Die Ideale

Einem Menschen kann man nicht tiefer ins Herz blicken, als wenn man seine Träume und Wünsche erforscht und deutet. Wollen wir unser Bild vom Wesen dieser Epoche vertiefen, so können wir nichts Besseres tun, als den Spuren ihrer Ideale nachzugehen; denn sie sind nicht nur die bewussten und unbewussten Träume, Ahnungen und Sehnsüchten einer Gemeinschaft, sondern zugleich verklärte Spiegelungen ihres eigenen Wesens. Ein Mensch kann vom andern träumen, sich mit ihm vergleichen, ihn bewundern, sich nach ihm formen: die Gemeinschaft träumt nur sich selbst; denn fremdes Wesen ist Kenntnis des einzelnen, der Gesamtheit ist es unwichtig und unbekannt

Nun folgt sofort ein Widerspruch: Damit das Spiegelbild klar und rein erscheine, muss die projizierende Flamme gleichmäßig leuchten: nur homogene Gemeinschaften haben Ideale. Ein Engländer, ein Franzose, ein Neger und ein Mongole, die sich im Eisenbahnwagen unterhalten, können sich vielleicht über letzte nebelhafte Ziele der Menschlichkeit verständigen; ihre Begriffe von dem, was schön, gut und wahr ist, werden weit auseinandergehen. Nun ist aber die europäische Gemeinschaft ein Verschmelzungsprodukt zweier Schichten, die nicht durchweg und gleichmäßig sich durchdrungen haben: von der Legierung bis zur Mengung findet von Süd nach Nord ein mählicher Übergang statt, überdies mit wechselnden Massenverhältnissen der Komponenten. Ist dieses Gemenge genügend gleichförmig, um Ideale zu erzeugen?


Sodann: die mechanistische Lebensform ist ein Kreislauf ohne Ziel, eine sich selbst verstärkende Maschinerie ohne Tendenz nach außen, in sich geschlossen und ausschließlich: kann sie absolute Ziele und Werte schaffen oder auch nur anerkennen oder selbst erhalten? Wird sie nicht am Ende dahin neigen müssen, alles im Menschen zu beschwichtigen, was an Fragen, Hoffnungen und Träumen in ihm auftaucht, weil diese immateriellen Regungen ihn dem Arbeitsprozess entziehen? Wird sie nicht immer wieder ihre handgreiflichen Werte, ihre rechnerischen Denkformen, ihre tatsächlichen Forschungen emporheben, um ihre Gefolgschaft zu blenden oder zum mindesten durch Zwiespalt zu beherrschen?

Ein annähernd lückenloses Bild der zeitgenössischen Ideale wird sich uns nicht entrollen. Wir werden uns begnügen müssen, aus Bruchstücken halbzerstörter Untermalung und aus neu hervortretenden Umrisslinien den Sinn der Zeichnung zu erraten: Hier und da werden alte und neue Formen sich durchkreuzen, hier und da werden wir Gebilde unter dem Hauch der Mechanisierung erloschen finden; doch wird der Eindruck des Erkennbaren die Vermutung rechtfertigen, daß überall da, wo die fortschreitende Homogenisierung bereits Grundzüge neuer Ideale festgelegt hat, die alten merklich dem Verlöschen sich nähern. Wie bisher wird die Darstellung die den westeuropäischen Ländern gemeinsamen Züge hervorzuheben suchen, und dort, wo Sonderung erforderlich scheint, den deutschen Verhältnissen sich zuwenden.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Walther Rathenau Gesammelte Schriften - Band 1