Mechanisierung und Organisation

Wir haben die Mechanisierung der Gütererzeugung betrachtet und uns vergegenwärtigt, wie dieser vielfältige, alles materielle Handeln umschließende Aufbau mit Notwendigkeit aus dem Fundament der Volksverdichtung erwachsen musste. Damit nun der zum sichtbaren Gesamtgeschöpf erhobene wirtschaftliche Bienenstaat Existenz und Leben gewinnen konnte, musste ein System unsichtbarer Verständigungen, Bindungen und Beziehungen gegeben sein, das die menschlichen Elemente des Organismus zusammenhielt, Beruf und Arbeit verteilte und gleichzeitig die zu bearbeitende tote Substanz an diese lebenden Elemente kettete. Es musste für das notwendige Drama der mechanisierten Produktion Textbuch, Szenarium und Rollenverteilung geschaffen werden.

Den Kern dieser unsichtbaren Ordnung der wirtschaftlichen Welt bildet die Einrichtung des Besitzes, und zwar in der auf das strengste an die Person gebundenen Form des erblichen Besitzes.


Damit nun diese höchst persönliche Einrichtung den mannigfachen Bildungen und Bewegungen der mechanisierten Produktionsform sich anschmiegen konnte, musste sie in analoger Weise wandelbar und unpersönlich werden. Der Besitz musste bis ins Kleinste teilbar, bis zum Größten anhäufbar, er musste beweglich, austauschbar, fungibel, seine Erträge mussten vom Stamme trennbar und für sich verwertbar sein. Kurz, der Besitz musste im Abbilde den Aufgaben der mechanisierten Wirklichkeit, der Arbeitsteilung, Arbeitshäufung, Organisation und Massenwirkung entsprechen lernen, er musste mechanisiert werden.

Den mechanisierten Besitz nennen wir Kapital. Der Vorgang, der von außen und physikalisch betrachtet als mechanisierte Gütererzeugung erscheint, dieser Vorgang stellt sich von innen, menschlich und organisatorisch betrachtet, als Kapitalismus dar.

Daher wird der Kapitalismus andauern, solange das mechanisierte Produktionssystem Bestand hat; er wird andauern, gleichviel ob alles Kapital der Welt in den Händen einer Person oder eines Gemeinschaftskörpers vereinigt wird, und somit das, was man heute Transaktion nennt, zur bloßen Buchung herabsinkt. Man kann daher von dem Aufhören der privatkapitalistischen Gesellschaft reden, vorläufig aber nicht von dem Aufhören der kapitalistischen Produktionsweise.

Schon jetzt ist die Mechanisierung des Besitzes 80 weit vorgeschritten, daß das Kapital in seiner atomistischen Teilbarkeit, Beweglichkeit und Kohäsion auffallende Ähnlichkeiten mit dem Aggregatzustand der Flüssigkeiten aufweist und daher innerhalb gewisser Grenzen den Gesetzen der Hydrostatik und Hydrodynamik folgt. Diese Verflüssigung ist geschaffen worden durch eigenartige Zirkulationsformen, die, von verschiedenster Herkunft und Geschichte, sich allmählich sozusagen zu Münzsorten des Kapitalverkehrs ausgebildet haben. Als Zirkulationsform des Grundbesitzes kann man die Hypothek, den Pfandbrief und die Obligation bezeichnen, als Zirkulationsform der Waren den Wechsel, als Zirkulationsform des Arbeitswertes die Aktie, als Zirkulationsform der Gesamtwirtschaft die öffentliche Anleihe, als Zirkulationsform des unspezialisierten Vermögensanspruchs das Bankguthaben und die Banknote. Im Maße wie die Weltwirtschaft sich ausdehnt, erhöhen sich die Beträge dieser fünf Kategorien, im Maße wie die Wirtschaft dem einen oder andern Schaffensgebiet sich zuwendet, ändert sich das Verhältnis ihrer Wertbemessungen.

In Gestalt der Zirkulationsformen häufen sich die Vermögensbestände in zentralen Behältern, aus denen sie gesammelt oder verteilt den Bestimmungen zugeführt werden. In Argentinien ist der Bau einer Hafenanlage erforderlich. Ein Ventil wird geöffnet: deutsche, französische und englische Bankguthaben und Wechsel werden gegen argentinische Anleihe eingetauscht. Ein zweites Ventil: der argentinische Staat verfügt über sein Guthaben. Und gleichzeitig wird der lebende Vorgang sichtbar, dessen finanzielles Abbild soeben gebucht wurde: aus allen Häfen setzen sich Dampfer nach der Baustelle hin in Bewegung; sie tragen Säcke Zement, eiserne Schienen, Maschinenteile, Kessel, Kleider; Lebensmittel und Menschen. Werkstätten werden errichtet, Erdmengen bewegt, Krane montiert, Löhne ausbezahlt. Ministerreden gehalten, und die vereinigte Weltwirtschaft hat sich längst wieder andern Aufgaben zugewendet.

In gewissem Sinne lässt sich behaupten, die Mechanisierung des Besitzes sei der Mechanisierung der Produktion bereits vorausgeeilt. Denn indem das Kapital in seinem hydraulischen Zustande jeden Hohlraum des ökonomischen Bedürfnisses auszugleichen, von jeder Anhäufung überflüssiger Produktionseinrichtung abzuströmen strebt, treibt es einerseits zu Neugründungen, andrerseits aber auch zu Verschmelzungen und Aufsaugungen. So kann es kommen, daß ein Industrieller in sich selbst die Doppelnatur der Produktionsseite und der Kapitalsseite seines Unternehmens erlebt: als selbständiger, auf Tradition und patriarchalische Unabhängigkeit gestützter Fabrikant wünscht er die Isolation, als Verwalter eines Kapitals sieht er sich zur Vereinigung mit andern gedrängt.

Der anonymen, selbsttätig wirkenden und rationalen Organisation des Besitzes steht, nicht minder mächtig, wechselseitig sie stützend und von ihr gestützt, eine zweite Organisation gegenüber, die auf Herkommen, Anerkennung, Gewalt und Sanktion sich aufbaut, die Organisation des Staates. In ihr kämpft seit unvordenklichen Zeiten das mystische mit dem mechanischen Prinzip, das erste berufen, Herkommen und Ziele zu festigen, das zweite von den wachsenden Aufgaben und Sorgen des Augenblicks emporgetragen. Die mystische Stärke des Staates lag in seiner uralten Verbindung mit Religion und Kult. Von dem Zeitpunkt an, wo eine veränderte Wirtschaft, eine steigende Bedeutung der Bevölkerungsmenge, ein verstärkter Reibungskoeffizient in der Außenbewegung den Staat veranlasste, Toleranz zu üben, das Verbrechen der Nebenreligion zu ignorieren, fremdreligiöse Nachbargebiete anzuerkennen, war der Stützpunkt vom Unbedingten, Überirdischen ins Bedingte, Nützliche verlegt; der religiöse Staat war ein Sakrament, der Verwaltungsstaat ist eine Einrichtung. Das römische Imperium suchte vergeblich nach einem Ankergrund im Absoluten, Unantastbaren; es musste sich schließlich mit orientalischem Leibgardendespotismus abfinden und ging zugrunde. Der mittelalterliche Staat trug zwar nicht mehr in sich das Licht der Religion, doch spiegelte er die Strahlen der Kirche; und als die Gewalten sich entzweit hatten, erwies sich die germanische Gefolgeschaftstreue von ausreichender Idealität, um den Monarchen sakrosankt und den mit ihm verketteten Staat unberührbar zu machen.

Das erschütterndste Umsturzwort, das je aus königlichem Munde kam, sprach Friedrich der Große, indem er den Herrscher als Staatsdiener bezeichnete. Nicht in der Offenbarung preußischer Sachlichkeit und Pflichtbewusstheit lag das Entscheidende dieses Wortes, sondern vielmehr darin, daß das Königtum vom Mysterium, der Staat vom mystischen Königtum losgebunden wurde, und daß nunmehr der Staat nach Auffassung des königlichen Freigeistes zwar als höchste Einrichtung, immerhin aber nur als Einrichtung der Nützlichkeit und Wohlfahrt und als Menschen werk dastand.

Dies hindert nicht, daß gerade unsre Zeit, und zwar nicht bloß im feierlichen und festlichen Verkehr, die mystische Seite des Staates und der Staatsautorität zu betrachten liebt. Auch wäre es durchaus verkehrt, den Staat als eine Übergangsform anzusprechen, die geradeswegs zur Aktiengesellschaft höherer Ordnung führt. Noch immer schöpft er seine stärkste Lebenskraft aus absoluten Werten und Notwendigkeiten. Er bleibt der Garant der Nationalität, des Rechtes und der Ordnung; das Jahrhundert der Rationalisierung hat ihm überdies als Ersatz der schwindenden Mystik den Schutz der Religionen, der Erziehung, der Wissenschaft und Kunst übertragen. Sucht man nun bilanzmäßig zu ermitteln, wie weit der heutige Staat dem Prinzip der Mechanisierung unterliegt und dient, so handelt es sich darum, festzustellen, welche Funktionen ihm gelegentlich, welche Funktionen ihm notwendig zufallen; sodann abzuschätzen, wie weit diese notwendigen Funktionen mechanistischer Richtung folgen. Unberücksichtigt, doch nicht unbeachtet mag bleiben, daß der Staat in seinem Aufbau das Vorbild aller mechanistischen Organisationen geworden ist, und daß er an keinem Tage seines aufwandreichen Lebens die gemünzten Hilfsmittel mechanisierter Wirtschaft entbehren kann.

Von der Kirche sind die westlichen Staatsgebilde in ihrer überwiegenden Mehrzahl losgelöst, ohne daß man sagen könnte, sie hätten hierdurch ihren Staatscharakter eingebüßt.

Das eigentliche Regierungswesen, die Aufsicht über örtliche und regionale Verwaltungen, ist in den angelsächsischen Ländern bis auf eine leichte finanzielle Überwachung unbekannt, und es denkt niemand daran, im Interesse der Staatsvervollständigung diese Einrichtung einzuführen, ebensowenig wie man etwa in Frankreich oder in Preußen daran denkt, sie abzuschaffen. Auch sie darf daher nicht als ein notwendiges Organ des Staatskörpers gelten.

Die Aufsicht über das Erziehungswesen ist den Obliegenheiten des Staates erst in jüngster Zeit hinzugefügt worden. Sie zu beseitigen wäre vielleicht kein Fortschritt, doch eine Maßnahme, die dem Staatsleben nichts von seinem inneren Wesen rauben könnte; um so weniger als ein anerkanntes Erziehungsideal in Ländern starker Interessengegensätze nicht besteht.

Staatliche Unternehmungen des Verkehrs, der Industrie und des Handels, mögen sie als notwendige Funktionen angesehen werden oder nicht, entspringen und dienen der Mechanisierung.

Der Wissenschaftsbetrieb auf Grundlage privater Universitäten und Forschungsinstitute hat in den Vereinigten Staaten sich durchaus ebenbürtig den Staatsbetrieben andrer Länder erwiesen und somit den Begriff der immanenten Notwendigkeit dieser Verwaltungsgebiete erschüttert. Auf dem Gebiet der Kunst ist die Betätigung des lehrenden, bestellenden und bestimmenden Staates in den meisten Kulturländern unbedeutend, wo nicht schädlich.

Die staatliche Finanzwirtschaft beruht, soweit sie Einnahmen schafft, auf mechanisierter Wirtschaft und schließt sich ihr aufs engste an. Soweit sie Ausgaben begleicht, trägt sie die Färbung des Gesamtkörpers, dem sie dienstbar ist, und verhält sich somit im Sinne der gestellten Frage neutral.

Es bleiben, wenn man von allgemeiner Repräsentanz absieht, die unumgänglichen Funktionen des Staates: äußere Politik und Landesverteidigung, Gesetzgebung und Rechtsschutz.

Entschieden ist die Verteidigung der Nationalität beim heutigen Stande der Zivilisation eine notwendige, ja eine absolute Aufgabe. Indessen wird erhaltende und werbende Politik, verteidigende und angreifende Kriegführung weitaus überwiegend, vielleicht dauernd in den Dienst sogenannter Lebensfragen gestellt bleiben, die, solange nicht abenteuernde Menschen oder Nationen die Stetigkeit des Geschichtsganges unterbrechen, sich in Fragen der wirtschaftlichen Existenz auflösen lassen. Tatsächlich und normalerweise gelten neun Zehntel der politischen Tätigkeit den wirtschaftlichen Aufgaben des Augenblicks, der Rest den wirtschaftlichen Aufgaben der Zukunft.

Mit Ausnahme gewisser seelenpathologisch, religiös, historisch oder philosophisch gestimmter Gebiete der Kriminalistik, die außerhalb dieser Betrachtung stehen, dient die Justiz der Sicherheit und dem Schutz der wirtschaftlichen Person und Gesellschaft auf der Grundlage der bestehenden Besitz- und Mechanisierungsordnung.

Die Gesetzgebung wiederum, die alle Gebiete des öffentlichen und privaten Lebens auf Grund der herrschenden Zeitanschauung regelt und ausgleicht, fügt ebensowenig wie die Säckelmeisterei dem Gesamtbilde eine neue Farbe zu.

So darf man zusammenfassend sagen, daß der heutige Staat trotz der Zuflüsse an absoluten Aufgaben, die ihm im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte beschieden waren, in seinem innersten Wesen den Gesetzen und Evolutionen der Mechanisierung gefolgt ist.

Ihn als eine bewaffnete Produktionsvereinigung auf nationaler Grundlage hinzustellen, wäre vielleicht verfrüht; ihn als eine mystische Institution oberhalb der mechanisierten Wirtschaft und Gesellschaft zu betrachten, sicherlich verspätet.

Selbst solche Lebensgebiete, die von materiellen Zielen und Einwirkungen losgelöst erscheinen wie Religion und Wissenschaft, haben sich mechanistische Umformungen gefallen lassen müssen. Es ist hier nicht der Ort, zu entwickeln, wie die in Kirchen verkörperten Religionen mit wachsender Gebietsausdehnung und Bekennerzahl sich zu Betrieben ausgestalteten, wie sie lernten, durch stillschweigende wechselseitige Duldung ihrem innersten Wesen das schwere Opfer der Arbeitsteilung zuzumuten, wie sie hierarchisch, finanziell, bureaukratisch und geschäftlich ihre Verwaltungskörper auszubauen gezwungen waren, wie sie propagandistisch wetteifern, ja selbst mit Gegnern über Teilung der Gebiete, man möchte sagen: des Absatzes sich verständigen mussten, wie sie unter Ausnutzung jeder aktuellen Verschiebung der Lage politische, wirtschaftliche und soziale Mächte in den Dienst ihrer Interessen zu ziehen hatten.

Der Weltbetrieb der Wissenschaften, neben dem Kapitalismus die großartigste der anonymen und internationalen Organisationen, mit seinen peinlich beobachteten Gebietsabgrenzungen, seinem hochentwickelten Nachrichtenwesen, seinem großindustriell angelegten Laboratoriumsbetrieb, seiner Wechselbeziehung zur Technik, seinen Verbänden und Kongressen ist genügend gekannt und gerühmt, um eine Vertiefung in seine Mechanisierungsform entbehrlich zu machen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Walther Rathenau Gesammelte Schriften - Band 1