Sechster Abschnitt. - Wladimir Schereschewsky - Elends-Malereien - Irrenhaus - Arrestlokale - Nihilist - Café Orientale - Insel der Narren - verso la luce - Psychiater - Lido - Heiligenschein - Kundschaft - Venezianer - Kunstfreunde - Uhde - Menzel

Statt seiner besuchte ich einen anderen Freund und Künstler: Wladimir Schereschewsky. Er gehörte einmal zu den großen Hoffnungen des malerischen Naturalismus in München. Uhde schätzte ihn sehr hoch, aber auch Menzel. Zwei seiner großen Elends-Malereien gingen in öffentliche Galerien über. Er aber verschwand aus München, sah in Venedig die alten Italiäner und erklärte, künftighin nicht mehr Dreck mit Dreck malen zu wollen. In der Oeffentlichkeit hörte man erst dann wieder von ihm, als in venediger Zeitungen große Artikel erzählten, Signor Wladimiro sei verrückt geworden und weile im Irrenhause. Das war wirklich wahr. Schereschewsky, von jeher ein Schwärmer und Grübler, war aus der geistigen Balance geraten. Den Anstoß dazu hatte ein Erlebnis mit der politischen Polizei Oesterreichs gegeben, deren Brutalität wohl auch ein weniger irritables Nervensystem hätte zum Rasen bringen können. Man hatte ihn nahe der dalmatinischen Küste in einem Segelboote arretiert, weil man ihn, der ein paar photographische Aufnahmen machte, für einen italiänischen Spion hielt. Obwohl man bald merken mußte, daß er das nicht war, ließ man ihn zehn Tage lang mitten im Sommer in einem glutheißen Arrestlokale, weil er sich nicht ausweisen konnte, wohl aber zugab, vor Jahren aus Rußland politischer Meinungen halber ausgewandert zu sein. Ha: ein Nihilist! Ha: ein Mensch, um den sich sicher kein Konsul bemühte! Ha: eine entzückende Gelegenheit, Macht fühlen zu lassen, ohne einen Rüffel befürchten zu müssen! Kurz: ein bißchen Tortur und dann Abschub nach Italien. Er kehrte unter Wahnvorstellungen zurück, und es kam zu einem Anfall, der die venezianischen Behörden zwang, den in der Lagunenstadt sehr beliebten, ja populären Maler zu bitten, er möge sich ins Irrenhaus begeben. Das tat er ganz gerne, denn er suchte Ruhe vor gewissen Stimmen, die ihn verfolgten. Wie er sich beruhigt hatte, ließ ihn der Direktor der Anstalt, der ihn schätzte, wieder gehen. Ich fand ihn beim Schachspiel im Café Orientale. Wenn das verrückt war, was er sprach, so ist Verrücktheit eine sehr geistreiche Sache, und ich wünschte, oft so verrückt zu sein, wie Wladimir Schereschewsky. Aber eines war wirklich verrückt an ihm, und ich habe ihm gesagt, daß er dafür verdiente, wieder auf die „Insel der Narren“ gebracht zu werden. Nämlich: er zerstörte jedes seiner Bilder immer in dem Momente, wo es vor der Vollendung stand. So vor allem sein großes Abendmahl, von dem alle Künstler, die es in irgend einem Zustande gesehen hatten, erklärten, es sei zu einem Meisterwerke angelegt und voller Schönheit, Kraft, Eigenart. Als ich ihn traf, ließ er es aber überhaupt niemand mehr sehen, und ich durfte erst dann ins Atelier, nachdem er es in seiner ganzen Riesenlänge mit Tüchern verhangen hatte. Dafür zeigte er mir ein andres, gleichfalls sehr großes Bild in der schon sehr weit gediehenen Skizze, das er „verso la luce“: „Dem Lichte entgegen“ nannte. Es stellt eine Schar Arbeiter vor, die, „das Helle vor sich, Finsternis im Rücken“, einem nackten Knaben folgen, der singend vor ihnen herschreitet. Dort, wo sie herkommen, liegt Ruß und dunkle Röte in der Luft; dort, wo sie hingehen, ist silberiges Licht und blauer Himmel. Nun: ein nicht weiter originelles Symbol. Ueber die Idee des Bildes kann man so und so denken. Ich lasse mich darauf nicht ein, weil die Bewertung dieses Kunstwerkes nicht davon abhängt, wie man sich zu seinem Gegenstande verhält. Ich hatte, als ich es sah, die Empfindung, vor den Anfängen einer großen Sache zu stehen, vor dem Meisterwurfe eines Inspirierten. Welch ein Ausdruck in den Köpfen! Welche Wucht in der schwerfälligen und doch inbrunstvollen Bewegung der Menge! Welcher Adel in dem singenden nackten Knaben! Wie meisterhaft zur Monumentalität vereinfacht alles Aeußere: Gewand, Landschaft, Lichtkontrast! Welch großer Zug in der gewaltigen Komposition!

Ich war erschüttert, und ich sagte zu meinem Freunde: „Wenn du zu so was die Kraft hast, magst du meinetwegen im übrigen so viel Stimmen hören und Einbildungen hegen, wie du willst. Die Psychiater halten diese Stimmen und Einbildungen für Symptome einer Krankheit mit einem sehr gelehrten Namen; du selber hältst sie für etwas Reelles; ich bin so frei, dir zu erklären, daß diese Dinge mir sehr nebensächlich erscheinen, solange sie dich nicht hindern, ein derartiges Werk zu konzipieren und mit dieser Herrschaft über alle Mittel der Kunst anzulegen. Sie irritierten mich vis-à-vis diesem Bilde ebensowenig, wie etwa Zahnschmerzen, von denen du geplagt worden wärest.“


Aber Wladimir machte ein düsteres Gesicht und sagte: „Gewiß; ob ich verrückt bin oder nicht, ist nebensächlich, solange ich arbeiten kann. Das Scheußliche ist nur, daß ich weiß: ich werde auch das da nicht fertig bringen.“

„Warum?“ fragte ich: „wegen der Stimmen?“

„Ich pfeife auf die Stimmen!“ schrie der Maler. „Diese Stimmen genieren mich gar nicht beim Malen; im Gegenteil: sie regen mich an. Was mich aber wirklich verrückt macht, das ist: daß ich kein Geld habe, mir Modelle zu nehmen. Siehst du: anlegen kann ich ein Bild ohne Modelle; wenn ich aber so weit bin, daß ich es fertig machen möchte, dann seh ich: das und das und das ist falsch, hat keine Anatomie, ist nicht gesehen, ist bloß gedacht; und da muß ich mir was Lebendiges danebenstellen können, zu vergleichen und zu korrigieren. Aber alles Lebendige will bezahlt sein, und ich habe kein Geld. Ich kann mir ja nicht einmal einen Raum mit Nordlicht mieten. Auf dieser Leinwand hier tanzen, während ich male, die Reflexe vom Kanal unten. Da wäre auch Raffael verrückt geworden! Ich male, male, male, aber ich weiß: es kommt ein Tag, wo mich die Wut packt, daß ich das ganze Zeug wieder zusammenschmeiße, weil ich's nicht fertig machen kann. Denn ich höre zwar, daß die Glocken von San Marco russisch reden, und die Wellen draußen am Lido italiänisch, und die Kanonenschüsse mittags vom Arsenal her oberbayrisch: aber die Stimme des Geldes vernehme ich nicht. Ich habe einen Heiligenschein aus Gold, va bene: aber den kann ich nicht versetzen. Ich muß ihn vielmehr verbergen, weil heutzutage ein Mensch ausgelacht werden würde, an dem man einen Heiligenschein bemerkt. Deshalb setze ich meinen Hut nur abends ab, wenn ich ins Bett gehe.“

Und er fing an, wunderlich zu reden. Ich aber sagte mir: Nicht bloß die Brutalität der österreichischen Polizei hat diesen Menschen von Genie um sein seelisches Gleichgewicht gebracht, sondern die Not des Lebens. Man muß ihm Geld verschaffen, und die Medizin ist da, die es verhindert, daß er vernichtet, was wert ist, der Nachwelt aufbewahrt zu werden. Mag er dann immerhin weiter Stimmen hören und eine Gloriole unter seinem alten Filz fühlen: wenn er nur fertig machen kann, was er mit so sicherer, schöner Kraft begonnen hat.

Und ich ließ mir das letzte seiner vor zwanzig Jahren entstandenen und damals so lebhaft gepriesenen sibirischen Gemälde nach München schicken, es dort aufzustellen und zu verkaufen. Er lebte in der Hoffnung auf, daß es mir gelingen werde, und begann sogleich, ein richtiges Atelier zu suchen.

Es wäre besser gewesen, ihm diese Hoffnung nicht zu machen. Das Bild kam nach München, aber kein Kunsthändler wollte es auch nur sehen. Sie kannten es alle und priesen es sehr, ermahnten mich aber, es nicht erst auspacken zu lassen. „Das ›Heimatlied‹ von Schereschewsky. O ja: eine starke Leistung. Politische Verbannte in einem sibirischen Bergwerk. Einer spielt auf der Balalaika. Die andern, an ihre Karren geschmiedet, hören zu. Prachtvolle Typen. Viel Ausdruck in den Köpfen. Dabei sehr fein in der Beleuchtung des unterirdischen Milieus, durch gelbes Öllampenlicht. Aber, erstens: es war vor zwanzig Jahren schon in der Sezession zu sehen, ist also keine Novität, und Schereschewsky ist mittlerweile vergessen worden; ferner: der Geschmack hat sich verändert; Bilder, die etwas erzählen, gelten als unkünstlerisch; die Kundschaft will heute Impressionismus oder Stilsachen. Und schließlich: so riesige Bilder kann ja kein Mensch hängen.“ Einer wies überdies darauf hin, daß er russische Großfürsten zu Kunden habe, und denen könne er doch nicht zumuten, in seinen Räumen russischen Verbannten zu begegnen.

Ich sah ein, daß nichts zu machen war, und schickte das Bild zurück. Vielleicht wird es in Venedig für die Moderne Galerie angekauft, obwohl da schon ein großes Bild Schereschewskys hängt. Man liebt ihn dort persönlich und möchte ihm helfen. Auch ist man in dieser Stadt, wo man gewöhnt ist, Jahrhunderte alte Bilder noch schön zu finden, nicht so fürchterlich modern, um zu glauben, daß ein Bild, dem vor zwanzig Jahren ein Uhde und ein Menzel Worte der Bewunderung zollten, heute als altes Eisen zu bewerten sei, weil sich mittlerweile einige Dutzend von Umschwüngen in der Kunstanschauung vollzogen haben. („Alles veloziferisch,“ wie Goethe sagte.) Ich glaube, die Venezianer werden es nicht zu bereuen haben, wenn sie dieses Werk erwerben. Der Naturalismus ist gewiß überwunden, aber die starken Arbeiten aus seinem Geiste, zu denen das „Heimatlied“ gehört, werden länger vom Respekte echter Kunstfreunde gehegt und geschätzt werden, als die vielzuvielen Dokumente einer geschmackvolleren Generation, denen die ehrliche, leidenschaftliche Hingabe sowohl an malerische wie innerliche Probleme abgeht, durch die sich diese Arbeit auszeichnet.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Fiesole nach Pasing