Abschnitt 1

Glensund (Ein Land- und Seebild)


Um in dem überreichen Material, das mir über Ekensund zu Gebote steht (nach fünfwöchiger Sommerfrische!), nicht planlos hin- und herzusteuern oder gar zu versinken, wäre es wohl angebracht, eine Art Disposition zu entwerfen, wie ich es als Sekundaner und Primaner zu thun pflegte. Allein ich fürchte, mein Aufsatz bekäme dann einen Anflug von Lehrhaftem, schmeckte zu sehr nach Schule, und mir ist es wahrhaftig mehr um das delectare des Horaz als um sein prodesse zu thun, wenngleich auch dieses selbstverständlich nicht ausgeschlossen bleibt. Seine geographischen Kenntnisse bereichert jeder gern, besonders in der jetzigen Zeit, die ja im Zeichen des Verkehrs stehen soll. Wie gut, daß doch jede Regel ihre Ausnahme hat! Denn Ekensund steht nicht im Zeichen des Verkehrs, noch nicht, und wird hoffentlich noch eine Weile außerhalb desselben bleiben. Sonst käme ich nächstes Jahr nicht wieder, und mein liebenswürdiger Hauswirt könnte sehen, wo er einen Ersatz für mich und meine Familie herkriegte.


Als ich meinen Freunden in Flensburg meinen Entschluß kund that, nach Ekensund hinauszuziehen, schlugen sie die Hände über dem Kopf zusammen und riefen entsetzt aus: „Nach Ekensund? Was wollen Sie denn da in dem Schmutzloch, wo die vielen Ziegeleien sind und so viel Staub und kein Wald und kein Kurhaus -“

Gemach, gemach! Genau so sprach ich vor zehn Wochen auch, und ich würde jeden für einen ausgemachten Narren erklärt haben, der in Ekensund Sommerfrische zu halten gedächte! Der Grund bei mir war derselbe wie bei Brockhaus und meinen Flensburger Freunden: Wir waren nie da gewesen. Was bei Brockhaus, der in der Pseudoseestadt Leipzig wohnt, verzeihlich ist, wird bei uns, die wir in der wirklichen Seestadt Flensburg wohnen und nur 18 Kilometer von Ekensund entfernt, nicht nur unverzeihlich, sondern auch unbegreiflich. Indessen, tout savoir c'est tout pardonner. Die Flensburger Föhrde bietet so viel wundervolle Orte und Oertchen, in Wald und Hügel gebettet und von der blauen Flut umrauscht, wo die Schönheiten sozusagen auf dem Präsentierteller geboten werden, daß das verwöhnte Auge des Philisters, der für „Natur“ schwärmt, bei Ekensund eben nur - Ziegeleien sieht. Es war bisher das Aschenbrödel unter seinen Schwestern Glücksburg, Kollund, Süderhaff, Gravenstein und wie sie alle heißen; aber darum will ich um so lauter seinen Ruhm verkünden und über jene anderen mich in völliges Stillschweigen hüllen.

Sprachlich hellhörigen Lesern, die ihren Wustmann am Schnürchen haben, wird vielleicht schon längst die vorwurfsvolle Frage auf den Lippen schweben, warum ich denn beharrlich Ekensund schreibe, während es doch gewiß Eckensund heiße. Diesen diene als Belehrung, daß dem nicht so ist.

Ekensund heißt hochdeutsch Eichensund, und so wirft der Name hier wie auch sonst Licht auf frühere Zustände, die kein Lied, kein Heldenbuch meldet. Die kurze und schmale, aber sehr tiefe Wasserstraße, welche das kleine Nübelnoor [5] mit der größeren Flensburger Föhrde verbindet, war früher von mächtigen Eichenwäldern umschattet, deren Wipfel von hüben und drüben sich fast berührten, sodaß ein Eichhörnchen von einem Ufer zum anderen springen konnte. Der Name Ekensund übertrug sich später auf den Ort, der teilweise am Sunde, teilweise aber an der hohen steilen Küste der eigentlichen Föhrde sich hinzieht. An die ehemaligen Wälder erinnern nur an den Endpunkten des Ortes noch Ueberreste, kleine Haine, die bei ländlichen Festlichkeiten, Picknicks u.s.w. benutzt werden.

So auch bei dem am morgigen Sonntag stattfindenden großen Erntefest, auf das rote Plakate hinweisen und mit welchem, wie es heißt, eine internationale Segel- und Ruder-Regatta verbunden sein wird. Eine merkwürdige Zusammenstellung, denkt vielleicht der binnenländische Leser, aber sie zeigt so recht die Hauptquellen des hiesigen Volkswohlstandes, der auf dem Erntesegen und auf den Schätzen und dem Verkehr der salzigen Meeresflut beruht. Aus demselben Grunde tragen ja auch die dänischen Münzen eine Aehre und einen Fisch. Was die Internationalität betrifft, so beschränkt sie sich auf deutsch und dänisch; befinden wir uns doch in der Gegend, wo, wie der selige Voß in der Widmung seiner Odyssee an die Grafen Stolberg sagt, der dänische Pflüger den Deutschen, dieser den Dänen versteht. Insofern kann man auch Ekensund eine internationale Sommerfrische nennen, und zwar mit mehr Recht als Baden-Baden oder Karlsbad; denn dort sprechen die Einwohner trotz der vielverheißenden Aufschriften On parle français und English spoken doch nur eine Sprache. Hier aber drei: hochdeutsch, plattdeutsch und dänisch. Nicht das reine Kopenhagener Dänisch freilich, sondern nur „Kartoffeldänisch“, wie es spöttisch genannt wird. Die Inschriften des Ortes zeigen denn auch deutsch und dänisch durcheinander: da ist eine Sadelmager-Vaerksted, dort wohnt ein Kobbersmed, dort winkt eine Gjaestgiveri und sogar ein Lager af Hatte og Kasketter, und man möchte sich fast innerhalb der rotweißen Pfähle glauben, wenn einen nicht das Königlich Preußische Nebenzollamt und die Kaiserlich Deutsche Reichspoststelle eines anderen belehrte.

Apropos Gjaestgiveri! Sie thront auf hohem Ufer und bietet weite Aussicht auf die Innen- und Außenföhrde mit ihren Dampfern und manchem stolzen Segler; aber lieber noch ist mir der Einblick in das trauliche Wirtszimmer, wo drei Seerosen blühen, nämlich der Wirtin drei Töchterlein, eine immer noch hübscher als die andere, und zwischen 16 und 21 Jahren stehend; vorläufig also noch keine Aussicht, aus dem Schneider zu kommen. Fast bin ich eifersüchtig auf die drei Maler, die nun schon seit mehreren Wochen in der Gjaestgiveri wohnen und täglich den Anblick und Umgang der drei Seeröslein genießen dürfen doch damit komme ich auf den Glanzpunkt Ekensunds - auf die Maler! Merkwürdig, sie sind fast das einzige Fremdenpublikum, und von den 12 Sommerfrischlern, die hier hausen, bilden sie die Majorität - zur Zeit sind es 7! Die übrigen 5 Gäste sind meine Frau, ich, meine beiden Söhnchen und unsere dienstbare Jungfrau; damit ist das Dutzend voll. Die Maler, die Ekensund unsicher machen, werden wohl nicht weit her sein, denkt vielleicht die freundliche, aber skeptische Leserin. Weit gefehlt, gnädige Frau! Hören Sie nur: Da ist ein Biedermann aus Gotha, ein Engel aus München, ein von Hoven aus Frankfurt a.M., ein Petersen-Angeln aus Düsseldorf, ein Schwennsen aus Christiania, ungerechnet die Flensburger Jakob Nöbbe und Alex Eckener! Von einem Biedermann'schen Bilde sagten Unverständige früher, man könne nicht sehen, ob es ein Porträt oder eine Landschaft darstelle; aber seit es vor einigen Tagen für 800 Mark auf der Münchener Ausstellung verkauft ist, hat sich die Hochachtung vor diesem Biedermann erheblich gesteigert, und wie Joseph unter seinen Brüdern schreitet er jetzt unter seinen Genossen umher, diese um Haupteslänge überragend. Ich habe ihm deshalb auch in meiner Aufzählung die erste Stelle eingeräumt.




[5] Noor heißt See, Gewässer; Nübel ist ein Dorf.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Haparanda bis San Francisco