primitiv verehrt.

Sodann beschleunigt sich der Vorgang, dem Phänomen vergleichbar, wenn zwei Flüssigkeiten hoher chemischer Affinität durch Mischung in Reaktion treten. Es lösen sich die lang verhaltenen Energien in einer Epoche heißen Aufschäumens und leidenschaftlicher Lebenssteigerung. Jetzt steigen die Befähigten der Oberschicht aus der Herrschersphäre hinab in die Schar der Ausübenden; jetzt steigen die Bedeutenden der Unterschicht empor in die Zahl der Bestimmenden; ihre innersten Geheimnisse rufen die beiden Stämme freudig und rückhaltlos einander zu; jede Wahrheit hat Geltung, jeder Gedanke findet Hörer, man erlebt das Ungeheure und erwartet das Unmögliche. In solchen Zeiten ersteht der Kunst aus der Mischung der Freiheit und des Ausdrucks die Blüte, die wir aus der Zeit des Phidias und des Lionardo kennen.

Noch lange bleiben die Elemente in Bewegung, aber das Phänomen ist vollbracht, die Mischung ist geschehen. Die Unteren waren die Zahlreicheren, und so trägt das Gemenge ihre Färbung. Meist haben sie der Staatsform ihren Stempel aufgedrückt, zum mindesten herrschen sie faktisch. Die transzendenten Ideale der alten Führer sind gefallen, an ihre Stelle tritt der freie Bewerb um den Geschmack der Menge. Dieser Geschmack aber ist geistig Skeptizismus, Negation, Aberglaube und Rationalismus, künstlerisch Materialismus, Deklamation und Ekstase. Einer Epoche dieser Art hat man die Bezeichnung des „Barock“ gegeben, ein Name, den man füglich auf die Parallelepochen anwenden könnte, so daß bei allen Kulturzeitaltern von einer archaischen, einer gipfelnden und einer Barockperiode kurz und verständlich gesprochen werden könnte.

Mit dem Abschluß dieses dritten Abschnitts tritt die Beruhigung ein, und zwar für immer, sofern nicht neue Eroberer neue Oberschichten schaffen und den Kreisprozess von neuem vorbereiten. Geschieht dies nicht, so bleiben die Affinitäten gesättigt, die freien Energien sind verpufft, und die ausgebrannten Völker bleiben oftmals wie tote Schlacken am Wege liegen. So sind aus Dorern und Attikern innerhalb weniger Menschenalter die Graeculi der Römer geworden, so aus den Römern selbst römische Italiener,

Im Gegensatz zu diesen Erscheinungen der Vermischung bleiben einschichtige Völker sich selbst ihr Leben lang gleich, wie die Nationen Asiens beweisen. Technische Erfindungen mögen ihr äußeres Dasein langsam bewegen; ihr Geist, ihr Wille und ihre Seele bleiben, wie sie waren, und kaum merklich ändern sich die Zeugnisse des inneren Lebens: Religion und Kunst, Schrift und Sprache.

Hier sei eine Anmerkung gestattet:

Bei der großen Aufmerksamkeit, die unsre Zeit dem Wesen, der Geschichte und dem Austausch der Sprachen zuwendet, scheint es seltsam, daß man sich um das eigentlich Physiologische ihrer Entwicklung wenig kümmert. Dass und wie die Sprachen sich umgestalten, wissen wir; aber wie kommt es, daß die eine sich jahrhundertelanger Ruhe erfreut, die andre in stetem Wechsel sich bewegt, die dritte im Laufe knapper Jahrhunderte von Grund auf sich erneut? Betrachtet man die Sprache als einen Teil der geistigen und körperlichen Physiognomie, so liegt die Erklärung nahe. Nur gleichbleibende Individuen können gleichbleibend sprechen. Veränderte Denkweise und veränderte Muskulatur muss veränderten Sprachausdruck schaffen; wie denn ein jeder beim Erlernen bemerkt, daß es einer zwangsweisen körperlichen und geistigen Nachahmung bedarf, um neuer Rede sich anzupassen. Starke Persönlichkeiten sind nur in früher Jugend biegsam genug, dieser doppelten Schauspielerei sich zu bequemen; übertrieben vielsprachige Befähigung hat bei Älteren etwas Prostitutionsmäßiges. Sollen ganze Völker ihre Sprache ändern, so muss in ihrer physischen Beschaffenheit eine Änderung vorgegangen sein; und es wird vielleicht einstmals in der beschleunigten Wandlung der Sprache das feinste und zuverlässigste Reagens auf den Zutritt neuen Blutes gefunden werden.

Damit die Doppelschichtung eines Volkes ihre natürliche Wirkung ausübe, ist keineswegs erforderlich, daß eine äußerlich erkennbare Trennungsfläche die entgegengesetzten Massen scheide, noch gar, daß jeder Volksgenosse sich seiner Rolle als oberes oder unteres Glied klar bewusst sei. Voraussetzung ist lediglich, daß die Oberen den Geist und Willen der Gesamtheit bestimmen und leiten; so wie etwa zur republikanischen Zeit die Römer echten Blutes das intellektuelle Leben der namenlosen Italiker und Eingewanderten derart beherrschten, daß die winzige Zahl der Herren einem Weltreich und einer Weltepoche Stimmung und Namen aufzwingen konnte. Ebensowenig darf man verlangen, daß der attische Plebejer, der das Handwerk des Steinmetzen übte, bei jedem Meißelschlag zu jenem blonden Patriziersohn aufblickte, der ihm sein Götterbild bestellte. Es genügte, daß Geist und Geschmack des Adels das Zeitalter erfüllte und den Bildner zwang, die menschliche Gestalt unter der Form des göttlichen Ideals zu erblicken; denselben Bildner, dessen Vorfahren und Nachkommen, von der Überwachung befreit, weit lieber Monstren, Süßlichkeiten und Karikaturen schufen.

Umgekehrt wird man sich hüten müssen, in unklarer Verallgemeinerung eine historisch wirksame Schichtung überall da zu erblicken, wo eine Abstufung auftritt. Dann freilich gibt es in jeder Volksgemeinschaft Starke und Schwache, Reiche und Arme, Geschützte und Hilflose. Aber diese Gruppen stehen einander nicht als Rassen und Völker gegenüber; indem vielmehr sie auf- und niedertauchen wie die Flüssigkeitsteile eines Wellenzuges, können sie wohl im Zustande der Erhebung eine etwas veränderte geistige Temperatur oder Färbung gewinnen und den Tiefen mitteilen; Wechselwirkung und Austausch grundsätzlicher Eigenschaften und Kräfte zu vermitteln, vermögen sie nicht.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Walther Rathenau Gesammelte Schriften - Band 1