Abschnitt 1

Le Diner.


In dem Speisesaale herrschte, trotz Kaminfeuers, die im Eßzimmer sich ziemende niedrige Temperatur. An einem ovalen Tische war gedeckt. Die Gräfin saß, wie herkömmlich, zwischen Krach und Drosselstein, ihr gegenüber Renate. Jäger und galonierte Diener waren geschäftig; ein Kronleuchter brannte.


Der Graf überblickte, während er das Serviettentuch einknotete, den Saal, dessen architektonische Verhältnisse, durch einfache Ausschmückung unterstützt, auch heute wieder den angenehmsten Eindruck auf ihn machten. Es waren vier Stuckwände, gelblich getönt, von Goldleisten eingefaßt, am Plafond ein Deckenbild, das „Gastmahl der Götter“ darstellend, eine Kopie nach dem bekannten Fresko der Farnesina. Krach und Rutze, wie sich klarmachend zum Gefecht, schoben die Gläser hin und her, Drosselstein aber wandte sich jetzt der Gräfin zu, um nach einigen der Erbauerin des Saales und ihrem Geschmacke geltenden Verbindlichkeiten nach dem Grafen Narbonne, dem ersten Adjutanten des Kaisers, zu fragen, der, wie die Zeitungen gemeldet, am Weihnachtsheiligabend auf seiner Rückkehr von Rußland beim Könige gespeist habe.

„Ich hörte davon“, erwiderte die Gräfin; „auch General Desaix war zugegen. Graf Narbonne, oh je me le rapelle trèsbien. Er gehörte dem alten Hofe an, war ein Liebling Marie Antoinettens und lancierte sich geschickt in das Empire hinüber. Wissen Sie, was ihm das Herz des Kaisers eroberte?“

Drosselstein verneinte.

„Eine Sache der Etikette. Also eine Bagatelle, ein Nichts, wie die Leute von heute sagen würden. Aber die Parvenus sind auf keinem Gebiete so bereitwillig, zu lernen und zu belohnen, als auf diesem. Ich habe die Anekdote aus Graf Haugwitz’ eigenem Munde. Es war unmittelbar nach der Kaiserkrönung, als Narbonne, damals Oberst, dem Kaiser eine Depesche überbrachte. Er ließ sich auf ein Knie nieder und präsentierte den Brief auf seinem Hute. ?Eh bien?, rief der Kaiser, ?qu’est ce que cela veut dire?? Der Oberst antwortete: ?Sire, c’est ainsi qu’on présentait les dépêches à Louis XVI.? ?Ah, c’est trèsbien?, antwortete der Kaiser, und Narbonne war als Günstling installiert. Übrigens sind auch die Desaix vom ancien régime, alter Adel aus der Auvergne.“

Rutze hatte gleich anfangs aufgehorcht, als General Desaix genannt worden war. Jetzt, wo die Gräfin den Namen wiederholte, wandte er sich mit der bestimmten und doch zugleich von einer Unglücksahnung durchzitterten Bemerkung zu ihr hinüber: daß seines Wissens General Desaix im Kriege gegen die Österreicher gefallen sei. Er entsinne sich eines Musikstückes: „Die Schlacht bei Marengo“, in dem es am Schluß in einer Parenthese geheißen habe: „Desaix fällt.“

Selbst über Krachs unerschütterliches Antlitz flog ein Lächeln; Drosselstein wollte aufklären, Bamme jedoch kam ihm zuvor und begann mit jener erkünstelten Feierlichkeit, in der er Meister war: „Ja, Rutze, es ist eine tolle Welt. Da fällt einer anno 1800 bei Marengo in voller Junihitze, und am Heiligen Abend 1812 sitzt er bei Seiner Majestät von Preußen zu Tisch. Es sind unglaubliche Kerls, diese Franzosen. Nicht mal ihre Toten ist man los. Sie drängen sich in Diners ein; wer weiß, was wir heute noch zu erwarten haben. Im übrigen wird es wohl ein älterer oder jüngerer Bruder gewesen sein.“

Der Protzhagener Hauptmann verfärbte sich und antwortete pikiert: er danke dem General von Bamme für die schließliche Lösung des Rätsels, müsse sich aber die Bemerkung erlauben, daß es hierzu keiner besonderen Husarenschlauheit bedurft hätte. Aufschlüsse wie diese lägen auch noch innerhalb des Infanteriebereichs.

Bamme lachte; jede Form der Entgegnung war ihm recht. Er nahm nichts übel und befand sich in der glücklichen Lage, um eines Mutes willen, den niemand bezweifelte, seine Pistolen nicht erst laden zu müssen.

Der Zwischenfall währte nicht lange; die Gräfin beschwichtigte, und ein vorzüglicher Chablis, der gereicht wurde, kam ihr zu Hilfe, während von Medewitz, ohne Furcht, dem Streite dadurch neue Nahrung zu geben, die Namen Narbonne und Desaix noch einmal in die Debatte zog. „Es sind doch Männer von Familie, der eine wie der andere“, so hob er an, „aber mit wie sonderbaren Leuten hat Seine Majestät vom ersten Tage seiner Regierung an zu Tische sitzen müssen! Mit einem war ich im Weißen Saale selbst zusammen, mit dem Abbé Sieyès. Ich erschrak, als ich seinen Namen hörte. 1793 sprach er einem Könige von Frankreich das Leben ab, und 1798 saß er einem Könige von Preußen als Ambassadeur gegenüber. Er trug eine trikolore Schärpe; ich sah nur das Rot darin, und sooft er sagte: ?Votre Majesté?, war es mir immer, als hörte ich: ?La mort sans phrase?.“

„Ich habe ihn auch gesehen«, bemerkte Krach, mit Wichtigkeit an seinem Halstuch zupfend. „Medewitz will ihn nicht gelten lassen, aber er war doch wenigstens ein Abbé. Auch gehört etwas dazu, einem Könige von Frankreich das Leben abzusprechen. Doch diese Marschälle! Gastwirts- und Böttchersöhne.“

„Je nun“, fiel Drosselstein ein, „Böttchersöhne oder nicht, sie haben von halb Europa so viele Reifen abgeschlagen, daß die Dauben nach rechts und links hin auseinandergefallen sind. Ich liebe diese Marschälle nicht, an denen die Korporalslitzen immer wieder zum Vorschein kommen, aber eines sind sie: Soldaten.“

„Das sind sie!“ rief jetzt Bamme, sein Ragout en Coquille schärfer in Angriff nehmend, »und wer nur je einen Halbzug ins Feuer geführt hat, der hat Respekt vor ihnen, Schelme und Beutelschneider wie sie sind.«

„Wie sie sind“, wiederholte der Domherr, eingedenk jener schweren Tage, in denen er seine Dosensammlung nur mit Mühe vor den Händen Soults gerettet hatte.

„Nur einem trag’ ich einen Groll im Herzen“, fuhr Bamme fort.

„Davoust?“ fragte Lewin.

„Nein, Seiner neapolitanischen Majestät dem König Murat. Der will im großen und kleinen etwas Besonderes sein, unter anderen auch ein gewaltiger Reitergeneral, weil er das Mamelukengesindel in den Sand geritten hat. Aber ein Zietenscher hat ihm einen Streich gespielt, noch dazu ein Invalide. Ich meine den alten Kastellan Kettlitz in Charlottenburg.“

Alles zeigte Neugier und drang in ihn, zu erzählen.

Es hätte dessen nicht bedurft. „Die Geschichte ist seinerzeit wenig bekannt geworden“, hob er an; „ich habe sie von Kettlitz selber. Am 14. Oktober hatten wir die Affaire von Jena, und zehn Tage später war die französische Avantgarde in Berlin, Murat aber, damals noch Herzog von Berg, in Charlottenburg. Er hatte sich in den Zimmern eingerichtet, die nach der Parkseite hin liegen, dieselben, in denen Kaiser Alexander ein Jahr vorher gewohnt hatte. Der alte Kettlitz war außer sich und machte sich einen Plan. Um fünf Uhr war Diner im großen Saale, und das Bild König Friedrich Wilhelms I. sah ernst und unwirsch auf den neugebackenen Herzog, der neben Berg auch die altpreußisch-kleveschen Lande regierte. Es waren noch nicht viel französische Truppen in der Stadt. Da mit einem Male – die Trüffelpastete war eben aufgetragen – beginnt ein Geschmetter, und zwanzig Trompeten, mit Paukenschlag dazwischen, blasen den Hohenfriedberger Marsch. Ist es unter den Fenstern? Sind preußische Schwadronen in den Schloßhof eingeritten? Murat springt auf, um sich durch die Flucht zu retten. Aber keine Schwadronen sind da; endlich schweigt der Lärm, und alles klärt sich auf. Im Nebenzimmer, ein ganzes Trompetenkorps in seinem Innern bergend, stand ein musikalischer Schrank, an dessen verborgener Feder der alte Kettlitz gedrückt hatte. Ich würde mich freuen, zur Vervollständigung seiner Sammlung diese Monstrespieluhr in die Hände unseres von Medewitz auf Alt-Medewitz übergehen zu sehen, freilich unter der einen Bedingung, in unserer Gegenwart nie die geheime Feder springen zu lassen. Ich liebe Trompeten, aber nur im Feld und Sonnenschein.«

Der Domherr, unfähig, auf die Neckereien Bammes einzugehen, begleitete sie nur mit einem verlegenen Lächeln und fragte dann nach dem Schicksale des Kastellans.

„Nun, der hätte kein Zietenscher sein müssen. Er log sich heraus, so gut er konnte. Unter allen Umständen hatte er das Gaudium gehabt, den großen Reiterführer, den Mamelukenvernichter, vor dem Hohenfriedberger Marsch auf der Flucht zu sehen. Das war im Oktober 1806. Damals hatte es noch was auf sich mit einem Marschall. Ich hoffe, sie sind seitdem billiger geworden. Aber billiger oder nicht, an dem Tage, wo mir meine Quirlsdorfer den ersten Marschall tot oder lebendig einbringen, leg’ ich dem Pfarracker zehn Morgen zu, obschon ich Seine Hochwürden nicht leiden kann.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Vor dem Sturm