Abschnitt 2

Le Diner.


„Aber Bamme, was haben Sie beständig mit Ihrem Geistlichen?“ bemerkte Krach, der mit seinem eigenen Prediger auf einem guten Fuße stand, seitdem ihm dieser einen Streifen Gartenland ohne Entschädigung abgetreten hatte.


„Er ist mir noch nicht gefällig gewesen“, antwortete Bamme scharf. „Diese Päffchenträger sind maliziöse Kerle, und je glauer sie aussehen, desto mehr. Der meinige ist ein Anspielungspastor.“

„Das klingt, als ob Sie die Kirche besuchten, Bamme“, schaltete die Gräfin ein. „Ich wette, Sie haben seit zehn Jahren keine Predigt gehört.“

„Nein, gnädigste Gräfin. Aber ich habe ein Tendre für Begräbnisse. Jeder hat so seine Andacht, ich habe die meinige; und es ärgert mich, durch allerhand plumpes Zeug darin gestört zu werden. Mit dem Jüngling zu Nain oder dem bekannten weiblichen Pendant desselben fängt er an, aber ehe fünf Minuten um sind, ist er bei Babel, bei Sodom und ähnlichen schlechtrenommierten Plätzen, starrt mich an, läßt etwas Schwefel vom Himmel fallen und sagt dann mit erhobener Stimme: ?Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.? Und das alles an meine Adresse. So hat er es fünf Jahre getrieben. Aber seit letzte Ostern habe ich Ruhe.“

„Nun?“ fragte die Gräfin.

„Wir hatten wieder ein Begräbnis, eine hübsche junge Dirne; es war also Jairi Töchterlein an der Reihe. Aber ihre Herrschaft währte nicht lange; schon auf halbem Wege war Pastor loci wieder bei Lot und seinen Töchtern und sah mich an, als wäre ich mit in der Höhle gewesen. Ich dachte, nun muß Rat werden. Und so lud ich ihn aufs Schloß, nicht zu einer Auseinandersetzung, sondern einfach zu Tisch. Als wir bei der zweiten Flasche waren – trinken kann er–, sagte ich: ?Und nun, Pastorchen, einen Toast von Herzen; stoßen wir an: Es lebe Lot! Ein guter Kerl. Schade mit den beiden Töchtern. Und die Mutter kaum in Salz. Apropos, wie hieß doch der Sohn der ältesten Tochter?? Nun denken Sie sich meinen Triumph, er wußt’ es nicht. Vielleicht war er bloß verwirrt. Ich aber, mich an seiner Verlegenheit weidend, schrie ihm ins Ohr: ?Bamme?. Wir haben seitdem schon drei Leichen gehabt, aber er verhält sich ruhig.“

Lewin und Renate, die den Bammeschen Ton mehr von Hörensagen als aus eigener Erfahrung kannten, wechselten Blicke miteinander; sie sollten indessen bald gewahr werden, daß der Übermut des alten Husaren auch vor keckeren Sprüngen nicht zurückschreckte.

Die Gräfin wandte sich an den Domherrn, der, bis dahin wenig ins Gespräch gezogen, eine leise Mißstimmung zu verraten schien, und erbat sich seinen Rat zugunsten baulicher Veränderungen, die vorerst einen dem Einsturze nahen Derfflingerschen Bankettsaal im gegenübergelegenen Flügel, dann aber ganz allgemein die Frage „Kamin oder Ofen“, ein entschiedenes Lieblingsthema des Domherrn, betrafen. Er hatte sogar darüber geschrieben. Medewitz war für Kamine, wobei er jedoch behufs Herstellung eines verbesserten Luftzuges auf Wiedereinführung der mit Unrecht verbannten portalartigen Flügeltüren dringen zu müssen glaubte. Er setzte nunmehr weitschweifig auseinander, wie nach den Ergebnissen neuerer Forschung alles Brennen auf einem starken Zustrom sauerstoffreicher Luft beruhe und wie Kamine überall nur da gediehen, wo Türen und Fenster solchen Luftstrom gestatteten. Er schloß dann mit folgendem zugespitzten Satz: „Das dichte Moosfenster ist der Tod, aber die zugige alte Portaltür ist das Leben des Kamins.“

Bamme, der, wie wir wissen, selber gern sprach und vor allem einen Haß gegen wissenschaftliche Begründungen hatte, glaubte jetzt den Zeitpunkt gekommen, die Unterhaltung wieder an sich reißen zu dürfen. „Gnädigste Gräfin“, hob er an, „scheinen geneigt, auf die Herstellung solcher Portaltüren einzugehen. Darf ich Sie warnen. Ich lege kein Gewicht darauf, daß die große, zweiflügelige Rundtür doch eigentlich nichts anderes ist als das uralte, aus dem Wirtschaftshof in den Salon transportierte Scheunentor, aber worauf ich glaube hinweisen zu müssen, das sind die sozialen, um nicht zu sagen, die sittlichen Gefahren, die von dieser Türform mehr oder minder unzertrennlich sind. Im höchsten Grade solide von Erscheinung, ehrbar, würdig und gesetzt, führen sie zu Konsequenzen, die das gerade Gegenteil von dem allen bedeuten. Ich bitte, nach dem Vorgange des Domherrn auch mir eine wissenschaftliche Auseinandersetzung gestatten zu wollen.“

Da sich kein Widerspruch erhob, fuhr er fort: „Jedes Ding hat in einem bestimmten Etwas die Wurzeln seiner Existenz. Bei dem Kamine, wie wir soeben vernommen haben, ist es der Luftzug, bei der Klapptüre meines Erachtens der Bolzen. Nun müssen Sie mir die Versicherung gestatten, daß der Bolzen ein höchst diffiziler Gegenstand ist; ein Gegenstand, der seine besondere Abwartung fordert, eine Pflichttreue ohnegleichen. Man könnte sagen: mit ihm steht und fällt die Klapptüre.“

Er machte eine Pause. Medewitz schüttelte den Kopf.

„Es ist, wie ich sage“, perorierte Bamme weiter. „Sie mögen schließen, riegeln, klinken, soviel Sie wollen, Sie mögen sich noch so sehr in der Sicherheit wiegen, ?alles fest?, Sie werden diese Sicherheit als trügerisch erkennen, wenn die einzigen wirklichen Garanten derselben, die großen Haltebolzen, unbeachtet bleiben, wenn sträflicher Leichtsinn es versäumte, diese rettenden Anker zu guter Stunde auszuwerfen. Und dieses Versäumnis ist die Regel. In neunundneunzig Fällen von hundert hat der Diener, dessen Armlänge nicht ausreichte, darauf verzichtet, den Oberbolzen in seine Öffnung zu schieben, und in neunzehn Fällen von zwanzig ist er zu bequem gewesen, sich des Unterbolzens halber zu bücken. Er hat sich mit dem leichteren begnügt, hat sich darauf beschränkt, den Schlüssel im Schloß zu drehen, und so eine bloß scheinbare Sicherheit geschaffen, hinter der alle Mächte des Verderbens lauern. Ich habe selbst dergleichen erlebt. Darf ich davon erzählen?“

Nicht ohne Zögern antwortete ihm ein zustimmendes Kopfnicken der Gräfin.

Bamme wartete dieses Kopfnicken aber nicht ab und fuhr, immer lebhafter werdend, fort: „Nun, die Leibkarabiniers zu Rathenow gaben uns einen Ball. Der große Gasthaussaal lief durch die halbe Etage, sieben Fenster Front, an der unteren Schmalseite aber befanden sich in Gestalt einer Portaltüre zwei jener Scheunentorflügel, auf deren Wiedereinführung unser Domherr dringen zu müssen glaubt. Ein Reisender, todmüde, fährt vor, und da alle Räume besetzt sind, ist er schließlich froh, unmittelbar neben dem Saal ein Zimmer zu finden. Das Bett steht an der Tür entlang. Schlaf! so seufzt er einmal über das andere, und so gering seine Chancen sind, er will es wenigstens versuchen. Mitunter kommt der Gott, wenn man ihn ruft. Nur nicht, wenn die Leibkarabiniers tanzen. Der Unglückliche schüttelt endlich alle Müdigkeit von sich; Tanzmusik und rauschende Kleider verwirren ihm die Sinne; die Neugier, die Wurzel alles Übels, kommt über ihn, und siehe da, er richtet sich auf, um durch die nie fehlende Türritze hindurch ein stiller Zeuge des Balles zu sein. Leichtsinnig Ahnungsloser! Hingegeben süßer Betrachtung, dringt er kräftiger mit Stirn und Schultern vor; er sieht, er lauscht; die Schelmereien kichernder Paare finden in ihm einen unbemerkten Vertrauten; da, o Unheil, gebiert sich plötzlich jene Tücke, deren unter allen Türen der Welt nur die große Portaltüre fähig ist, und langsam nachgebend, aber mit einer Feierlichkeit, als handele es sich um den Einzug eines Triumphators, öffnen sich jetzt die beiden großen Flügel nach rechts und links hin, und huldigend liegt der Reisende zu unseren Füßen. Erlassen Sie mir die Einzelheiten. Ich werde den Aufschrei hören bis an den letzten meiner Tage. Und solche Klapptüren, bloß um verbesserten Luftzuges willen, will unser Medewitz...“

Er kam nicht weiter. Die Gräfin, persönlich nicht abgeneigt, den alten General auf seinen gewagtesten Exkursionen zu begleiten, war sich doch andererseits ihrer gesellschaftlichen Pflichten, insonderheit gegen ihre Nichte, zu voll bewußt, als daß sie noch hätte zögern mögen, den Rückzug einzuleiten. Sie erhob sich, und dem Grafen ihren Arm reichend, bat sie die sich miterhebenden Gäste, ihre Plätze behalten und sich die bevorzugte Stunde des Desserts um keine Minute verkürzen zu wollen. Renate folgte mit Krach. Am Eingange des Salons verneigten sich beide Damen gegen ihre Kavaliere, die, der dadurch angedeuteten Weisung folgend, an die Tafelrunde zurückkehrten.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Vor dem Sturm