Dritte Anmerkung. Scheinbares Paradox

Warum haben ältere Verdichtungsprozesse, deren die Geschichte eine Anzahl kennt, niemals zu einer ausgesprochenen, der unsern vergleichbaren Mechanisierung geführt? Sagt man doch, daß die Menschheit jeden uns denkbaren Gedanken schon einmal gedacht habe: warum hat sie dies Gedankenphänomen unsrer, im übrigen keineswegs so bevorzugten Epoche aufgespart?

Hier ist zunächst zu erinnern, daß keine der alten Volksverdichtungen, relativ und absolut gemessen, sich mit neuzeitlich okzidentalen Verhältnissen vergleichen lässt. Ägypten und Mesopotamien waren nicht übervölkert, Griechenland und Italien nach unsern Begriffen arm an Einwohnerzahl.


Vor allem aber wirkt das Mittelmeerklima in einem Sinne verzögernd auf die Zivilisation, indem es die menschlichen Bedürfnisse an Nahrung, Obdach und Kleidung gleichzeitig mäßigt und leicht befriedigt. Selbst in den heutigen trocken und unfruchtbar gewordenen Ländern dieser Zone bleibt der Lebenskampf vergleichsweise harmlos und spielend, weil Ertrag und Bedarf noch immer in glücklicherem Verhältnis sich die Wage halten. So stehen selbst in unsern Tagen die Mittelmeervölker mit einer mehr kindlichen als nothaften Begehrlichkeit dem Ansturm unsrer Warenmassen gegenüber; ihre Produktionsmethoden sind, wenn man vom nördlichen und mittleren Italien absieht, nur in bescheidenem Umfang mechanisiert, und den übrigen Mechanisierungsformen haben sie halb widerwillig halb kindlich nachahmend Aufnahme gewährt. Süditalien und Griechenland stehen noch heute trotz Eisenbahnen und Telegraphen dem antiken Leben näher als dem modernen.

Dennoch zeigte das Rom der späten Republik und der Kaiserzeit deutliche Anfänge der Mechanisierung, und es ist lehrreich, zu prüfen, weshalb diese Lebensform in ihrem Vordringen gehemmt wurde.

Großbetriebe waren vorhanden, ja ein Welthandel und eine kapitalistische Ordnung des Besitzes aufgekommen. Zur Fortentwicklung des mechanistischen Prinzips hätte es nun vornehmlich dreier Dinge bedurft: einer Vervollkommnung der metallurgischen Technik, insbesondere der Eisen- und Stahlerzeugung, einer Weiterbildung der Präzisionsmechanik, und der Konstruktion einer Kraftmaschine. Diese Aufgaben waren nur zu lösen auf Grundlage messender Naturerforschung. Der Römergeist, der mit empirischer Technik ungeheure architektonische Aufgaben zu lösen gewohnt war, hätte den strengen Anforderungen dieser Disziplinen genügt, obwohl ihm pragmatisches Denken vertrauter war als stilles Beobachten. Schwieriger wäre es in jener Epoche gewesen, die Hunderte von forschenden und entdeckenden Geistern, deren die Ausbildung dieses Wissenszweiges bedurfte, unter der kleinen Zahl von bildungsliebenden Italikern aufzutreiben. Sollte diese Abkehr des Römertums vom Markt, Tribunal und Heerlager zur Gelehrtenstube und zum Laboratorium erzwungen werden, so bedurfte es einer Not. Diese Not aber war nicht vorhanden. Denn Rom war gewohnt, die Völker des Erdkreises für seine Erhaltung sorgen zu lassen; wo ein Prokonsul genügte, um Attalidenschätze nach der Hauptstadt zu leiten, bedurfte es keiner Exportfabrikationen. Die an sich nicht beträchtliche Nahrungsbeschränkung durch Bevölkerungsverdichtung war mehr als ausgeglichen durch eine Hoheit, welche die Gesamtheit des herrschenden Volkes zum Souverän erhob und mit auskömmlichen Zivillisten versah.

Wenden wir den Blick außereuropäischen Verdichtungszentren zu, so scheinen in China die günstigsten Voraussetzungen für mechanisierte Wirtschaft gegeben zu sein: große Masse und Dichte einer Bevölkerung, die ausreichende bürgerliche Freiheiten genießt und von der Natur des Landes nicht allzu leichtfertig über den Lebenskampf hinweggehoben wird. Und wirklich geben die Tatsachen den Voraussetzungen recht: außerhalb der kaukasischen Rassenzone umschließt China mit seinem kulturellen Tochterlande Japan das einzige Gebiet der Erde, auf dem eine eigene großangelegte Technik erwuchs, ja eine Technik die ganz besonders die uns vertrauten verkehrhaften Züge aufweist. Als ein Geschenk Chinas ist vor wenig mehr als hundert Jahren die vergessene Kunst des Heerstraßenbaus uns neu beschieden worden.

Bis in die Mitte des XVIII. Jahrhunderts war China an technischen und organisatorischen Erfahrungen dem Durchschnitt Europas ebenbürtig; aber die Keime überflügelnder Entwicklung lagen im westlichen Boden. Dass den klügsten und tätigsten Orientalen so wenig wie den Römern das Geheimnis der messenden und rechnenden Wissenschaft sich erschloss, befremdet nicht, wenn man erwägt, welche seltenen, ja widersprechenden Geistesstimmungen zusammentreffen müssen, damit systematische und exakte Forschung möglich sei. Ein ideal gerichteter, dem Gesetzmäßigen offener Sinn muss transzendenter Betrachtung entsagen, sich mit Liebe dem Tatsächlichen, ja dem scheinbar Nebensächlichen zuwenden, um in lebenslanger Arbeit, Korn für Korn, das Bleibende vom Zufälligen zu sondern, ohne Hoffnung, selbst jemals des Weltsymbols teilhaftig zu werden, das aus der reinen Saat erblühen soll. Umgekehrt bedarf es, damit die Forschung sich In Technik verkörpere, praktischster Geister, die dennoch zu den abstraktesten Gebieten der Wissenschaft sich erheben, um mit prometheischem Griff das dem irdischen Bedarf Bestimmte herabzuholen. Dem Verlauf der Darstellung vorgreifend sei hier bemerkt, daß in einer Zivilisation, die der Mischung aus germanischer Idealität mit vorgermanischer Zähigkeit und Handfertigkeit entsprang, diese seltenen, vielleicht nicht wiederkehrenden Voraussetzungen einer Wissenschaft und wissenschaftlichen Technik gegeben waren. Dass die mandschurisch-mongolische Zivilisation die gleichen Vorbedingungen nicht erfüllte, entschied die Frage der technischen Welthegemonie zugunsten des westlichen Dichtigkeitszentrums. In gleichem Sinne wird sich dereinst die Frage der politischen Hegemonie entscheiden, der man die kindlich gehässige Bezeichnung einer gelben Gefahr gegeben hat. Erweist sich der Westen auch in Zukunft stärker ideenbildend als der ferne Osten, der in jüngeren Zeiten diese höchste Kraft nicht mehr besessen hat, so wird er auch weiterhin die Verantwortung der Weltentwicklung tragen.

Zusammenfassend dürfen wir die Zwischenfrage: warum Mechanisierung bisher auf Erden nirgend anders als im germanischen Zentrum aufgetreten sei, folgendermaßen beantworten. Erforderlich war das Zusammentreffen stärkster Volksverdichtung mit zwei auslösenden Faktoren: gemäßigten physikalischen Bedingungen, welche bei zunehmender Dichte die Sorge um den Unterhalt empfindlich machten, sodann spezifischen sittlich-geistigen Werten, welche imstande waren, technisch-methodische Hilfsmittel zu schaffen. Die alten Mittelmeerkulturen scheiden aus, denn es fehlte ihnen fast durchweg an der Hauptbedingung, ausnahmslos am ersten der beiden auslösenden Faktoren. China konnte eine gewisse Mechanisierungsarbeit leisten, bis im entscheidenden Moment der intellektuale Faktor versagte. Der zentraleuropäischen Kultur war es vorbehalten, alle Bedingungen zu erfüllen und die Mechanisierung bis in die letzten uns bekannten Folgen durchzuführen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Walther Rathenau Gesammelte Schriften - Band 1