Abschnitt 2

Glensund (Ein Land- und Seebild)


Wenn ihr einstens als große Lichter am deutschen Kunsthimmel leuchtet, ihr sieben Maler, dann denkt, daß ich es war, der euch in meinem Feuilleton über Ekensund zuerst den Tribut der Anerkennung zollte!


Ein Ort, der für Künstler eine solche Anziehungskraft hat, daß sie Jahr aus Jahr ein wiederkehren, und zwar in vermehrter Anzahl wiederkehren, und wochenlang und monatelang pinseln und pinseln, ein solcher Ort kann nicht ohne bedeutende Reize und seine Zukunft kann nicht ganz trostlos sein. Wenn aber die gewöhnlichen Sommerfrischler erst in größeren Schaaren anrücken, dann, fürchte ich, werden die Jünger Apolls dem einsamen Ekensund Lebewohl sagen. „Der Adler fliegt allein, die Krähen scharenweise.“

Wenn der Wind allzuhart vorn auf meiner Glasveranda steht, von der ich den Blick auf den Sund mit seinen fortwährend passierenden Schiffen genieße, ziehe ich mich in die Laube hinter dem Hause zurück, von wo aus ich den muldenförmig gelegenen Garten überschaue. Früher war es eine Lehmkuhle, und ein kleiner weidenbewachsener Teich an der tiefsten Stelle erinnert noch an die Zeiten, da er das Material für den Ziegelofen lieferte. Hier ist es windgeschützt; man hört ihn wohl brausen in den mächtigen Pappeln, aber man fühlt ihn nicht. Kein abgeschiedeneres Idyll läßt sich denken als dieser Garten, von der Morgensonne beschienen und belebt nicht nur von meinen Söhnen, die in ihrem blauen Wägelchen hügelauf und hügelab karriolen, wobei sie zwischen Weg und Rasen nicht streng unterscheiden, sondern auch von vielen Hühnern; denn mein Wirt ist nicht nur Ziegeleibesitzer, sondern auch einer der ersten Hühnerzüchter im Umkreise. Da stolzieren schneeweiße Rammelsloher Hähne neben Hamburger Silberlackhühnern, Andalusier neben Siebenbürger Nackthälsen, die jeder, außer dem Maler Nöbbe, häßlich findet; da führen Mutter Kattun und Mutter Eule ihre jungen Bruten umher, von denen das regnerische Wetter leider eine Anzahl hinweggerafft hat. Schlimmer aber war es noch im vorigen Jahre, als das große Sterben, die Diphtherie, unter dem Federvolk wütete und fünfzig Opfer verlangte. Als einziges Mittel gegen die schreckliche Krankheit gilt Petroleum, und gerne öffnen die kranken Tiere ihren Schnabel und lassen sich pinseln. Da überragt alle anderen der Hahn Jochen, der ungefähr die Größe meines fast zweijährigen Ernst hat. Ergötzlich sind die Hahnenkämpfe, die sich täglich vor meinen Augen abspielen und die mir ein anschaulicheres Bild der Zweikämpfe um Troja zu geben vermögen als alle Beschreibungen des göttlichen Homer. Wie sich die Federn am Halse sträuben, wie die Augen blitzen und wie dann mit unfehlbarer Sicherheit die Schnäbel gegen einander fahren, bis endlich der eine den Kampfplatz verläßt, während der andere ein siegreiches, jubelndes Krähen anstimmt. Und der Grund zu diesen Mensuren? Es heißt hier wie beim trojanischen Kriege: Cherchez la femme!

Es ist vielleicht an der Zeit, über die geographische Lage Ekensunds einige genauere Angaben zu machen. Es liegt, gründlich gesagt, auf der Halbinsel einer Halbinsel einer Halbinsel einer Halbinsel einer Halbinsel! Oder in umgekehrter Reihenfolge: Europa, das eine Halbinsel Asiens ist, streckt nach Norden die fingerförmige cimbrische Halbinsel, welche auf der Ostseite wieder eine Anzahl Halbinseln bildet. Von diesen streckt die Halbinsel Sundewitt nach Süden die kreuzförmige Halbinsel Broacker, auf dessen nordwestlichem Balken unser Ekensund liegt, also auf einer fünfmal potenzierten Halbinsel. Auch hierin dürfte Ekensund vor anderen Sommerfrischen einzig dastehen.

Die Erwähnung von Broacker bringt mich wieder auf die Hühner zurück, was, da ich keinen Schulaufsatz, sondern ein Mosaikfeuilleton schreibe, niemand für einen allzugewagten Sprung halten wird. Mitten auf der Halbinsel Broacker, da, wo die beiden Kreuzbalken sich decken, liegt das große Kirchdorf Broacker, so hoch, daß sein mächtiges weißes Thurmpaar nicht nur auf der ganzen Halbinsel zu sehen ist, sondern auch weithin über das Meer leuchtet, den Schiffern als Landmarke dienend auf stürmischer Fahrt. Auf dem Altar steht eine Nachbildung des Thorwaldsen'schen Christus in der Frauenkirche zu Kopenhagen, und auf dem Kirchhofe ruhen nebeneinander Dänen und Deutsche, Freund und Feind, die beim Sturm auf Düppel den Kriegertod fanden. An einem sonnigen Sonntage - es war vor acht Tagen - fand wiederum ein heißes Ringen in Broacker statt, und von allen Richtungen pilgerten schaulustige Menschen zu Wagen und zu Fuß herbei, um den Verlauf des Kampfes zu sehen.

Einhunderachtundsiebzig Parteien kämpften um die Preise, deren sechsunddreißig auf die Sieger harrten. Als wir den großen Saal des Jörgensen'schen Gasthofes betraten, umsummte uns ein Lärmen und Schreien, ein Drängen und Schieben, daß wir froh waren, als wir eine Viertelstunde später im Gartenpavillon bei einer guten Tasse Kaffee und einem Strauß'schen Walzer der Ruhe pflegen konnten. Ueber die Einzelheiten der Geflügelausstellung (denn um eine solche handelte es sich) geben wir deshalb auch keine weitere Auskunft, fügen nur hinzu, daß viele Besucher bis in den grauenden Morgen beim Tanz die Schlacht fortsetzten; blutige Köpfe soll es aber nur drei gegeben haben.

Wie sich in Kinderköpfen die Welt anders malt als sonst in Menschenköpfen, dazu lieferte mein älteres Söhnchen Karl eine Illustration. Als wir ihn nach der Rückkehr erwartungsvoll fragten: „Na, Karlchen, was haben wir denn nun in Broacker gesehen?“ blickte er mit seinen dunkelblauen Augen zuerst träumend in die Ferne, dann sagte er, freudig aufblickend: „Zwei große Hunde!“ - Enttäuscht über diese wenig sachgemäße Antwort fragte ich forschend weiter: „Und was denn noch?“ – „Viele Wagen und Pferde!“ kam es schnell heraus. Daß Hühner, Tauben und Fasanen dagewesen waren, bejahte er erst, als ihm diese Tiere direkt genannt wurden. So sieht und beachtet jeder nur das in der Welt, was ihm wichtig erscheint, für das Uebrige sind wir halb oder ganz blind.

Mit dieser lehrreichen Betrachtung möchte ich meine Plauderei über die Sommerfrische Ekensund schließen. Der eine wird sie anziehend finden und lesen, der andere nicht. Wir loben jenen nicht, wir verdammen diesen nicht; beide können in ihrer Art gute und glückliche Menschen sein. Und mehr braucht man nicht im Leben.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Haparanda bis San Francisco