Neunter Abschnitt. - "Greifen" - Bozen - pastor primarius - Oberrabbiner - Sevierladies - Capillomirakuloidol - Jungtiroler - Eppan - Gschloß im Gschleich - Renommisterei - Schloß Eglar - Wolfshund Gandegg - Freudenstein - Grafen Khuen.

In Bozen hatte ich eine originelle Anwandlung: ich wollte einmal nicht im „Greifen“ absteigen. Das ist so, wie wenn einer nach Rom führe und wollte nicht dem Papst, sondern dem Oberrabbiner oder dem pastor primarius der evangelischen Gemeinde den Pantoffel küssen. Derlei kann man sich wohl vornehmen, aber man tut es nicht. Eine halbe Stunde nach meiner Ankunft saß ich in dem länglichen Speisesaal des „Greifen“, lautlos umhuscht von den traditionell weißgekleideten Servierladies dieses nun schon seit etwa 20 Jahren immer gleich gut funktionierenden Verpflegungsmechanismusses, dessen Seele die gleichfalls traditionell weißgekleidete Frau Staffler ist, mit der ich seit 15 Jahren immer wieder von Zeit zu Zeit folgendes Gespräch habe: Sie: Ah! guten Tag, Herr Professor! Sind Sie auch wieder zurückgekehrt? Ich: Ei ja wohl, Frau Staffler! Wie sollte ich auch nicht? Sie: Das freut mich so, Herr Professor! Ich: Und mich desgleichen, Frau Staffler! –

Dieses Gespräch, wie inhaltslos es auch erscheinen möge, lehrt zweierlei: 1. daß Frau Staffler an immer wiederkehrende Gäste gewöhnt ist (s. o.!) und 2. daß ich das Ansehen eines ungemein gelehrten Mannes habe. „Doktor“ wird in deutschen Landen am Ende ein jeder Mann genannt, der nicht geradezu wie ein Kutscher aussieht oder durch eminent vornehme Allüren den Titel Baron herausfordert; aber der Professor wird doch wohl nur Leuten verliehen, denen profundes Wissen von der Stirne leuchtet. Ich begreife eigentlich nicht, warum man es sich in Deutschland noch immer so viel saure Mühe kosten läßt, akademische Grade zu erreichen, da man ihren Titeln ohnehin nicht entgeht. Vom 20. – 30. Jahre bin ich consensu omnium Doktor gewesen (die wenigen Menschen ausgenommen, die meine wissenschaftlichen Defekte aus Erfahrung kannten); vom 30. Jahre an haben sich die Stimmen derer bedenklich vermehrt, die mich als eine noch intensivere Leuchte der Gelehrsamkeit ansprechen. Ueber ein kleines, und ich werde Geheimrat sein. Da mir die Haare auszugehen beginnen, wird dieser Zeitpunkt, falls Capillomirakuloidol (Name geschützt.) nicht Wunder tut, bälder herangekommen sein, als mir lieb ist.


Daß mein würdevolles und weises Aussehen auch noch zu andern Trugschlüssen verleiten kann, mußte ich am nächsten Tage erfahren. Ich betrat ein Geschäft, dessen Besitzerin schon zur Zeit meines Südtiroler Aufenthalts fleißig dafür sorgte, daß Wiege und Kinderwagen nicht leer wurden. Auch diesmal hatte ich das Vergnügen, ihr zu einem Jungtiroler gratulieren zu können. Da sprach die Fruchtbare also: „Haben der Herr Professor auch Kinder?“ Ich mußte gestehen: nein. „Aber natürlich!“ erwiderte sie: „Der Herr Professor haben keine Zeit dazu.“ Ich sah sie dümmer an, als es für einen Professor schicklich ist, und entfernte mich mit dem bedrückten Gefühle, daß ich nachgerade doch wohl etwas zu würdevoll und weise aussehe.

Die alte Erfahrung bestätigend, daß Verbrecher immer wieder an den Schauplatz ihrer Untaten zurückkehren, pflege ich fast stets, wenn ich in Bozen bin, einen Abstecher nach dem Eppan zu machen, wo das alte brave „Gschloß im Gschleich“ liegt: Englar, die Hochburg meiner poetischen Sünden. Ich habe dort nicht weniger als zwei Romane, drei Bände Novellen, eine große Künstlermonographie und zwei dicke Kalenderbücher voller Gedichte und Prosa geschrieben, – einen Haufen Aufsätze garnicht gerechnet. Es ist nicht klug von mir, daß ich daran erinnere, denn eine derartige Fruchtbarkeit trägt nicht etwa eine gute Fleißnote, sondern das Verdikt ein: Vielschreiber! Aber was hülfe es mir, wenn ich es verbergen wollte? Die Schande ist offenbar, und einige meiner Englarer Produkte schämen sich nicht, von Zeit zu Zeit neue Auflagen zu erheischen. Ich weiß: auch das sollte ein kluger Autor verschweigen, denn, einmal, es macht mancherorts unbeliebt, und dann, es sieht wie Reklame und Renommisterei aus. Aber ich bin nun einmal so: ein bißchen Unbeliebtheit macht mir Spaß, und da das Renommieren auch dazu verhilft, so geht's mit hin. Deutlicher gesprochen: ich ärgere die Leute gerne, die mich ärgern. Und, ich muß es gestehen: dummer Neid ist mir immer ärgerlich gewesen. Er dient zu gar nichts, ist sich selber und der ganzen Welt nur zum Mißvergnügen da.

Ich werde immer auf dieses Thema gebracht, wenn ich Schloß Englar besuche. „Schloß Englar!“ Kein Zweifel: das klingt feudal. Es war herausfordernd, die Widmungen der dort entstandenen Bücher sub „Schloß Englar“ zu datieren. Aber es hat zu meiner Menschenkenntnis beigetragen. „Der Schloßherr von Englar“ ist ein Bündel Drucksachen überschrieben, aus denen ich gelernt habe, wie gefährlich es für einen Dichter ist, in den Geruch eines „Schloßherrn“ zu kommen. (Ein anderes Bündel trägt die Aufschrift: „Der Automobilbesitzer“.)

Uebrigens ist Englar, wie ich mich jetzt wieder überzeugt habe, gar kein richtiges Schloß. „In Berlin würde der olle Kasten uff Abbruch verkooft wer'n“ sagte mir einmal ein Berliner Tourist, dem es gelungen war, bei Abwesenheit meines braven Wolfshundes Muschka in den Hof einzudringen. So unerbeten diese Kritik auch war, sie traf den Nagel auf den Kopf. Aber das Schöne an Englar ist gerade, daß es ein alter Kasten und kein ordentliches Schloß ist (wie das benachbarte Gandegg etwa oder Freudenstein). Auf den ersten Anblick wirkt es wie ein größenwahnsinnig gewordenes Bauernhaus. Diesem Ansehen entspricht die Umgebung: verfallende Mauern um einen unebenen winkligen Hof mit ein paar Scheunen. Trotzdem ist mir außer jenem Berliner Eindringling niemand (auch kein anderer Berliner) begegnet, zu dem nicht sofort das gesprochen hätte, was Englar mehr hat, als irgend einer der mir bekannten alten Tiroler Herrensitze: echt romantische Stimmung verbunden mit Behaglichkeit. Die Erklärung dafür mag paradox klingen: der romantische Reiz Englars beruht in dem Fehlen jeder romantischen Aeußerlichkeit. Diese pflegt sich meist durch Absichtlichkeit um die volle Wirkung zu bringen. Auch ist sie fast immer das Werk mehr oder minder moderner Restauration. Fast alle diese Schlösser sind eine Weile etwas ruinös gewesen. So auch Englar. Aber während die meisten übrigen, wenn ihre alten Besitzer zu Geld oder sie selber in fremde Hände kamen, „stilgemäß“ hergerichtet wurden, so begnügte man sich, das gütige Schicksal sei gepriesen, bei Englar damit, dem alten Kasten ein neues Dach zu spenden und dieses immer mal von Zeit zu Zeit auszubessern. Dieses Dach entspricht dem Stile dieses sehr alten Gebäudes (von dem schon Urkunden aus dem 11. Jahrhundert berichten) zweifellos gar nicht. Auch Englar ist einmal „Burg“ gewesen: mit Turm und Zinnen. Die ritterlichen Architekturbestandteile sind, wer weiß wann, kaputt gegangen, ohne daß die Grafen Khuen das Bedürfnis gehabt hätten, sie an einem Hause zu erneuern, das nun ja in der Tat keine Wehrburg mehr war, sondern ein Landsitz, dem nur aus alter Zeit der Name Schloß anhaftete. Wäre es, gleich den übrigen Schlössern, jüngerer Herkunft gewesen, so hätte man vielleicht doch auf mehr stilgemäße Ausbesserung Bedacht genommen. Aber Englar war schon vor Jahrhunderten so alt, daß man sich auf seinen Urstil nicht mehr besinnen konnte. Man baute dort etwas an, da etwas an, besserte hier aus, dort aus: immer nur wie es das Bedürfnis gebot und der jeweilige Geschmack der Zeit wollte. Dann verfielen die älteren Teile, und das Haus begann schließlich (wie es nicht nur bei Genies, sondern auch bei alten Schlössern zu gehen pflegt) „von oben herab zu sterben“. Die oberen Stockwerke des noch immer turmartig hohen Hauses verrümpelten eines nach dem andern, bis es den Besitzern, die im zweiten Stocke wohnten, in die Suppe zu regnen begann. Das billigste Hilfsmittel, das sich bot, wurde ergriffen. Statt die ruinös gewordenen Mauern bis zur ursprünglichen Höhe hinauf auszubessern, legte man ein sehr hohes, sehr steiles Dach an, das nun freilich ebenso viele Dachboden- wie Wohnstöcke zu schützen hatte. Aber gerade dieses Dach ist für das heutige Englar charakteristisch und trägt viel zu dem gemütlich romantischen Reize des Ganzen bei. Obwohl es in der Anlage gewiß noch keine hundert Jahre alt ist, hält es jeder beim ersten Anblicke für gotisch. Ich bin nie so roh gewesen, meinen Besuchern die Illusion zu rauben, daß sie unter einem gotischen Dache schliefen. Warum auch? Ein ehrwürdiges Dach war es auf alle Fälle, und sein märchenhafter Eindruck verdiente es wohl, in der Phantasie gotische Verbrämung zu erhalten.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Fiesole nach Pasing