Zweiter Abschnitt. - Hyperboräer - Corpulenz - Toskanische Sonne - Villa Bardi - Landhaus - Reisebillett - Seume - Hesse - Bologna - Hyperbeln - Wanderschaft - Vetturino - Ansichtspostkarten - Kutscherbock - Illustrissimo - Trinkgeld - Birbante (Gauner).

Doch ich muß nach Fiesole zurückkehren, um in der Erinnerung noch einmal von ihm Abschied zu nehmen.

Daß ich es verließ, geschah aus force majeure. Hyperboräer meiner Corpulenz sind nicht dazu geschaffen, der toskanischen Sonne länger als bis zum Mai standzuhalten. Was hilft mir der schönste Garten, wenn ich ihn bei Tage nicht betreten kann? Und das angenehmste Landhaus wird unsympathisch, wenn es, von wegen der Hitze, die es umbrütet, zum Gefängnis wird, das man nur unterm Schutze des kühleren Mondes verlassen darf.


Also nahm ich meine Bilder von den Wänden der Villa Bardi, rollte meine Teppiche zusammen, machte ein Brettergehäuse um meinen hochherrlichen Schreibthron und griff zum Wanderstabe.

„Mit andern Worten: Du nahmst ein Reisebillett?“

Doch nicht. Ich hatte wirklich die romantische Idee, zu Fuße nach Pasing zu pilgern.

Was Seume konnte, Hesse kann,
Das kann ich auch. Es lebe,
Hip, hip, der deutsche Wandersmann.

Aber meine Frau packte schweigend den Wanderstab ins Schirmfutteral und machte jeden Widerspruch zunichte, indem sie mir eine Fahrkarte nach Bologna überreichte. Also sprechend: „Diese Idee ist gut, wie alle deine Ideen. Ja, sie gehört sogar zu jenen besten deiner Ideen, die du nie ausführst. In diesem Falle mit Recht. Denn, gesetzt, du würdest sie wirklich ausführen: was wäre die Folge? Da würdest genau um die Zeit nach Pasing kommen, wo wir wieder von dort nach Fiesole reisen müssen.“ Hyperbeln entwaffnen mich immer, denn es sind kondensierte Wahrheiten. Ich machte, das eheherrliche Prestige wenigstens formell zu retten, einige Einwendungen, die mit der Drohung endigten, ich würde also meine Wanderschaft von Bologna aus antreten, ließ mich aber ohne reellen Widerstand vors Tor bringen, wo mich auch schon (denn alles war schnöde Abkartung) Pietro, Fiesoles schönster Vetturino, mit seinem dicken Pferdchen erwartete, das auf den schönen Namen Palle hört, den man deutsch mit „Bällchen“ übersetzen könnte.

„O Pietro,“ sagte ich zu ihm, „wirst du dich nicht ganz verwaist fühlen, wenn dein treuester Fahrgast nicht mehr zurückkehrt?“

„O Signor Giulio,“ antwortete er und sah dabei düster drein, „ich werde Sie nie vergessen, zumal, wenn Sie mir manchmal eine Ansichtspostkarte aus Deutschland schicken. Aber, bitte, immer mit Schnee.“

Pietro glaubt nämlich, daß es in Deutschland immerzu schneit.

„Warum gehen Sie eigentlich in dieses Land zurück?“ fragte er dann, als wir, der Steilheit der alten fiesolaner Straße wegen, neben Palle herschritten. „Signor Bockeli“ (so pflegte er Boecklin ins Fiesolanische zu übersetzen) „hatte immer den Schnupfen, wenn er aus Deutschland kam. Ich glaube, Deutschland ist das Vaterland des Schnupfens.“

„Aber auch meines, Pietro,“ entgegnete ich, „und man muß doch zuweilen in sein Vaterland zurückkehren.“

Doch Pietro schüttelte den Kopf: „Signor Bockeli hat mir gesagt, daß dort ein Wein wächst, der ganz sauer ist. Ich würde so ein Vaterland so schnell als möglich verlassen und immer in Italien bleiben. Es kann unmöglich gesund sein, in einem Lande zu leben, wo es immerzu schneit und kein richtiger Wein wächst.“

„Aber Pietro,“ sagte ich, „wer wird denn sowas glauben! Immerzu schneien! Im schlimmsten Falle vom November bis zum April.“

„Dio mio!“ rief er aus, „es ist also wirklich wahr?“

„Nein, bloß halb!“ rief ich entgegen, ganz verblüfft über diese arithmetikwidrige Folgerung. Aber es ist die Logik des Landes, und Pietros Arithmetik war überhaupt von der Art, daß Verdoppelungen als die Regel anzusehen waren.

So hatte ich (um ein lehrreiches Beispiel anzuführen) mit ihm einen Fahrpreis ausgemacht, der allerdings nur die halbe Höhe dessen hatte, den die „ forestieri (Fremden)“ zahlen müssen; aber, da ich ihn beinahe täglich zahlte, stand sich der Palle Zügler doch ganz gut dabei. Indessen wurmte es ihn doch täglich, daß dieser schnöde Akkord unser Verhältnis regierte, und so suchte er mich langsam dahin zu erziehen, daß ich aus Beschämung und von Edelmut übermannt eines Tages freiwillig sagen sollte: Nein, Pietro, ich kann diesen billigen Preis nicht länger ertragen, – von heute ab zahle ich den doppelten. Das machte er so: Wenn wir abends von Florenz herauffuhren und die Zeit vorüber war, da er auf die elektrische Trambahn aufpassen mußte, legte er sich bäuchlings über den Kutscherbock weg, sein rundes Gesicht zu mir, das andre Runde seiner Leiblichkeit aber zu Palle gewendet: eine Pose, die Vertrauen zu seinem Pferdchen und Vertraulichkeit mit dem besten seiner Fahrgäste gleichermaßen ausdrückte. Und er begann zu reden:

„War Signor Bockeli sehr reich?“

–: „So, so.“

„Dann war er von Natur splendid.“

–: „Hm.“

„Wissen Sie, was er mir für eine Fahrt nach Florenz und zurück zahlte?“
–: „Nein, aber ich glaube es auch nicht.“

„Nie unter . . .“ und er streckte beide Hände einige Male aus.

–: „Ach?“

„Ja! Und wenn er gut und viel getrunken hatte, sogar noch mehr!“

–: „Der Trunk ist ein Laster, Pietro.“

„Alle Deutschen trinken.“

–: „Ich nicht.“

Also: abgeschlagen.

Aber Pietros Phantasie hatte ein großes Repertoire. Einmal fragte ich ihn: „Kennst du die Gräfin Montignoso?“

Antwort: „Ich habe sie mehr als zehnmal zu Signor Toselli gefahren.“

–: „Ist sie hübsch?“

„Hm . . . na . . . nicht mein Geschmack. Aber: splendid ist sie. An ihren Trinkgeldern erkannte man die kaiserliche Hoheit. Nie unter zehn Lire!“

–: „Bloß Trinkgeld?“

„Bloß Trinkgeld!!“

–: „Weißt du was, Pietro?“

Er spitzte, denn er glaubte, daß ich endlich beschämt sei: „Nun?“

–: „Ich würde an deiner Stelle nur verliebte kaiserliche Hoheiten fahren, denn nur kaiserliche Hoheiten in diesem Zustande sind so verrückt.“

Wieder nichts also.

Sein stärkstes Stück war dies. Eines Abends blieb er länger schweigend, als es seine Art war. Er dachte offenbar heftig nach und disponierte den Angriffsplan. Endlich hub er an: „Signor Giulio: Sie sind ein Dichter.“

–: „Nur manchmal.“

„O nein: Sie sind ein studierter Dichter.“

–: „Gott bewahre!“

„Doch! Zwei deutsche Damen haben es mir heute erzählt. Ein Illustrissimo sind Sie.“

–: „Bloß auf den Briefkuverts.“

„Ich bitte um Verzeihung, Signor Giulio. Die Damen haben Bücher von Ihnen gelesen.“

–: „Ich kann es ihnen nicht verbieten.“

„Und sie haben mir gesagt, daß die Bücher sehr schön zu lesen seien.“

–: „Es waren liebenswürdige Damen.“

„Ungemein liebenswürdige Damen. Sie haben mir zehn Lire Trinkgeld gegeben.“

–: „Wirklich?“

„So wahr ich hier sitze.“

–: „Aber du liegst ja auf dem Bauch.“

Er setzte sich sofort in Kutscherpositur, ließ mir aber auch weiterhin den Anblick seines Antlitzes und fuhr fort: „Als ich mich höflich bedankte, – wissen Sie, was sie da sagten?“
–: „Addio!“

„Nein, Signor Giulio. Sie sagten . . .“ (und jetzt stockte er doch) „. . . sie sagten: Sie haben Glück, daß Sie diesen Herrn fahren dürfen. Er ist nicht nur ein berühmter Dichter, sondern auch sehr reich, und er gibt . . .“

–: „Pietro, du bist ein Birbante (Gauner) und hältst mich für einen asino illustrissimo. Weißt du nicht, daß Dichter nie reich sind? Hast du nicht gelesen, daß euer erhabener Gabriele, der hundertmal berühmter ist, als ich, kürzlich seine Pferde hat versteigern lassen müssen? Und ich habe nicht einmal Pferde! Ich bin so arm, Pietro, daß ich mich sogar für meine Gedichte bezahlen lassen muß, und das ist eigentlich eine Gemeinheit. Gerade so gut könnte man sich für seine Küsse bezahlen lassen.“

„O,“ meinte Pietro, „das ist noch lange nicht das schlechteste Geschäft. Ich kenne eine schöne Dame, die brillant davon lebt. Sie gibt mir regelmäßig . . .“

„Schweig!“ schrie ich. „Soll ich mit Putanen konkurrieren, du Schurke?“

Kurz: Pietro hat es nicht erlebt, daß ich seine imaginären Trinkgelder ins Reich der gemeinen Wirklichkeit übersetzte. Doch kam er trotzdem nicht zu kurz. Ich spendete ihm alte Anzüge, in denen er sich wie ein Gott vorkam, und von denen er, wie ich erfahren habe, zu erzählen pflegte, sie stammten von einem unsinnig reichen Deutschen her, der allein für Bier täglich zwanzig Lire ausgab, jeden Tag zweimal betrunken war und in der Zwischenzeit Verse machte, die man ihm so hoch bezahlte, daß er damit einen derartigen Lebenswandel bestreiten konnte. – Am stolzesten aber erregte meinen phantastischen Freund eine Mütze mit den Farben und Buchstaben der Hamburg-Amerika-Linie. Von dieser hat er ganze Gedichte in Umlauf gesetzt. „Solche Mützen trägt der Kaiser von Deutschland.“ „Diese Mütze war schon dreimal in Amerika.“ „Nur die höchsten Beamten dürfen in Deutschland solche Mützen tragen, denn es ist das kaiserliche Wappen darauf.“

Sein Traum war, sich in dieser Mütze photographieren zu lassen. Aber ich sollte diesen Traum bezahlen, und dessen weigerte ich mich, da mir an Träumen gerade das sympathisch ist, daß sie nichts kosten.

Ich verabschiedete mich von Pietro, indem ich ihm, da es das letzte Mal war, wirklich 10 Lire Trinkgeld gab. Seine Quittung lautete: Evviva la Germania!. – Und so verließ ich Florenz mit dem Hochgefühle, zur Popularität des Dreibundes in Italien Wesentliches beigetragen zu haben.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Fiesole nach Pasing