Abschnitt 2

Vor Tisch.


Lewin entfaltete den Brief. Es dunkelte schon im Zimmer. Er rückte deshalb näher an das Fenster, dessen Scheiben in dem letzten Rot erglühten. Dann las er, über die Eingangszeilen hinweggehend: „?In einem Hause, in dem die Kinder fehlen, wird das Christkind immer einen schweren Stand haben, so nicht etwa der Kindersinn den Erwachsenen verblieben ist. Und Kathinka, die so vieles hat (vielleicht weil sie so vieles hat), hat diesen Sinn nicht.?“


Lewin schwieg einen Augenblick, weil es ihm schien, daß die Tante sprechen wolle. Dann sagte diese: „Es ist eine richtige Bemerkung, aber es überrascht mich, sie von Tubal zu hören. Es ist, als ob Seidentopf spräche. Kathinka ist eine Polin, ça dit tout, und gerade das macht sie mir wert. Kindersinn! Bêtise allemande. Wie mag nur ein Ladalinski so tief ins Sentimentale geraten. C’est étonnant! Ich würde die deutsche Mutter darin zu erkennen glauben, wenn nicht durch ein Spiel des Zufalls, par un caprice du sort, in ebendieser Mutter mehr polnisch Blut lebendig gewesen wäre als in einem halben Dutzend ?itzkis? oder ?inskis?. Kindersinn! Dieu m’en garde! Ich bitte euch, meine Teuren, verschließt euch der eitlen Vorstellung, als ob diese deutschen Gefühlsspezialitäten die unerläßlichen Requisiten in Gottes ewiger Weltordnung wären.“

Renate faßte sich zuerst und sagte: „Ich glaube, daß mir diese Vorstellung fremd geblieben ist, aber schon die Bibel preist den Kindersinn als etwas Köstliches.“

Die Tante lächelte. Dann nahm sie, wie sie zu tun pflegte, die Hand der Nichte, streichelte sie und sagte: „Du hast diesen Sinn, und Gott erhalte ihn dir. Aber muß ich euch, die ihr mich kennt, noch erst Erklärungen geben? A quoi bon? Gewiß ist es etwas Schönes um ein kindlich Herz, wie um alles, was den Vorzug des Natürlichen und Reinen hat. Aber das stete Sprechen davon oder das Geltendmachen, das immer nur da sich einfindet, wo der Schein an Stelle der Sache getreten ist, das ist kleinbürgerlich deutsch, et voilà ce qui me fâche. Und das war es auch, was den Prinzen verdroß. In seinem Unmut unterschied er dann nicht, ob er die Frommen oder die Heuchler traf; sonst so vorsichtig, wog er nicht länger ab, und auch ich, je n’aime pas à marchander les mots. Ihr müßt Abzüge machen, wo es not tut. Inzwischen laß uns weiter hören, Lewin.“

Lewin fuhr im Lesen fort: „?Als die Türen geöffnet wurden, kam Graf Bninski. Er hatte Aufmerksamkeiten für uns alle, zu weitgehende für mein Gefühl, aber Kathinka schien es nicht zu empfinden.?“

„Aber Kathinka schien es nicht zu empfinden“, wiederholte die Gräfin langsam, den Kopf schüttelnd. Dann fuhr sie fort: „Oh, cet air bourgeois, ne se perdre-t-il jamais? Mit neuen Karten das alte Spiel. Je ne le comprends pas. Solange die Welt steht, haben sich Jugend und Schönheit an Geschenken erfreut, an Pracht der Blumen, am Glanz der Steine. Sie passen zusammen. Aber Tubal erschrickt davor und wird nachdenklich, als ob er eine durch Brosche und Nadel in ihrer Tugend bedrohte Epiciertochter zu hüten hätte. Und das heißt Sitte! Sitte, Kindersinn, je les respecte, mais j’en déteste la caricature. Und davon haben wir hierlandes ein gerüttelt und geschüttelt Maß.“

„Ich glaube“, nahm jetzt Lewin das Wort, „Tubal empfindet wie du, wie wir alle. Sein Bedenken, wenn ich ihn recht verstehe, wurde nicht der Gabe, sondern des Gebers halber ausgesprochen. Graf Bninski näherte sich Kathinka, er bewirbt sich um ihre Hand. Vielleicht, daß ich mich irre, aber ich glaube nicht.“

Die Tante war sichtlich überrascht. Dann fragte sie hastig: „Und der Vater?“

„Er steht dagegen, auch Tubal. Sie schätzen den Grafen persönlich, er ist reich und angesehen. Aber du kennst die Gesinnungen beider Ladalinskis oder doch des Vaters. Und Bninski ist Pole vom Wirbel bis zum Zeh’.“

„Und Kathinka selbst?“

Es blieb bei dieser Frage, denn ehe Lewin antworten konnte, wurden im Spiegelzimmer Stimmen laut, und dem zwei Doppelleuchter vorantragenden Jäger paarweis folgend, traten jetzt Krach und Bamme, dann Medewitz und Rutze bei der Gräfin ein.

Nach kurzer Begrüßung wurde auf dem großen Sofa Platz genommen, und die Gräfin, abwechselnd an den einen oder andern ihrer Gäste sich wendend, teilte denselben mit, daß Baron Pehlemann wegen eines neuen heftigen Podagraanfalles abgeschrieben, Drosselstein aber – durch Geschäfte zurückgehalten – erst für 4½ Uhr sein Erscheinen zugesagt habe. „Ich denke“, so schloß sie, „wir warten auf ihn. Der ersten Viertelstunde, die das Recht jeden Gastes ist, legen wir die zweite zu.“ Alles verneigte sich, wenn auch unter geheimem Protest.

Eine solche Wartehalbestunde pflegt der Unterhaltung nicht günstig zu sein. Die Schweigsamen schweigen mehr denn je, aber auch die Beredten halten ängstlich zurück, unlustig, ihre vielleicht nur noch des Abschlusses harrende glänzende Anekdote durch die Meldung des eintretenden Dieners unterbrochen und zu ewiger Pointelosigkeit verurteilt zu sehen. Bamme gehörte dieser letzteren Gruppe an, bezwang sich aber und war der einzige, der den ersichtlichen Bemühungen der Gräfin hilfreich entgegenkam. Freilich nur mit teilweisem Erfolg. Über eine sprungweise Konversation kam man nicht hinaus, und die Fragen drängten sich, ohne daß eine rechte Antwort abgewartet wurde. Das Baron Pehlemannsche Podagra gab den dankbarsten Stoff. „Warum mußte er beim letzten Dachsgraben wieder zugegen sein? Ein Podagrist und zwei Stunden im Schnee! Warum riß er wieder den Rauenthaler an sich? Aber das ist so Pehlemannsche Bravour: ein freudiger Opfertod auf dem Altar der Gourmandise! Im übrigen, wo blieb ?Cedo majori?? Warum hat er nicht seine Muse zitiert?“

„Er hat“, entgegnete die Gräfin und nahm aus einer vor ihr stehenden Alabasterschale ein zierlich zusammengefaltetes Billet. Aber die beiden Stutzuhren, auf deren gleichen Pendelgang Tante Amelie mit peinlicher Gewissenhaftigkeit hielt, schlugen eben halb, die gewährte Frist war um, und die Flügeltüren des hellerleuchteten Eßsaals öffneten sich pünktlich und lautlos nach innen zu.

Die Gräfin und Krach führten sich. In demselben Augenblick trat auch Drosselstein ein. Mit der Linken hinübergrüßend, wie um anzudeuten, daß er die Tischprozession nicht zu stören wünsche, bot er Renaten seinen Arm. Bamme und Lewin folgten, dann Medewitz. Rutze machte den Schluß.

Dieser, ein leidenschaftlicher Schnupfer, benutzte die Gelegenheit, um aus der stehengebliebenen Tabatière der Gräfin zu naschen. Nicht ungestraft. Ehe er noch die Schwelle des Saales überschritten hatte, war schon das Gewitter herauf. Alles lachte, und Bamme rief: „Ertappt!“ Nur Krach bewahrte wie gewöhnlich seine Haltung.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Vor dem Sturm