Das Ideal der Wissenschaft

Das Ideal der Wissenschaft. Welch wunderbare Vorbestimmung für Wissenschaftsbetrieb den germanisch durchsetzten Völkermischungen innewohnt, haben wir gesehen. Die Liebe der Urvölker zum Tatsächlichen als Grundlage der Forschung, die Idealität der Germanen als unbeirrbare Instanz der Betrachtung mussten sich verbinden, um das mechanistische Wunder der Zeiten, die moderne Gesamtwissenschaft, möglich zu machen. Die eigentümliche Richtung jedoch, die den Wissenschaftsgeist zum mächtigsten Faktor der Mechanisierung erhob, verdankt sie der Zweckhaftigkeit der einstig Unterdrückten. Wenn der phantastische Mensch sich mit der vereinfachenden Erklärung begnügt und den Donner als Gottesstimme, den Himmel als eherne Sphäre hinnimmt, so verlangt der Zweckhafte, die Erscheinung sich dienstbar zu machen, sie ganz zu besitzen, wie er sagt: dahinterzukommen. Er stellt die sieben Fragen, wittert Widersprüche, verlangt Beweise. Diese Beweise aber kann nur die Rechnung liefern, weil sie als unumstößlich gilt, und so beginnt er zu zählen, zu messen, zu wägen, zu rechnen. Es hat etwas Einleuchtendes, daß Nomaden, die ersten Besitzer zahlenmäßiger Güter, Erfinder des rechnerischen Denkens auf Erden gewesen sind; und somit wären die Patriarchen der Hirtenvölker nicht nur die Väter des Kapitals, sondern auch der exakten Wissenschaft. Indem nun die Wissenschaft die rechnerische und experimentelle Ermittlung des Gesetzmäßigen zum höchsten Prinzip erhob, entäußerte sie sich in einem Akt großartiger Selbstverleugnung für immer der Spekulation und der Hoffnung auf absolute Erkenntnis. Sie widmete ungezählte Geschlechter der Lösung umschränktester Aufgaben, indem sie es sich genügen ließ, das ungemessen zuströmende Material des Tatsächlichen in das Netzwerk der Gesetzmäßigkeiten zu verflechten und hierdurch für die Menschheit erträglich zu machen. Der Mechanisierung zugeführt, hat die Summe der entdeckten und errechneten Tatsachen und Zusammenhänge erstaunliche technische Ergebnisse gezeitigt; im Sinne der Erkenntnis gemessen, hat sie das Gebiet des Unbegreiflichen zwar mit neuen Fragestellungen bestürmt, jedoch nicht verkleinert, sondern vergrößert. Das Prinzip der mechanischen Gesetzmäßigkeit aber hat sich derart als wissenschaftliche Denkform unserer Zeit festgesetzt, daß die erzählenden, schildernden und urteilenden Wissenschaften nur so weit als reine Wissenschaften erscheinen, als sie sich dieser Form bedienen können, im übrigen als Verwandte der Technik und der kritischen Kunst sich anlassen.

Der zweckhafte Einschlag, der die Wissenschaft zur Exaktheit zwang und ihr Ideal zu einem im höchsten Sinne geometrischen machte, durchdringt, wie den Betrieb, so die Menschen, die ihm angehören, und unterscheidet sie auf das entschiedenste von künstlerisch schaffenden.


In einer Zeit, die den gewaltigsten Besitz der Urvölker, die ethische Produktivität, noch nicht zutage gefördert hat, sind sie die höchsten Vertreter des Zweckmenschentums, und ihr geistiger Schatz kann als der Idealismus der Materiellen gelten.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Walther Rathenau Gesammelte Schriften - Band 1