Mechanisierung der Produktion

Von allen Teilen der Erdoberfläche strömen die Urprodukte mineralischer und organischer Abkunft auf eisernen oder wässernen Wegen in die Sammelbecken der Städte und Häfen. Von dort verzweigen sie sich nach den Verarbeitungsstätten, wo sie in vorbestimmter Mischung eintreffen, um chemisch oder mechanisch umgestaltet als Halbprodukte einen zweiten Kreislauf zu beginnen. Von neuem getrennt und abermals vermischt und bearbeitet erscheinen sie als Verbrauchsgüter, die zum drittenmal geordnet in den Lagern der Großhändler sich vereinigen, bevor sie die fein verzweigten Wege zum Kleinhändler und endlich zum Verbraucher finden, der sie in Abfallstoffe verwandelt und in den Gestaltungsprozess zurücksendet. Dem Blutumlauf vergleichbar ergießt sich der Güterstrom durch das Netz seiner Arterien und Adern. In jedem Augenblick des Tages und der Nacht donnern die Schienen, lauschen die Schiffsschrauben, sausen die Schwungräder und dampfen die Retorten, um die Last dieses Umlaufs zu erneuern und zu bewegen.

Und was ist das Geschick der Materien in den Mägen der Verarbeitung? Sie werden von Mechanismen ergriffen, gelöst, erhitzt, zerstampft oder gepresst, zerschnitten, gehämmert, gezogen oder gewalzt, gesponnen, gezwirnt, verwoben oder getränkt; ein zweiter, ein dritter Maschinenprozess schließt sich an, und der Mensch überblickt ordnend, beschleunigend, messend sein Werk, das Werk nicht mehr seiner Hände, sondern seiner Mechanismen. Ist eine Formung durch Handfertigkeit noch vonnöten, so ist das Gesetz der Produktion unvollkommen erfüllt. Dies Gesetz lautet: Beschleunigung, Genauigkeit, Verminderung der Reibung, Einheitlichkeit und Einfachheit der Typen, Ersparnis an Arbeit, Verminderung und Rückgewinnung des Abfalls. Da, wo ein Teil der Prozesse den Schöpfungsakten der Natur überlassen werden muss, fühlt man sich berechtigt, von ihr die gleiche Beschleunigung und Genauigkeit, die gleiche Reaktionsfähigkeit auf Reize und. Disziplin zu verlangen wie von leblosen Mechanismen und Prozessen.


Und die Natur gehorcht. Sie, die Erzeugerin der Urmaterien, ist sich des Ernstes und Umfanges ihrer Aufgaben bewusst geworden. Nicht mehr lächelnd und spielend wie ehedem, sondern ernst und geschäftig lässt sie ihre Felder das zehnfache Maß tragen, lässt sie ihren Flanken das Tausendfache an mineralischen Werten entströmen. Ja, sie gibt zu erkennen, daß sie es nur der menschlichen Arbeit und Begehrlichkeit anheimstellt, die lebenden und toten Ernten nochmals zu vervielfachen. Keines der heute geschätzten Güter scheint vorerst auf die Neige zu gehen; allenthalben winkt und blinkt es noch von ungehobenen Schätzen an Materie und Kraft.

Die Menschheit hat es begriffen und eilt ihrem Produktionsideal entgegen. Dies Ideal ist erreicht, wenn von den jeweils günstigsten Gewinnungsstätten die Produkte auf kürzestem Wege und mit größter Eile zu der bestgelegenen Verarbeitungsstätte gelangen, um in einem einzigen Prozess umgestaltet sofort einem Vertriebssystem übergeben zu werden, das sie in die Vorratsräume, Küchen und Werkstätten der Verbraucher leitet.

Zuweilen scheint es, als beginne die Güterproduktion, über ihr Ziel hinausschießend, überflüssige, nicht mehr verzehrbare Mengen zu fördern. Ständig wachsende Massen von Rohstoffen und Fabrikaten schleudern die Länder im Wechselspiel einander zu. Hier Erze gegen Kohlen, Baumwolle gegen Getreide, Vieh gegen Eisen, Holz gegen Zucker; und dennoch wird dies gewaltige Werben und Spenden nicht nachlassen, denn immer noch wächst die Zahl der Erdenbewohner, und immer noch sind Millionen von Händen nicht nachhaltig genug in den Schaffensprozess verstrickt, um ihr Teil am Begehrten zu erraffen.

Wohin ergießt sich nun diese Güterflut? Wir finden sie in den Speichern der Häfen, in den Vorratsräumen der Fabriken und Handlungen, wir finden sie in Läden und Kaufhäusern. Das Berlin von 1811 besaß im Umkreise seiner Mauern nicht so viel an Ladengütern wie ein einziges Häuserviereck des Berlins von 1911. Aus den Magazinen fließt der Strom in die Behausungen der Menschen. Ungezählte Substanzen, die man ehedem nicht kannte, Metalle, Gläser, Hölzer, Tonwaren, Papiere, Leder, Bein, Gewebe, alles bedeckt mit farbigen Schichten, Polituren und Ornamenten, füllen die Gemächer; Seifen, Essenzen, Chemikalien sind vorrätig, Nahrungs- und Genussmittel aus allen Erdteilen werden gespeichert; selbst in den Wohnungen der Schwachbemittelten, ja der Armen finden sich Menge und Mannigfaltigkeit der Gerätschaften und Verbrauchsgüter seit den letzten drei Generationen um ein Vielfaches vermehrt. Fast möchte man meinen, die Menschheit sei von einem Taumel des Warenbesitzes, von einer Gerätetollheit befallen, die man in früheren Zeiten vielleicht gewissenlosen Spekulanten oder auf Ablenkung bedachten Regierungen zur Last gelegt hätte. Und noch immer ist Begehr und Lust nach käuflichen Dingen im Steigen, zumal bei Frauen.

Ihr passiver Anteil am Produktionswachstum ist nicht unbeträchtlich. Denn ihre naivere Freude am feilen Besitz und am Vergleich des Besitzes setzt zahllose Gewerbe in Bewegung, und ihr geringeres Interesse für Struktur und Konstruktion kommt der eigenartigen Qualitätsverschiebung des modernen Erzeugnisses in erstaunlicher Weise entgegen. Mit dieser Verschiebung aber hat es folgende Bewandtnis.

Jeder, der ein Erzeugnis des alten Handwerks in Händen hält, etwa ein Buch, eine Truhe, einen Schlüssel, empfindet an diesen Gegenständen etwas Organisches, wie es den Schöpfungen der Natur eignet. Das Werk ist genau gearbeitet, aber nicht mathematisch. Der Naturstoff, dem es entstammt, ist geformt, aber nicht verwandelt. Es besitzt eine innere Festigkeit, die den Einwirkungen des Gebrauchs und der Zeit widersteht und ihnen doch einen seltsam verschönernden Einfluss gestattet. Es ist selbst im größten Reichtum sparsam, denn es ist ein durchdachtes, für sich alleinstehendes Werk, ein Stück Menschennatur.

Die Maschine kann dergleichen nicht schaffen. Sie erzeugt mathematische, schnurgerade, kreisrunde, spitze, scharfe, polierte Dinge, die sich nicht abschleifen, sondern schartig werden. Sie spart am Material, aber sie knausert nicht mit Ornament, denn dies macht ihr keine Arbeit. Auch überträgt sie gern praktisch erwiesene Kunstgriffe von einer Materie, von einer Form auf die andre. Sie formt mit gleicher Unbeteiligtheit ein Gebetbuch und eine physikalische Wage. Vor allem aber setzt sie an die Stelle der Dauerhaftigkeit die bequeme Erneuerung. Hausgesponnenes Linnen und Papierservietten sind Sinnbilder dieses Gegensatzes.

An die Stelle des Anschaffungswertes setzt die Mechanisierung den Verbrauchswert, an die Stelle des Zinsverlustes die Neubeschaffung. Der Luxus unsrer Zeit ist nicht Kapitalsaufwand, sondern Rentenaufwand.

Durchaus verständlich! Denn die Mechanisierung will produzieren. Reparaturwerkstätten sind ihr kostspieliger als Fabriken; anstatt zu flicken, schmilzt sie um. Hier kommt ihr ein psychologischer Kreislauf zunutze; die Möglichkeit des Wechsels erzeugt den Wunsch nach Wechsel, dieser Wunsch wiederum unterstützt das Erneuerungsprinzip.

Ein Weiteres tritt hinzu. Die alten Stoffe waren nicht abstrakt rein. Die Erze, die Gewürze, die Farben, die Erden enthielten Beimengungen, deren Störendes kunstreich überwunden war, und die nun dem Gefühl, dem Blick, dem Geruch und Geschmack etwas Getöntes, Abgestuftes, Anheimelndes gaben. Die mechanisierte Produktion nennt diese Zutaten Verunreinigung und hat nicht viel Mühe, sie auszuscheiden. Sie hält uns das duftende Prinzip des Veilchens kristallisiert unter die Nase und lässt keine Einwendung zu. Sie schafft Extrakte, Reinkulturen, Normative. Aber solche Produkte ohne eigenes Leben, ohne Milderung überreizen und ermüden. So führen sie abermals zum Wechsel und nebenher, da sie nun einmal ihre Seele verloren haben, zum Surrogat.

Zeigen nun diese Künstlichkeiten, teils überrein, teils flüchtig naturalisiert, teils nachgeahmt, teils appretiert, eine Teufelsschönheit im Schimmer der Neuheit, in dem, was ein Geschäftswort die Aufmachung nennt, und in einer gewissen Keckheit der rasch erdachten Form, so blüht diese Frische schnell dahin; und alsbald klopft das mechanisierte Schicksal, die Mode, an die Tür und weist das früh gealterte Geschöpf in den Vorstadtwinkel, in die Provinz, nach Südamerika und zuletzt nach Afrika, um der Produktion neue Arbeit zuzuweisen.

So schafft die Mechanisierung sich selbst ungeheuerste Hilfskräfte in dem Warenhunger der Menschen, in der Irrealität, Leblosigkeit und Schattenhaftigkeit ihrer Produkte und in der Mode.

Doch was ist dieser ephemere Umlauf der Gebrauchsgüter im Vergleich zu jenem zweiten, anhäufenden, den die Mechanisierung zeitigt! Denn die Menschheit verbraucht nicht alles, was sie schafft; einen großen Teil ihrer Güter speichert sie auf. In welcher Form? Sie baut.

Sie baut Häuser, Paläste und Städte; sie baut Fabriken und Magazine. Sie baut Landstraßen, Brücken, Eisenbahnen, Trambahnen, Schiffe und Kanäle; Wasser-, Gas- und Elektrizitätswerke, Telegraphenlinien, Starkstromleitungen und Kabel; Maschinen und Feuerungsanlagen. Sie bessert Ländereien, entwässert, reguliert und deicht.

Es ist schwerer, sich eine sinnliche als eine zahlenmäßige Vorstellung vom Umfange dieser Bauten zu machen, die sich für Deutschland jährlich auf mehrere Milliarden belaufen. Schätzungsweise könnte man annehmen, daß die alljährlichen Erweiterungen Berlins etwa der Wertbewegung gleichkommen, die zum Bau des Perikleischen Athen erforderlich waren. Die Neubauten der deutschen Städte dürften etwa alle fünf Jahre einen Wert erreichen, der an mechanischem Aufwand dem Bauwert des kaiserlichen Rom gleichkäme.

Wozu dienen nun diese unerhörten Bauten?

Zum großen Teile dienen sie direkt der Produktion. Zum Teil dienen sie dem Verkehr und Handel, somit indirekt der Produktion. Zum Teil dienen sie der Verwaltung, der Wohnung, der Gesundheitspflege, somit vorwiegend der Produktion. Zum Teil dienen sie der Wissenschaft, der Kunst, der Technik, dem Unterricht, der Erholung, somit indirekt, und mit einiger Einschränkung, noch immer der Produktion.

Das ist das Saatgut, das die Mechanisierung alljährlich dem Boden anvertraut, und das auf lange Zeiten ihr vielfache Ernte tragen wird. Es ist gleichzeitig der materielle Lohn der Welt für die unsägliche Anstrengung im Joche der Mechanisierung: denn diese Schätze aus Erde, Stein und Metall bedeuten die Zunahme der Nationalvermögen, deren unvorstellbare Zahlen hier auszusprechen nicht verlohnt.

Fassen wir die Reihe dieser Vorstellungen zusammen, so muss uns die Erde als eine einzige, untrennbare Wirtschaftsgemeinschaft erscheinen. Das Anwachsen der Bevölkerung hat dies ungeheure Rad in Schwingungen versetzt; nun kreist es, indem es selbsttätig und ununterbrochen seine Masse und Geschwindigkeit vermehrt. Über das Ziel des Schutzes und der Nahrung hinausstrebend, schafft die mechanisierte Produktion dauernd neue Begierden. Schon hat sie die materiellen Lebensbedingungen bedeutend gehoben; sie wird und muss dazu führen, jedes absolute Elend des Besitzes aus der Welt zu schaffen; gleichzeitig saugt ein immer wachsender Warenhunger die gewaltiger sich ergießenden Ströme auf.

Auch in früheren Jahrhunderten war Produktion eine Hauptaufgabe menschlicher Tätigkeit, doch ihre Mittel waren beschränkt und gaben keiner weiteren Hoffnung Raum als der, das Nötigste zu erschwingen und für himmlische und irdische Herren etwas zu erübrigen. Die Entfesselung der Mechanik hat jede Schranke niedergeworfen. Der Teil der menschlichen Tätigkeit in zivilisierten Ländern, der weder mittelbar noch unmittelbar der Produktion und ihrem Schutze dient, ist klein geworden. Die mechanisierte Produktion hat sich zum Selbstzweck erhoben.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Walther Rathenau Gesammelte Schriften - Band 1