Ein Besuch bei Gustav Freytag

Im Sommer 1882 wanderte ich als Student durch das Thüringer Land. Von Jena, wo ich damals meinen Studien oblag, gings zunächst mit der Bahn nach Eisenach, wo ich mich mit einem Freunde aus Marburg traf. Nachdem die Wartburg besucht, der Inselsberg bestiegen und alle die Herrlichkeiten zwischen Eisenach, Ruhla und Friedrichsroda genossen waren, trennten wir uns in Gotha, von wo mein Genosse westwärts, ich ostwärts fuhr. Bevor ich aber der alten Musenstadt Jena wieder zueilte, beschloß ich, noch einen halben Tag zu verweilen und zu einem Spaziergange nach Siebleben zu benutzen, in welchem der Dichter von Soll und Haben in stiller Muße seine Sommertage zu verbringen pflegte, während er im Winter in Leipzig wohnte. Dort war ich öfters an seiner Wohnung in der Nürnberger Straße vorübergegangen, mit dem Wunsche, den hochverehrten Mann persönlich kennen zu lernen, dessen Werke in ihrer ruhigen Vornehmheit und zugleich historisch-politischen Solidität uns als Muster moderner deutscher Prosa vorschwebten. Was in der rauschenden Großstadt nicht ausgeführt wurde, sollte nun in dem idyllischen Dorfe gewagt werden.

Auf der mit Bäumen bepflanzten Erfurter Landstraße ging es hinaus. Die Landschaft ist von mäßigem Reiz; der langgestreckte Seeberg zur Rechten bildet die einzige größere Erhebung in der ganzen Gegend. An seinen Nordfuß schmiegt sich das Dorf Siebleben, mit Obstbäumen umgeben und von freundlichem Aussehen. Freytags Haus war bald gefunden. Es liegt in einem Garten und ist mit Schiefer bedeckt, der an der Wetterseite einen gelben Anstrich von Oelfarbe hat, was mir auffiel, da ich dergleichen nie gesehen. Vom Gärtner angemeldet, wollte ich eintreten, als er mir schon entgegentrat und mich einfach und freundlich begrüßte. Ich sagte ihm, ich sei auf einer Gebirgswanderung begriffen und habe mir Siebleben ansehen wollen, den Ort, wo er so lange gelebt. Da ich im Gasthof erfahren, daß er anwesend sei, wolle ich mir erlauben, ihm meine Aufwartung zu machen und meine Verehrung zu bezeigen. Er erwiderte freundlich und geleitete mich in sein Arbeitszimmer, welches sehr einfach eingerichtet war. Er hörte mit Interesse zu, als ich von meinen Studien, meinen Verhältnissen und Absichten redete; als ich sagte, daß ein fester Beruf, das Lehramt, dem ich zusteuerte, nicht mein Ideal sei, sondern daß nur die freie literarische Thätigkeit mich zu befriedigen vermöchte, versetzte er ernst: Ein fester Beruf ist notwendig, sowie wissenschaftliche Arbeit auch bei poetischer Produktion. Sie geben einenm festen Halt und verschaffen das Selbstbewußtsein. - Aus dem Speziellen ging es ins Allgemeine, zunächst noch über dasselbe Thema: Seine Individualität unterdrücken, ist das Ziel. - Aber doch nicht das letzte, wandte ich ein, das Auswirken und Entwickeln der Individualität betrachte ich weit eher als Ideal. - Das Talent geht nicht unter, meinte er, das wirkliche Talent nicht. - Als ich erwähnte, daß ich eine schwache Lunge hätte, sagte er: Ich habe mit 30 Jahren Blut gespieen und bin so alt geworden.


Da das Wetter dazu einlud, gingen wir in den Garten hinunter, und er zeigte alles Bemerkenswerte, seine Freude über sein schönes Besitztum nicht verbergend. Die Blumen, die Gartenhäuser, alles machte ihm sichtliches Vergnügen. Auch von einer Konchyliensammlung, die er zu vergrößern suchte, sprach er. Auf die Verhältnisse des Dorfes übergehend, zeigte er sich für alles teilnehmend und über vieles orientiert, wie ein Patriarch unter seinen Kindern. Er will dafür sorgen, daß Fremdenzimmer im Gasthofe eingerichtet werden. Einzelne Dorfbewohner charakterisiert er; er kennt viele persönlich, obgleich Siebleben mit seinen 2.000 Einwohnern nicht zu den kleinsten Dörfern gehört. Wir sprachen über Berlin und Leipzig; das gab ihm Veranlassung, seine Uebersiedelung nach Wiesbaden zu erklären: „Vorigen Winter hatte ich eine Lungenaffektion, daher habe ich mir auf den Rat der Aerzte ein Häuschen in Wiesbaden gekauft, obwohl ungern.“

Das Haus in Siebleben sei historisch, fügte er hinzu, Goethe habe auf seinen Thüringer Reisen oft darin übernachtet.

Von literarischen Größen erwähnte er Auerbach, den ich auch einmal

flüchtig kennen gelernt hatte.

Als ich bemerkte, er wohne gerade zwischen Wirtshaus und Kirche, und scherzend fragte, ob er mehr in jenes oder in dieses ginge oder in keines, versetzte er: „Doch, zur Kirche; man muß den Leuten zeigen, daß man zu ihnen gehört.“

Mittlerweile war eine Stunde verstrichen, und ich empfahl mich. Freytag hatte es dem jungen, frechen Studentlein wohl nicht übel genommen, daß er ihn gestört, ja, er schien ein gewisses Wohlgefallen daran zu finden, denn er war fast gerührt beim Abschied. „Leben Sie wohl, Herr Studiosus, arbeiten Sie tüchtig weiter! Gehen Sie langsam, die Sonne wird Sie drücken.“ - Damit schieden wir; noch einmal blickte ich um und sah in der Gartenthür die kräftige Gestalt, die eher auf einen Landmann deutete, als auf einen der ersten geistigen Arbeiter der Nation.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Haparanda bis San Francisco