Das religiöse Ideal

Das religiöse Ideal. So mächtig die Kirche das Leben der früheren Jahrhunderte durchdrang, so gering war die Wirkung der in ihr verkörperten reinen christlichen Ideen auf das Germanentum. Widerwillig aufgenommen, durch Höllenzwang gefestigt, konnte die Kirche den Abgrund, der zwischen dem Worte Christi und ihren hierarchischpolitischen Aufgaben lag, nicht überbrücken. Mit dem Mutideal des Germanen, das ihren Lehren der Demut widersprach, musste sie sich abfinden; die wenig evangelischen Sitten abendländischer Lebensweise, Politik, Kriegführung musste sie dulden, ja ihren irdischen Zielen dienstbar machen. Den letzten transzendenten Inhalt ihrer Verkündigung durfte sie den Massen nicht übermitteln, um nicht die weltliche Ordnung zu stören oder aufzuheben. Die Lehre von der Liebe, der Weltflucht, der Demut, der Kindlichkeit, der Zweckfreiheit, dem Gottesreich blieb esoterisch, ein Besitz der Heiligen. Ins Volk drang der Mariendienst, die Geschichte der Geburt und der Leiden Jesu, der Olymp der Heiligen, der Begriff der Sünde und der Gnade, Himmel und Hölle. Diese Inhalte haben die Kunst aufs glücklichste befruchtet, sie haben manches fromme Gemüt mit göttlicher Ahnung erfüllt und starke Gewissenszwänge auf die jungen Völker ausgeübt; die Ideen Christi haben sie dem Abendlande nicht mitgeteilt. Man kann deshalb fast durchweg in der vorreformatorischen Geschichtsschreibung Europas den Begriff des Christentums durch den der Kirche ersetzen. Die Reformation hat neben ihren großen dogmatischen und rituellen Umgestaltungen die Evangelien literarisch erweckt und aus ihrem Inhalt so viel überströmen lassen, daß den Schwachen Tröstung, den Mächtigen Erbauung gespendet wurde. Ein evangelisches Leben in Wahrheit zu verwirklichen, hat auch sie nicht versucht und ist somit Kirche geblieben. Ja mehr noch: sie war Macht und diente der Macht, so daß gelegentlich der naiv-verruchte Gedanke aufkommen konnte: da nun einmal Christus die Notleidenden tröstet, so möge ihnen damit genug sein; man gebe ihnen statt Brot steinerne Kirchen, um sie desto besser in göttlicher Furcht und menschlicher Abhängigkeit zu erhalten.

Die beginnende Mechanisierung fand sich somit der Macht zweier Kirchen gegenüber und wandte gegen sie das ganze Arsenal ihrer Forschungsergebnisse und Verstandesmethoden; zum Christentum selbst drang sie nicht vor. Selbst der späte und reiche Geist Nietzsches wütete gegen die Kirche, indem er glaubte, mit Christus zu kämpfen.


Noch heute ist die mechanistische Epoche in christlichem Sinne nicht weitergekommen. Sie hat den kirchlichen Liberalismus emporgebracht und ringt in materieller Auffassung um dogmatische Zugeständnisse. Populär-historische Fragen werden mit Leidenschaft erörtert, und das Ziel erscheint eine dritte Kirche mit unpersönlichem Dogma.

Auch da, wo die Zeitanschauung sich vom Christentum löste, konnte sie ihr religiöses Empfinden vom terrestrischen Bande der Vernunft nicht befreien, gleich als ob eine vielbeschäftigte Zeit es für angemessen hielt, die göttlichen Dinge mit der Geistesmechanik des Alltages zu erledigen, um nicht allzuweit von ihren vermeintlich produktiveren Aufgaben hinweggerissen zu werden. So griff sie denn immer wieder zu den plumpen Hebeln des Materialismus, ließ sie unüberzeugt fahren, wenn angesehene Leute ihr ins Gesicht lachten, und spähte beständig nach heimlicher Gelegenheit, um zu ihrem Lieblingsspielzeug zurückzukehren.

Denn bei den edleren ungermanischen Rassen mischt sich — wie bei den Juden ersichtlich — in seltsamer Weise Aberglauben mit hoher Transzendenz. Der abergläubische Teil sieht in der Religion die Mirakelseite des Naturgeschehens. Glaubt er sich von Mirakeln und Gebetwundern unterstützt, so behält er eine gewisse dumpfe Dämonologie bei, nicht ohne sich seiner Unaufgeklärtheit ein wenig zu schämen. Hat er enttäuscht oder kämpfend dem Wunderwesen ein Ende gemacht, so lässt er sich im Gefühl erledigten Vorurteils mit einer entgötterten Welt oder einem deistischpantheistisch verwalteten Naturtheater genügen. Der Anspannung der Seelenkräfte, des religiösen Erlebens, der transzendenten Intuition ist ein anderer Teil dieser Menschen von jeher in hohem Maße fähig gewesen; doch haben ihre Stimmen in der mechanistischen Welt bisher wenig Nachhall gefunden. Die Anschauung dieser Welt geht eben dahin, alles Geschehene sei unerstaunlich, von ausschließlicher Realität, nicht ethischen, sondern mechanischen Gesetzen unterworfen, ohne absolute Werte, durch Vernunft erschöpfbar. Diese Anschauung ist aber nichts anderes als die Gefühlslokalisierung der Tatsache, daß der noch junge mechanistische Prozess die Seelenkräfte zugunsten der Geisteskräfte unterdrückt. Sollte dieser Zwangszustand nachlassen, so würde die entgermanisierte Bevölkerung an transzendenten Kräften sich reich genug erweisen, um ein von Erdenfesseln freies religiöses Ideal emporzutragen: Beweis ist die echte und große Sehnsucht edlerer Naturen, die mit nicht geringerer Inbrunst als vor zweitausend Jahren auf Erlösung wartet.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Walther Rathenau Gesammelte Schriften - Band 1