Erster Abschnitt. - Fiesole - Pasing - Charlottenburg - Berlin - Florenz - München - Atlas - Giotto - Santa Maria Novella - Fiorenza - Faesulae - Arne - Weinbau - teppisti - Gesinnungsstrolche - Hochzeitsreisepaare - Regno - Kampanile.

Fiesole und Pasing*) haben mancherlei gemeinsam. Z. B. mich, der ich im Winter Fiesolaner, im Sommer Pasinger bin. Aber damit läßt sich kein Staat machen, und, wenn ich nicht so schrecklich eitel wäre, würde ich es garnicht erwähnt haben. Bedeutsamer und interessanter ist, daß beide Städte eine Art Anhängsel zu einer großen Nachbarin sind. Sie verhalten sich je zu Florenz oder München etwa so, wie sich Charlottenburg zu Berlin verhält. Aber, während Charlottenburg jünger als Berlin ist, sind Fiesole und Pasing älter als ihre großen Nachbarinnen.

Fiesole zumal ist ganz schrecklich alt: so alt, daß es sich den Luxus eines mythologischen Gründers leisten kann: jenes etruskischen Königs Atlas, den Giotto in der Spanischen Kapelle zu Santa Maria Novella in Florenz als den Erfinder des Festungsbaus verewigt hat. Als er die riesigen Quadern aufeinander türmen ließ, von denen es einige bis auf den heutigen Tag gebracht haben, war von Fiorenza längst noch nicht die Rede, geschweige denn von Firenze. Die stolzen Florentiner müssen sich die historische Wahrheit gefallen lassen, daß ihre Stadt aus einem Komplex von Magazinen hervorgegangen ist, die die Bürger von Faesulae unten am Arno angelegt haben, wo die Händler von Nord und Süd passierten.


Mit so alten und gewichtigen Historien kann sich Pasing freilich nicht schmücken. Seine Gründer haben keinen Mythologen und keinen Giotto beschäftigt, und München ist aus keinen Pasinger Magazinen hervorgegangen; aber vor Isar-Athen ist es dagewesen, und der bajuwarische Name Pasing ist einmal römisch ausgesprochen worden, wenn ich bitten darf. Dort, wo jetzt die Englischen Fräulein junge Mädchen in Gottesfurcht, Weisheit und Klavierspiel unterweisen, steht noch ein altes Gewölbe aus jener vormünchnerschen Vergangenheit, und es gibt in der Bannmeile Pasings eine ganze Masse von Gräbern alter, toter Heiden, während München bloß lebendige Heiden hat, die zu nichts weiter zu gebrauchen sind, als Zeichnungen und Gedichte für unartige Zeitschriften zu machen.

Auch die Pflege der Kunst und des Rebenbaues haben Fiesole und Pasing gemeinsam, doch bleibt Pasing, wenn auch vielleicht nicht in der Kunst (worüber allein die Nachwelt füglich urteilen mag) so doch in der Weinkultur hinter seiner südlichen Parallelerscheinung zurück. Daß niemand auf die frevelhafte Idee kommen kann, Pasinger Wein zu keltern, versteht sich ohne weiteres von selbst, denn Essig läßt sich billiger herstellen, aber auch die Pillen, in denen das Produkt des Pasinger Weinbaues ausschließlich konsumiert werden kann, sind von einer erstaunlichen Winzigkeit und Härte. Sie ähneln mehr Wachholder als Weinbeeren. Aber Wachholderbeeren schmecken süßer.

Völlig gleich sind sich Fiesole und Pasing dagegen in der Leidenschaft des Parteigeistes, der ihre Bürger erfüllt, und sowohl in der alten Stadt des Nordens wie in der des Südens sind es allen anderen voran die Sozialdemokraten und die Klerikalen, die das Interesse an den politischen Problemen der Gegenwart nicht einschlafen lassen. Nur ist die Pasinger Leidenschaft mehr innerlicher Natur und äußert sich nicht gleich fäustlings, wie in Fiesole, sondern, wenn ich so sagen darf, mündlings. In Fiesole habe ich es einmal mit angesehen, wie die Teilnehmer an einer Prozession, angegriffen von einer Schar jener wenig angenehmen Straßenpolitiker, die man in Italien teppisti nennt (Gesinnungsstrolche auf deutsch), sich mit ihren großen Kruzifixen zur Wehr setzten. Derlei begibt sich in Pasing nicht. Aber mit Worten drischt man einander windelweich.

Natürlich gibt es auch einige Punkte, in denen die beiden Städte sich unterscheiden. So hat Pasing kein römisches Theater und Fiesole keine Bierbrauerei; in Fiesole wachsen Oliven, Artischocken, Feigen, in Pasing Kartoffeln, Rüben, Rettiche; in Pasing kann man Schlitten fahren, wenn man in Fiesole einen Sonnenschirm braucht; in Fiesole ist man so weit in der Kultur zurück, daß kein Mensch seinen Nachbarn durch Klavierspiel erfreut, während sich in Pasing jede Waschfrau für eine Barbarin halten würde, ließe sie nicht wenigstens ihrer Tochter den Walzer aus der Lustigen Witwe auf dem Fortepiano (aber weniger piano, als forte) beibringen.

Mit alledem glaube ich meine Objektivität genügend erwiesen zu haben, um nun ein kleines Loblied aus den „Uebel abwehrenden Felsen von Fiesole“ (Ruskin) anstimmen zu dürfen.

Hier ist das edelste Werk getan
Allerlebendigster Kunst:
hier ist Kunst und Natur ganz eins.
Nichts verlor die Natur an die Kunst auf diesen Terrassen,
Die sich ihr fügten, indem sie sie edel
Faßten: Steine aus deinem Kern,
Fels von Fiesole.
Feld und Garten ist eins: es schlingt,
Wachsend aus gleicher Furche mit ihm
Zwischen den üppigsten Halmen des Korns,
Wolluststark sich die Rebe empor,
Keine Räuberin: Geliebte,
Hoch in den Ölbaum.
Alles umarmt sich hier: Rose den Lorbeerbaum,
Efeu die Eiche, die
Nie ihr Blatt verliert.
Engelwurz flicht sich sanft,
Liebevoll, Schmuck, ins Grün
Steiler, schwarzer Zypressen. Es hängt,
Gleich einem riesigen Bacchusgelock,
Blau der Glyzine Blütentraube
Schwer vom Säulengebälk der Villa.
Iris und Tulpen säumen das Garten-Feld;
Ueberall Sterne und Glocken im Gras,
Seltsame, feurige: namenlos
Nordischer Zunge.
Nichts scheint wild hier; alles ist Zucht;
Aber es ist die edelste Freiheit.
Dienerin wurde Natur dem Geiste,
Der aus ihrem Geist regiert.
Hier erkannt ich die Kraft
Und die herrliche Ewigkeit,
Hellas und Rom, des Sinns
Eurer Zeiten: hier
Lebt noch die Herrscherin Kunst, die alles
Bindet und hebt und verklärt und den Menschen
Wirklich zum Herren der Erde macht.

Ich bitte, diese Rhythmen nicht mit den Ueberschwenglichkeiten deutscher Hochzeitsreisepaare in eine Reihe zu stellen, die, aus Italien zurückkehrend, sich wohl ähnlich begeistert äußern. Ich mochte meinen armen Versen (in aller Bescheidenheit) den Vorzug vindizieren, daß sie ihre Entstehung nicht einem vorübergehenden Seelenzustand von mehr oder minder konventioneller Hochspannung verdanken, sondern von einem Menschen herrühren, dem die Voraussetzungen für eine allgemeine Italienschwärmerei leider abhanden gekommen sind. Es fehlt mir vor allem dazu jene Blindheit, die heute noch Italien so „sieht“, wie es früher von Dichtern und Malern gesehen worden ist, deren Suggestionskraft bis auf den heutigen Tag fortwirkt, obwohl in Wahrheit tatsächlich das Italien von heute ganz anders aussieht, als etwa das Land, das Goethe verkündet hat. Es hat noch immer viele Schönheiten, aber die alte Schönheit hat es nicht mehr. Seine Städte (nur wenige, wie Venedig, ausgenommen) sind modern verhunzt. Man muß sich, an allen Ecken und Enden geniert, mit Einzelheiten begnügen, wo früher ein reines Ganze rein erfreute. Es ist ein ästhetisch trauriges Verhängnis, das, als Folge volkswirtschaftlich sehr erfreulicher Umstände, unabwendbar scheint. Das Regno entwickelt sich mit der ganzen Lebhaftigkeit seiner höchst begabten und keineswegs in einem Rückgang seiner Lebenskräfte (ausgenommen die ästhetischen) befindlichen Bevölkerung zu einem Staate, der zu seinem Fortschritte derselben modernen Mittel bedarf, wie alle übrigen. Die Fremdenindustrie allein tut's nicht; er braucht auch andere. Und so braucht er z. B. elektrische Anlagen, braucht Fabrikschlöte. Aber die tausende elektrischer Drähte erdrosseln die Schönheit seiner Architekturen, und der schönste Kampanile büßt an ästhetischer Wirkung ein, wenn ihm ein Fabrikskamin benachbart wird.

Dies sind nur Andeutungen. Es widerstrebt mir, das Thema auszuführen. Denn ich liebe Italien noch immer und möchte niemand die Freude daran vergällen, der es in Ferienbegeisterung mit wohltätiger Blindheit besucht. Es wird ohnehin bald der Tag kommen, wo selbst Flitterwochenreisenden die Augen aufgehen werden. Hoffentlich sehen sie dann nicht bloß das, worauf man ästhetisch das Byronwort anwenden muß: „Schlecht und modern“.

Auch wird eins ja wohl immer bleiben: die italiänische Landschaft mit ihrem unendlichen Schönheitsreichtum. Vom Heroischen bis zum Idyllischen ist schlechterdings alles in dieser Landschaft vertreten: sogar der „deutsche“ Wald.




*) Pasing, im Münchner Westen, wurde 1938 nach München eingemeindet.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Fiesole nach Pasing