Siebter Abschnitt. - Nicotiana - tinctura amara - Opiumtinktur - Leidenschaft - Gegengift - Kolapastillen - Gondoliere - Schwelgerei - animalische Glückseligkeit - Gehirnferien - Nirwana.

Als ich von Venedig abreiste, verschaffte ich mir, ohne es zu wollen, eine recht sonderbare Sensation: ich vergiftete mich ein bißchen. Das tu ich ja nun, wie die meisten meiner verehrten Zeitgenossen, täglich, und ich betreibe diesen Sport sogar recht heftig, indem ich stärksten Tee literweise trinke und dem Kraute Nicotiana mit mehr Leidenschaft als Vernunft huldige. (Wie sollte ich auch nicht, da ich in puncto Alkohol so unmäßig tugendhaft bin. Auch die Gifte sind dazu da, genossen zu werden, insoweit sie bei entsprechender Dosierung die freundliche Eigenschaft haben, das Lebensgefühl anzuregen. Nur ist leider die Dosierung ein schwieriges Problem.) Aber diesmal handelte es sich um kein Gewohnheitsgift: Ich gedachte, einen guten Schluck tinctura amara zu nehmen, die auf meinen Magen wirkt, wie Schumanns „Aufschwung“ auf die Seele, vergriff mich aber in der Flasche und nahm einen herzhaften Schluck Opiumtinktur.

Ich erschrak nicht wenig und suggerierte mir zu den positiven Folgen noch einen ganzen Schwanz eingebildeter. Obwohl ich es mir längst vorgenommen habe, einmal in Venedig zu sterben, setzte ich der Aussicht, das jetzt schon abzumachen, lebhaften Widerwillen entgegen. Ich rannte in die deutsche Apotheke und verlangte ein Gegengift. Man riet mir, Kolapastillen zu essen und schwarzen Kaffee zu trinken. Folgsam, wie ich bin, tat ich das sogleich. Ich nehme sogar an, daß ich es viel zu folgsam tat, denn es ist wohl möglich, daß die Zustände, die mich darauf beglückten, ebensosehr die Folgen von Kola und Kaffee wie von Opium waren. Es war reizend. Ein wundersames Gefühl von blödsinniger Gemütlichkeit erfüllte mich ganz und gar. Ich wurde stupide lustig und hatte die Empfindung, daß wohlwollende Dummheit der angenehmste Zustand ist, in dem sich ein Mensch befinden kann. Es gab nichts mehr, worüber ich mich geärgert hätte. Ich fand alles liebenswürdig, sogar mich selber. Da ich nicht denken konnte und gewissermaßen schlief, so träumte ich. Doch war es mehr ein Träumeln. Meine Beine schienen unter mir zu baumeln. Ich fühlte den Erdboden kaum, auf den ich trat. Wenn ich irgendwo angekommen war, so schien es mir, als sei ich angekommen worden. Ich sprach wenig; was ich aber sagte, sagte ich dreimal. Und immer lächelte ich dazu. Sehr angenehm war es, daß ich gar keine Wünsche hatte und nie ein Ziel. Meine Beine baumelten mich irgendwohin, und überall war mir's recht. Dabei führte ich aber doch Absichten aus, die ich früher gefaßt hatte. So kaufte ich mir schönes graues Büttenpapier in einem Laden, wo im übrigen Töpfe verkauft werden, was mir in diesem Zustande doppelt lustig vorkam. Aber ich kaufte statt fünf Kilo dreißig. (Als ich am nächsten Tag das Riesenpaket im Hotel vorfand, erschrak ich nicht wenig bei dem Gedanken, diesen Popokatepetl einmal betinten zu sollen.) In einer Gondel, in die ich gestiegen war, bloß weil es der Gondoliere gewünscht hatte, schlief ich ein. Als ich erwachte, befand ich mich genau an dem Orte, wo ich eingestiegen war. Sehr möglich, daß der Gondoliere so schlau gewesen ist, sich wegen des Schlafgastes, den er für betrunken halten mußte, nicht anzustrengen, und daß ich einfach in der stehend gewiegten Gondel geschlafen habe. Jedenfalls glaubte ich seinen Beteuerungen, er habe mich drei Stunden lang durch sämtliche Kanäle gerudert, und zahlte ihm widerspruchslos die verlangte dreifache Taxe. Und lächelte dazu. So freundlich bin ich sonst nicht, wenn mich jemand begaunern will. Ich könnte mir diese Art Menschenfreundlichkeit als deutscher Dichter ohne Zuschuß aus irgend einer fürstlichen Privatschatulle auch nicht leisten. Denn siehe da: ich fand am nächsten Tage, daß mich der Schluck Opium 60 Lire über mein Tagesbudget gekostet hatte (die Schwelgerei in Büttenpapier nicht mitgerechnet). Nur dem Allwissenden mag es bekannt sein, welchen Unfug ich mit diesem Kapitale angestellt habe.


Aus alledem geht hervor, daß der Zustand träumerisch vergnügten Blödsinns zwar angenehm, aber kostspielig ist. Nur sehr reiche Leute können ihn sich auf die Dauer leisten. – Merkwürdig war mir, daß ihm nur ein ganz gelinder Katzenjammer folgte. Wer weiß: Vielleicht ist es ganz gesund, ab und zu einen Opiumtag der großen Göttin Stupidität zu weihen. Das Gehirn ruht aus, die immanente Menschenfreundlichkeit, sonst durch Kritik gemäßigt, wacht auf, der Wille schläft ein, und man lächelt insipide einen Tag in animalischer Glückseligkeit dahin, ein Stückchen Nirwana genießend: alles in allem ein Tag ohne Strapazen, ein Gehirnferientag, ein blauer Mohntag des Lebens.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Fiesole nach Pasing