Das leibliche Ideal

Das leibliche Ideal. Trotz der unendlichen Mannigfaltigkeit des Gegenstandes können ihm einige kennzeichnende Züge abgewonnen werden. Es ist dem griechischen ähnlich, aber schlanker, weniger gerundet, straffer gemuskelt. Der Kopf größer, aber immer noch klein im Verhältnis zum Körper, der Hals dünner und länger. Die Nase stärker gebogen als die griechische und bedeutend schmaler, aber gleichfalls lang. Die Lippen weniger voll, die Wangen weniger tief, die Stirn flacher. Vor allem das Weib weniger breitbrüstig und heroinenhaft, zarter und jungfräulicher. Alles in allem der Leib feiner und rassiger, mehr den equestrischen als den gymnastischen Übungen angepasst.

Zweifellos ist dieser blonde und blauäugige Idealtypus den überlebenden germanischen Naturen entlehnt: er tritt überall da hervor, wo die Aufzehrung noch nicht vollendet ist, selbst in Frankreich. Spanien, das Land der frühesten Vermischung, kennt ihn in seiner neuzeitlichen Kunst nicht mehr; in Italien herrschte er bis zum Ende der Frührenaissance; mit dem beginnenden Barock war er, wie zu erwarten, verschwunden. Heute steht der spanische Idealtypus dem arabischen, der italienische dem gräkoromanischen näher, und südfranzösische Künstler beginnen, die volleren Formen der Frauen ihres Landesstriches zur Norm zu erheben.


Die Beibehaltung des germanischen Körperideals zeigt, was auch ein Blick in neupreußische Verwaltungs- und Militärverhältnisse bestätigt, daß das Volk unbewusst das reinere Germanentum, soweit es ihm noch sichtbar vor Augen steht, als das edlere Blut, sich selbst als Abkömmling unterdrückter und unedler Geschlechter betrachtet. Zu dieser Selbstlosigkeit stimmt die humorvolle Bescheidenheit, in der ein Teil des deutschen Bürgertums sich mit Familiennamen abfindet, die bloße Gattungs- und Berufsbezeichnungen bedeuten, und die zuweilen verderbt slawisch, unverständlich, absurd oder vulgär klingen, während der weniger entgermanisierte Nordseestrich, vor allem aber Skandinavien, die Benennung nach dem Vorfahren sich erhalten hat.

Das menschliche und das ethische Ideal sind vereint zu betrachten, denn sie hängten durch die Grundanschauungen des Zielbewusstseins zusammen.

Im Menschlichen herrschen die alten germanischen Idealbegriffe des Mutes und der Großmut. Der mutig Kraftvolle wird bewundert und geliebt; ihm ist alles erlaubt, was er durch souveräne Gewalt durchsetzt, sofern er sich als ein großmütiger, gerechter und milder Herr erweist, jedoch mit der neuzeitlichen Einschränkung, daß nicht etwa geschädigte oder erschreckte Individuen und Gesellschaften sich entrüsten dürfen. Der Aufrührer, der Revolutionär, der kirchliche Empörer, der Konquistador werden gepriesen, verehrt und, wenn sie Erfolg haben, staatlich anerkannt. Verachtung trifft, abgesehen vom vertierten Menschen, eigentlich nur den Feigling und seine heimlichen Taten. Hinterlist, Betrug, Diebstahl, ja selbst Lüge, die im außergermanischen Kreise als zulässige Diplomatie gilt, werden verabscheut und in neuzeitlicher Abstufung nach Maßgabe der Vermögensgefährlichkeit bestraft. Den Taten der Leidenschaft und des Übermuts steht das Volksbewusstsein indifferent, ja mit einer Art von Wohlwollen gegenüber, sie sind Gegenstand der Dichtung, und der Kontrast zwischen menschlichem Verstehen und sozialer Sühneforderung bildet tragische Konflikte. Handlungen der Großmut und mutiger Aufopferung begeistern, Ausflüsse der Güte, der Friedfertigkeit, des Erbarmens lassen kalt. Ein feiger Mensch könnte, abgesehen von slawischer Literatur, heute noch nicht Held europäischer Gedichte sein, auch wenn er mit allen Tugenden der Evangelien ausgestattet wäre. Dagegen lässt sich eine gewisse Verschiebung des Idealtypus in der Richtung der Energie und des Intellekts feststellen. Amerikanische Menschen des Erfolges beginnen den Massen zu imponieren; mutige Erfinder und Entdecker werden höher gefeiert als vordem Kriegshelden; zum Lesebuch des Volkes ist nach Ritter- und Indianergeschichten der Detektivroman geworden. Ja es beginnt hier bereits eine große Verwirrung des bürgerlichen Empfindens: in einer Zeit, die den Erfolg an die Stelle des Sieges gesetzt hat, kann man nicht umhin, sich einzugestehen, daß den Helden von ehedem die Eigenschaften fehlen, welche die Mechanisierung verlangt. Man strebt, den Erfolgreichen nachzuahmen, und kann somit nicht unterlassen, sie zu bewundern, wo nicht gar zu lieben. Das germanische Ideal, das dem Ansturm des Christentums durch ein Jahrtausend standhielt, ist durch die Mechanisierung erschüttert.

Sichtbarer noch sind die Einwirkungen der neugestalteten Zivilisation auf die Ethik der Gemeinschaft, zumal auf die Schärfung des öffentlichen Gewissens. Die christliche Kirche durfte alles menschliche Elend als Prüfung bezeichnen und auf das Jenseits verweisen; die Reformation konnte in großartiger Verneinung auf jegliches fromme Verdienst verzichten. So begnügte sich die älteste Zeit hinsichtlich aller Wohlfahrtsbestrebungen damit, Siechenhäuser, Irrenkerker und Klostersuppen zu stiften, und alles übrige der bürgerlichen Barmherzigkeit anheimzustellen. Die mechanistische Epoche dagegen übernahm von ihren Schöpfern, unterdrückten und furchthaften Stämmen das Mitleid, das nichts anderes als eine altruistische Furchtempfindung ist. In der Verherrlichung dieses Leidens zum ethischen Ideal lag zweifellos eine gewisse Diesseitigkeit der Anschauung, ja ein ethischer Materialismus; doch ist durch die gesetzgeberische und organisatorische Ausgestaltung des Wohlfahrtswesens, vor allem aber durch die Überzeugung des öffentlichen Gewissens, daß alles menschliche Elend als Blutschuld der Gesellschaft zu erachten sei, ein Wert von so gewaltiger Wirklichkeit entstanden, daß jede künftige Einschätzung der Mechanisierung ihn in Rechnung zu stellen haben wird.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Walther Rathenau Gesammelte Schriften - Band 1