Zehnter Abschnitt. - Gewitterkeulen - fettherziges Gesindel - Adamsnachkommenschaft - Brixen - Dampfwagen - Handelsstadt Tirols - Automobil - Wasserkloset - Knipslicht - Klausen - Bräutigamsarmee - Klosterfrauen - Mechthild von Magdeburg - Nonnenkloster Säben - Monte Cassiono - Handwerksbursche - Vergnügungsreisender - Veitstanz - Massendrehkrankheit.

Nun stieg ich also wieder da oben herum und kam mir vor wie ein Mann, der in seiner eigenen Vergangenheit herumgespenstert. Ich bin ja gar nicht mehr Der von dazumal. Der „Schloßherr von Englar“ war ein beträchtlich leitsameres Wesen, als ich es bin, und da er sich fremder Angelegenheiten mit rührender Beflissenheit annahm, war er wohl auch „liebenswürdiger“ als ich. Sicher ist, daß er beliebter war. Ich kann es gar nicht sagen, wie angenehm es mir ist, dieser Beliebtheit über den Kopf gewachsen zu sein. Erst seitdem mir das gelungen ist, besitze ich ein Stückchen Weltüberblick und einiges Selbstbewußtsein. Wie danke ich allen denen, die mir dazu verholfen haben! Hier in Englar wurde ich, etwas spät, Mann. Es war ein sehr kritischer Moment, als mir das Glück geschah. Hätte es mich nicht mit Gewitterkeulen aus einer stark tranigen Idylle geweckt, ich wäre einem erbärmlichen Behagen verfallen und direkt aus dem lyrischen Knaben ein idyllischer Frühgreis geworden. Seitdem habe ich mir den Ausruf angewöhnt: „ Heiliges Donnerwetter!“

Trotzdem schien es mir anfangs wie eine Vertreibung aus dem Paradiese, als ich Englar mit dem Gefühle heilsamsten Ekels verließ. So töricht ist der Mensch, wenn er die Quellen seiner Kraft behaglich hat verschlammen lassen. Man stelle sich einmal vor, was für ein fettherziges Gesindel aus der Adamsnachkommenschaft geworden wäre, wenn die nicht genug zu preisende Schlange dem ersten Paare nicht zu jener Exmittierung verholfen hätte, mit der die Geschichte der Menschen aus einer Idylle ein Drama zu werden begann. Die Not, die herrliche, zeugende Not trat ins Leben. Das war Jehovas bester Streich. Die Menschheit hat sich dafür durch Darbietung einiger gewaltiger Gesellen revanchiert; ihre schönste, übersichtlichste Opfergabe sind die shakespearischen Dramen.


Die wunderschöne Strecke zwischen Bozen und Brixen (von der weltlichen zur geistlichen Handelsstadt Tirols: beide nicht mehr recht in Blüte) pflege ich, wenn sich's irgend machen läßt, nicht im Dampfwagen, sondern in der Kutsche zurückzulegen. So auch diesmal. Es gibt kein schöneres Stück Land deutscher Zunge. Brixen fängt leider an, sich zu modernisieren. Auch der altehrwürdige „Elefant“ ist neu aufgezäumt und hat dadurch viel von seinem Reize verloren. Es ist nicht mehr der, von dem ich in der Empfindsamen Reise im Automobil geschwärmt habe. Der Fortschritt ins Ungemütliche, Gewöhnliche vollzieht sich rapid, und kein Wasserkloset, kein Knipslicht vermag dafür zu entschädigen. Auch das brave Weiße Lamm „des Kantioler“ in Klausen ist nicht mehr das alte, denn „der Kantioler“ ist nicht mehr. Schlecht vernewert ist es nicht, aber es hat die Seele verloren. Dagegen ist das hohe Säben noch immer wunderbar wie je. Ich hatte, als ich es nun besuchte, Aegypten, Syrien, Palästina, Griechenland gesehen und mußte mir doch sagen: Eigentlich braucht man nicht so weit zu reisen, um große Eindrücke aus der Natur und Menschheitsgeschichte zu erhalten. Von der rhätischen, römischen Zeit bis zu Napoleon fühlte dieser Fels die Stöße der Weltgeschichte, und immer wurde hier oben Göttern geopfert. Das letzte große: ihr Leben, brachte jene Nonne dar, die 1809 als Braut Christi keinem französischen Soldaten gehören wollte und sich in den Abgrund stürzte. Nun breitet ein ungeheurer Christus die Bräutigamsarme an dieser Stelle aus: so riesig, daß er selbst in der Tiefe überlebensgroß wirkt, oben aber als ein Gigant der heiligen Liebe. Daß auch die heutigen Nonnen ihren Christus mit fraulich schmückender Liebe lieben, zeigte mir eine mitten in der unteren Kapelle stehen gebliebene Christusfigur, der die Klosterfrauen einen purpurnen goldbordierten Mantel umgehängt hatten. In die Dornenkrone schlang sich ein Kranz seidener Blumen, eine silberne Kette mit einem vergoldeten Medaillon schmückte den Hals. Ich hätte mich nicht gewundert, Ringe an seinen Fingern zu sehen. Es war eine sehr alte Figur, und der schönen Arbeit des gotischen Schnitzmessers war kein Gefallen damit erwiesen, daß sie, wer weiß zum wievielten Male, mit glänzender Oelfarbe überstrichen worden war, aber es läßt sich durchaus begreifen, daß die Nonnen keinen holzfarbenen, wurmstichigen, hartlinigen Christus haben wollten, sondern einen glatten, glänzenden, weiß und roten. Und es ist keine lästerliche Verirrung, daß sie den Schmerzensmann schmücken und putzen wie einen Bräutigam: es ist reine und echte Liebe der Gottesbraut. Als sie noch Dichterinnen waren, wie die Mechthild von Magdeburg, haben sie ihn mit küssenden Reimen geherzt, und „es ging die Allerliebste“ (die Nonne) „zu dem Allerschönsten“ (Christus) in die geheime Kammer der unschuldigen Gottheit; da findet sie „der Minne Bette und Minne Gelaß“.

Dieses Nonnenkloster Säben bei Klausen gehört sicherlich zu den gewaltigsten und schönsten Gebetsburgen der Christenheit. Seine Lage und sein Bau lassen keinen Vergleich mit Monte Cassino zu, denn alles ist hier anders, aber es darf neben der Gründung des heiligen Benedikt genannt werden als ein Ort von ebenso mächtiger Ehrwürdigkeit und ebenso großer Schönheit.

Es wird eine Zeit kommen, wo man es nicht begreift, daß gescheite Leute sich in Käfigen auf Schienen an dieser Herrlichkeit vorbeischleppen ließen und ihr Genüge daran fanden, aus einem roten Buche schnell aufblickend zu konstatieren: Säben, Nonnenkloster, rhätisch, römisch . . . usw.

„Ueber Reisen kein Vergnügen“ sang man in der Biedermeierzeit, ehe das begann, was Goethe „veloziferisch“ nannte, er, der auch hinter der Erfindung des Dampfwagens den Unsinn ahnte, der aus seinem Sinn werden sollte. Was ist das aber für ein trauriges Vergnügen, das man von den Gesichtern heutiger Vergnügungsreisender (Kinder ausgenommen) abliest. Jeder Handwerksbursche hat mehr von der Welt gesehen als sie, die, wo immer sie auch gewesen sein mögen, eigentlich nie gereist, immer nur transportiert worden sind. Dieser Unsinn ist so erstaunlich, daß er sich bloß pathologisch erklären läßt. Ein Mensch reist von Berlin nach Rom; in einem Rutsch; obwohl er Zeit dazu hatte und Geld, an den schönsten Orten Station zu machen, fährt er, aufs widerwärtigste eingesperrt, Tag und Nacht, immerzu rattatta, rattatta weiter; Tirol, Oberitalien, Florenz: da schläft er vorüber, dort skatet er vorbei, hier liest er deutsche, dort italiänische Zeitungen; nur weiter, nur weiter sein Billett geht ja bis Rom. Welch ein Wahnsinn! (Ich rede natürlich von Leuten, die zum Vergnügen reisen, und nicht von solchen, die notgedrungen zu einem bestimmten Termine in Rom sein müssen.) Er läßt sich durch nichts als sinnvolle Handlung beschönigen. Es kommt mir vor, wie wenn ein Mensch an einer Table d'hôte teilnähme und würde von der Suppe bis zum Gefrornen schlafen oder lesen oder sonstwas tun, und erst beim Käse zulangen. Es ist eine Epidemie, wie der Veitstanz im Mittelalter. Aber ich glaube, daß diese Massendrehkrankheit mit stärkeren Sensationen verbunden war.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Fiesole nach Pasing