Elfter Abschnitt. - Vergnügungsreise - Siegmundskirchlein - Burgpfaffe Schnapphahn - Sommerfrische - Ironiker - St. Jodok - Liliencron - Wolzogen - Plaidrolle - Kindermädchen - Dyspeptiker - Hundeseele - Schwanzstummel.

In Brixen stieg ich aber doch in den Zug. Ich mußte nach Hause und nun war meine Vergnügungsreise zu Ende. Grimmig schrieb ich angesichts des Siegmundskirchleins am Brenner in mein Notizbuch:

Hier entsäckelte einst der mutige Ritter den Kaufmann;
Siegmund dem Heiligen schuf dicht er ein Kirchlein dabei.
Nun am gleichen Altar entsühnte den Schnapphahn der Burgpfaff,
Und der Kaufmann hob dankend die Hände zu Gott:
„Herr, ich preise Dich! Herr, Du hast den Esel verblendet;
Siehe er ging auf den Leim: nahm nur den glitzernden Schund.“
Groß ist Gott. Er genießt die Menschheit, die er gebacken,
Wie er sie buk und verdirbt nicht mal den Magen sich dran.


Und bei St. Jodok, wo ein ehemaliger Kamerad die Sommerfrische zu genießen pflegt, der es nicht verwinden konnte, daß ich es ein wenig weiter gebracht habe, als er, gedachte mein Bleistift seiner und kritzelte:

Du willst mir in die Suppe spucken?
Welch Größenwahn und Unverstand.
Du kannst ja nicht mal bis zum Rand
Von meinem Suppenteller gucken.

Das kommt von der Eisenbahn: man denkt an Unerquickliches, das einem sonst nie einfällt; es fliegt einem mit dem Ruße an.

In Wörggl mußten zwei Mann einen schweren Wagen auf ein andres Gleis schieben. Der eine war ein Ironiker und sagte: „Arbeit macht das Leben süß!“ Ich rief ihm entgegen: „Sauer ist mir lieber“ und wurde für die Schändlichkeit durch lebhaften Beifall beider belohnt. Da ich sie darauf durch zwei Viertele Roten gut machte, hatte ich mich einer sehr aufrichtigen Ovation zu erfreuen, die in Gesang überging, als ich abfuhr:

Arbeit macht das Leben süß,
Sauer ist mir lieber.
Juhuhu! Juhuhu!

In Innsbruck stieg ein Mensch zu mir ins Coupé, der mich immerfort anstarrte und dazu den Lustigen Ehemann pfiff. Ich wollte eben die Notleine ziehen, da wurde er direkt und fragte mich: „Sind Sie nicht der Dichter des Lustigen Ehemanns?“ „Nein,“ antwortete ich, „der war ich einmal; aber ich ziehe den kleinen Kohn vor, und noch entzückender finde ich das Volkslied: Auf dem Baume sitzt 'ne Pflaume. Wenn Sie zur Abwechslung eines dieser Lieder pfeifen wollten, so würde ich Ihnen unaussprechlich verbunden sein.“ „Hahaha.“ lachte der Mann mir die Düfte seines Magens ins Angesicht, „hahaha, Sie sind ein Humorist!“ Und er tat mir die höchste Ehre an, die ein literarisch gebildeter Deutscher zu vergeben hat: er verglich mich mit Otto Reutter. Das stimmte mich milde, und ich lehnte bescheiden ab. Aber er blieb dabei und meinte nur, daß Herr Reutter noch komischer aussähe, als ich. „Noch komischer?“ rief ich, „das möchte ich denn doch bezweifeln. Sie sollten mich nur mal sehen, wenn ich mir Mühe gebe. Aber das geschieht natürlich nur im Engagement.“ „Natürlich,“ erwiderte er; „zu schade, daß ich nicht in Berlin war, wie Sie im Ueberbrettl sangen. Liliencron habe ich mal auftreten sehen, ich glaube in Köln, aber er sang leider nicht, las bloß vor. Wahrscheinlich war er nicht bei Stimme.“ „Wahrscheinlich. Sonst hätte er gewiß „Die Musik kommt“ gesungen.“ „Deshalb war ich auch in die Vorstellung gegangen,“ erklärte er, „und ich fand es eigentlich stark, daß der Herr bloß vorlas.“ – „Sie haben offenbar viel Interesse für Literatur,“ sagte ich. „Na,“ sagte er, „nicht für alles: bloß für das Moderne. Aber auch bloß, wenn's vorgetragen wird. Lesen ist meine Sache nicht. Da fehlt ja auch die Musik bei.“ „Freilich,“ gab ich ihm zu, „und dann die Bewegungen! Die Mimik!“ „Ja,“ rief er aus, und seine Augen leuchteten: „Die Kunst. Und, sehen Sie, die hat Ihr Kollege Reutter doch riesig weg! Wenn er so mit den Armen schlenkert, oder er hat sich einen Rettich ins Knopfloch gesteckt und denkt, es ist ne Rose, und wie er daran riecht, merkt er's, und dann frißt er den Rettich auf! Göttlich! Gött–lich!“ Und er besäuerte mich neuerdings mit einem Gelächter, das keinen Zweifel daran ließ, wie empfänglich er für Humor war. Ich unterhielt mich noch lange mit ihm über Literatur und Kunst und lernte dabei den Erfolg des Ueberbrettls begreifen, das seinen Platz in der deutschen Kulturgeschichte gewiß behalten wird. „Wir werden den Uebermenschen auf dem Brettl gebären“, rief mein Stilpe an der Stelle seines Romanes aus, der Wolzogen zu dem Titel seiner bunten Bühne inspirierte. Da saß er neben mir, der Uebermensch. Ich war aufs tiefste gerührt, schützte in Kufstein aber doch Geschäfte vor und setzte mich in ein anderes Coupé.

Dort saß (es war ein Coupé dritter Klasse) ein junges Mädchen und betete zu Goethe. Es las im Faust (Reklamheft). Ich bat der deutschen Kultur meine Lästerungen ab und erfreute mich des Anblicks. Da das junge Mädchen außerdem noch hübsch war, begann ich, als es das Buch zugeschlagen hatte, ein Gespräch. Ganz direkt: „Wundervoll, der „Faust“, nicht wahr?“ – „Ja, herrlich!“ – „Haben Sie ihn schon oft gelesen?“ – „Oft? Nein. Jetzt das dritte Mal. Ich habe wenig Zeit zum Lesen.“ – „Was lesen Sie denn sonst noch?“ – „Ach wenig. Am liebsten Gedichte.“ – „Wer ist denn Ihr Lieblingsdichter?“ – „Wie meinen Sie das?“ – „Von wem Sie am liebsten Gedichte lesen?“ – „Von wem sie sind, ist mir einerlei. Ich schreibe den Namen nicht drunter.“ – „Das verstehe ich nicht.“ – „Nun ja, wenn ich ein hübsches Gedicht finde, schreib' ich mir's ab.“ – „Ach so.“ – „Ich habe schon ein ganz dickes Buch.“ Sie zog es aus ihrer Plaidrolle und zeigte es mir.

Ich muß gestehen, daß ich selten in meinem Leben vor Stolz errötet bin; hier wurde ich rot: denn ich fand in dieser Anthologie ein ganzes Dutzend Gedichte von mir.

„Wo haben Sie denn die gefunden?“ fragte ich. – „Ach, die standen in einem dicken Buche. Aber die andern waren nicht so schön. Unser junger Herr hat mir das Buch mal geborgt.“ – „Sie sind in Stellung?“ – „Ja, ich bin Kindermädchen.“

Nun, dachte ich mir (denn Dichter sind eitel), ein ganzes Dutzend: das ist schon was, und hahaha (denn Dichter sind boshaft), von X und Y und Z war gar keins drunter.

Schade, daß wir so bald in München waren. Ich hätte mich mit dem Kindermädchen gerne noch lange über Gedichte unterhalten. Die Kleine hat mir auf eine sehr artige Manier auseinandergesetzt, wie ein Gedicht sein muß, wenn es ihr gefallen soll. Es lief darauf hinaus: Es muß so sein, als ob man es selber auch so hätte sagen können, aber doch wieder viel schöner; und es muß sein, als gehörte eine Melodie dazu; und es muß natürlich etwas fürs Herz sein: entweder „schrecklich“ lustig oder „furchtbar“ traurig.

Ich half der Kleinen, als sie ausstieg, mit vielem Respekt zu ihren Sachen und lachte dem humorbegeisterten Dyspeptiker, als er mich anschrie: „Nanu? Ich denke, Sie sind in Kufstein“ mit so unzweideutigem Ausdruck ins Gesicht, daß er mich fürder nicht für einen Humoristen, sondern für ein Monstrum von Undankbarkeit halten wird.

In Pasing begrüßte mich meine alte Freundin Wiwwi mit all dem Ausdruck, den eine gute Hundeseele in die Bewegung eines Schwanzstummels zu legen vermag, und sie war nicht eher ruhig, als bis ich ihr versicherte, daß das Frauchen auch bald nachkommen werde.

Und von Pasing nach Fiesole schlug sich der mystische Bogen der Sehnsucht, der von Herz zu Herzen geht.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Fiesole nach Pasing