Das Ideal der Kunst

Das Ideal der Kunst. Die Kunst entstand aus Schmuck und Spiel primitiver Völker. Die erste Segnung wurde ihr zuteil, als sie im Stande beginnender Zivilisation als Handwerk gebunden wurde. Hieraus erwuchsen ihr die Vorteile der technischen Bindungen an Materialien und Kräfte, der traditionellen Summierung der Erfahrungen durch Generationsreihen, der Kurzschrift und Symbolik des Ornaments, der Vorräte an landläufigen Inhalten und Gegenständen, der Gefolgschaft einer im Mitempfinden und Verstehen fortschreitenden Bevölkerung.

Eine zweite Steigerung geschah, als Könige, Priester und Herren die Kunst ihren Hofhaltungen dienstbar machten, denn es wuchs die Größe der Aufgaben, es entstand, von reicheren Mitteln gefördert und dem Alltäglichen überhoben, ein Zusammenwirken der Kräfte zu vorbildlichem, monumentalem Schaffen.


Die dritte und höchste Weihe wurde der Kunst durch Eroberung aufgezwungen. Kunstfremde, aber hochgeartete, dem Wesentlichen zugewandte Kriegsstämme unterwarfen die kunstfertige Zivilisationsmasse, die an die Grenze ihrer eigenen Entwicklungsmöglichkeit gelangt war, und festigten ein Adelsregiment, das wohlwollend und aufs Große gerichtet die Kunst zu sich emporzog, indem es ihr den Inhalt des individuellen, des seelenhaften, des gefühlstiefen Lebens verlieh. Bis in die historische Zeit hinein können wir derartige Vorgänge gewaltsamer Befruchtung verfolgen; Oberitalien, Nordfrankreich, Sizilien, Spanien bezeugen sie. Dass Hochkultur niemals anderen als zweischichtigen, von kriegerischen Aristokraten beherrschten Nationen beschieden war, haben wir uns vergegenwärtigt, wie auch ferner, daß erst der Vermischungsprozess die letzten und tiefsten Kräfte entbinden konnte.

War die Mischung geschehen, die Masse geflossen und beruhigt, so geschah in allen Jahrhunderten und in allen Nationen das Gleiche, in Griechenland wie im Italien der Renaissance, in Holland wie in Frankreich, in Italien wie in Deutschland: die Kunst hatte ihren transzendenten, ihren religiösen, ihren seelenhaften Inhalt verloren, sie war wiederum zur rein sinnlichen Kunst geworden.

Das Wort fordert eine Erläuterung. Freilich muss alle Kunst vor allem anderen sinnlich sein, denn durch die Sinne wird sie uns zuteil und wirkt auf unser inneres Leben. Unter rein sinnlicher Kunst aber soll diejenige verstanden sein, die auf dem Wege der Sinne nur das sensitive, nervöse, der Erde zugewandte und von ihr abhängige Leben ergreift, während transzendente Kunst bis in das Urgebiet der Seele, bis in die undifferenzierten Regionen vorzudringen vermag, in denen jenseits aller Wünsche und Begierden die ewige Einheit und Harmonie ahnbar wird. Den Gegensatz des Sinnlichen und Transzendenten kann man nicht deutlicher als in Beethovens Kunst erfassen, etwa im Vergleiche des Septetts oder der Fidelioouverture mit der Missa Solemnis. Im Sinne dieser Unterscheidung beschränkt sich der Begriff der sinnlichen Kunst durchaus nicht auf das Gebiet niedriger Reizungen; auch Gebilde unvergänglicher Schönheit sind in diese Bestimmung eingeschlossen, wie die vom Pathos der Angst und der Beschwörung durchtobten Psalmen der Hebräer.

Dies aber kennzeichnet die Künste der Verschmelzungsepochen, daß sie immer wieder den Weg eingeschlagen haben vom Religiösen zum Ekstatischen und Deklamatorischen, vom organisch Struktiven zum stimmungsmäßig Koloristischen, vom Architektonischen zum Dekorativen, vom Gemütvollen zum Sentimentalen, vom Ergreifenden zum Sensationellen; symbolisch gesprochen: von der Linie zur Farbe und vom Organismus zum Eindruck.

Während der früheren Perioden der Abstiege wurde die Kunst aus ihren beiden ältesten Bindungen, der handwerklichen und der höfischen, nicht entlassen; im Gegenteil, ihre äußeren Fesseln verengten sich. Der souveräne Auftraggeber war anspruchsvoller, verwöhnter, eigensinniger geworden und zwang das Metier zur äußersten Anspannung seiner technischen Fertigkeiten, und an die Stelle kontrollierenden aristokratischen Geistes trat die geschulte Zunft der Kenner, die nicht aus Reinheit des Empfindens, sondern nach bequem erlernbaren Regeln urteilte und Tradition in Konvention verwandelte. Unter solchem Zwang kamen seelenlose, aber meisterlich vollendete Werke zustande, die durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder das Gefallen der Mächtigen erregten, und die von einzelnen für unsere Zeit ersehnt werden.

Freilich vergebens. Denn die mechanistische Epoche hat längst diese beiden Bindungen der Kunst gelöst. Die eine musste fallen, weil bei erhöhtem Volkswohlstand und doppelt erhöhter Kunstproduktion nur noch die bürgerliche Gesellschaft als Bestellerin auftreten konnte; die andere, weil alles Handwerk erstarb und mit ihm der Stolz der Geschicklichkeit, der Übung und der Überlieferung. So war die Kunst befreit durch den Bruch der Kontrolle und den Bruch der Tradition; aus Hofkunst wurde Bürgerkunst, aus Handwerkskunst Talentkunst. Gleichzeitig aber war eine dritte Richtung der Freiheit eröffnet; denn durch Forschung, Verkehr und technische Mittel erschlossen lag plötzlich alles vergangene, alles fremdländische Kunstwesen handgreiflich vor aller Augen. Man erkannte, daß, von wechselnden Verhältnissen bedingt, jede Form, jede Richtung, jeder Inhalt möglich, keine Bedingung absolut, keine Lösung ewig war. Nun begann ein Wühlen und Wählen, das nun schon drei Menschenalter andauert, und dahin zu führen scheint, daß man künstliche Bedingtheiten möglichst nationaler Art erfindet, um nicht aus Reichtum zu verarmen und den beschämenden Weg der karnevalistisch travestierenden Mode zu wandeln Maß man also von Schranken befreite Sinneskunst als das Kunstideal der Mechanisierung bezeichnen, so darf daran erinnert werden, daß eine Länder und Generationen überblickende Betrachtung ebensowenig zu Wertbemessungen wie zu ausschließlichen Urteilen gelangen darf. Das vorahnende Fühlen der Kunst, vielfach zusammenwirkend mit der Kontraimitation, die den rasch abstumpfenden Geschmack dieser Zeit dem Kontrast entgegentreibt, hat zeitiger als auf anderen Lebensgebieten Gegenströmungen in der Kunst erweckt, die auf Beschränkung und Verinnerlichung hinstreben. Freilich haben solche Regungen, die uns vornehmlich in der deutschen Dichtung entgegentreten, einen doppelten Kampf zu bestehen: mit den Schreibern, die Rückfälligkeiten ahnden — denn im Kunstbetriebe verlangt man nach mechanistischem Gesetz stets das äußerlich Neue — und mit dem Publikum, das seine sauer erworbene Revolutionsgesinnung noch lange nach Friedensschluss zäh verteidigt.

Inzwischen spielen die Wirkungen der mechanisierten Produktionsform unmittelbar in die Werkstätten der Künste hinein. Die Erschwerung des Existenzkampfs, die Konkurrenz, der massenhafte Bedarf und seine massenhafte Deckung, die Publizistik, das Ausstellungswesen, die Aushilfsbeschäftigungen treiben zu hastiger, skizzenhafter, äußerlich aufgereihter Produktion; die Grenzgebiete zwischen Kunst und Geschäft verzehren einen starken Teil der Arbeitskraft. Das Spiel der Mode tritt hinzu, der Drang zum Neuen, die Vormacht des weiblichen und des gewerbsästhetischen Urteils, zuletzt die geschäftliche oder tendenziöse Begründung der Aufträge; so darf es nicht wundernehmen, daß die bedächtigste der Künste, die Architektur, unter der Mechanisierung ihrer vielgeschäftigen Betriebe zum kunsthistorischen Dekorationsgeschäft herabsank, und daß die jüngste französische Malerei in Technik und Inhalt ihrer Werke sich indianischen Darbietungen nähert.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Walther Rathenau Gesammelte Schriften - Band 1