Achter Abschnitt. - Verona - porta vecchia - heilige Zeno - Bemohnung - Bremshäuschen - Triumphpfiffe - Etschtal - Zahlungsbefehl - Peregrinus Syntax Reimlexikon - Trient - Bozen - Salurn - verwahrloste Nester.

Ich fuhr nach Verona, nahm dort bei porta vecchia eine Droschke und besuchte den heiligen Zeno, doch war es diesmal eine kurze Visite, denn ich mußte zum nächsten Zuge nach Bozen wieder am Bahnhofe sein. Es gelang. Aber es war ein schändlicher Zug: so voll von Menschen, daß es nur im Zustande der Bemohnung ein Vergnügen gewesen wäre, in einem seiner Käfige sich transportieren zu lassen. Ich ließ mein Gepäck in ein Coupé stopfen, bestach einen Schaffner und setzte mich in eines der Bremshäuschen, die eigentlich nur von Schaffnern benutzt werden dürfen. Diese erhabenen Sitze, die oberhalb des Waggondaches angebracht, aber verglast sind, gibt es, glaub ich, nur auf den Wagen der k. k. privilegierten Südbahn. Sehr komfortabel sind sie nicht; dafür haben sie den Vorzug einer unvergleichlichen unbehinderten Aussicht nach allen Seiten, auch nach vorn. Auch dichtet es sich dort vorzüglich. Ich schrieb in mein Notizbuch:

Venedig.
Das sind die Gassen der Vergessenheit.
Wohl: so vergiß! Dein Schatten an der Wand
Hat mehr Bedeutung, als dies „Meer von Leid“,
In dem dein Glück, ein Veilchenstrauß, verschwand.
Wer warf ihn weg? Du. Deine eigne Hand
Verwarf ihn. Stille! Jetzt ist er so weit
In Tiefen schon, daß ihn kein Lied erschreit:
Der dunkle Veilchenstrauß aus hellem Land.


Wohl möglich, daß daraus ein Sonnett geworden wäre, denn es kommt mir ganz so vor, als fehlte diesem Bukett das zusammenhaltende Band (ich kenne es – leider!) Aber plötzlich kam ein Gewitter hinter dem Zuge her. Es war wirklich, als ob es den k. k. privilegierten Südbahnzug persönlich verfolgte. Da Schnelligkeit die Sache dieser Eisenbahngesellschaft nicht ist, holte es ihn natürlich ein, und nun war es prachtvoll anzusehen, wie die schwarzen Wolkendärme über uns nach der dahin schießenden eisernen Schlange (Klapperschlange, versteht sich, denn auf keiner Bahn klappert's so, wie auf der k. k. privilegierten Südbahn) mit Blitzen zielten. War ich tapfer oder dumm, daß ich auch während dieses Donnerwetters in meinem exponierten Bremshäuschen sitzen blieb? Ich lasse die Frage offen. Da sie sich damals, als sie aktuell war, nicht bei mir eingestellt hat, verdient sie jetzt keine Antwort. Ich konnte aus dem einfachen Grunde nicht auf sie kommen, weil das Schauspiel, das ich genoß, zu schön war, als daß mich persönliche Fragen und Gefühle hätten beschäftigen können. Und so glaube ich denn, daß ich Gefahren immer sehr heldenmütig ins Auge schauen werde, wenn sie schön sind. (Kunststück! sagt Piefke.)

Als das Wetter merkte, daß es unsrer Klapperschlange nichts anhaben konnte, blieb es verdrossen in der „Berner Klause“ stehen, während die k. k. privilegierte Lokomotive mit einem langen Triumphpfiffe in das breite Etschtal einfuhr, auf dem auch nicht der kleinste Wolkenschatten lag.

Soll ich das Etschtal beschreiben? Es fällt mir nicht ein. Ich bin nicht mehr so unerfahren zu glauben, daß sich Landschaften beschreiben ließen. Man kann im besten Falle Eindrücke eindrucksvoll wiedergeben. Diese aber richten sich nach allem möglichen, das mit der Landschaft gar nichts zu tun hat. Z. B. nach der Verdauung des Betrachters, oder nach seiner Nachbarschaft, oder nach seinen jeweiligen Seelenzuständen: ob er gerade verliebt ist, oder just einen Zahlungsbefehl erhalten hat, oder ob er vielleicht einen Reim auf Mensch braucht und des Peregrinus Syntax Reimlexikon nicht bei sich hat. Dieser Fall traf bei mir zu. Ich schäme mich, es zu gestehn, denn ich könnte es nun nachgerade wissen, daß ein Dichter von einiger Ueberlegung es vermeidet, das Wort Mensch reimherausfordernd an das Ende einer Zeile zu setzen. Vermutlich war es der erhabene Sitz im Bremshäuschen, der mich so übermütig gemacht hatte, zu glauben, der von 30 000 deutschen Dichtern seit Jahrhunderten gesucht Reim werde mir zwischen Trient und Bozen in den Schoß fallen. Aber wie verzweifelt ich auch suchte, er stellte sich nur in greulichen Mißformen ein, und ich gab das Rennen kurz vor Salurn auf. Da dort eine Ballade von mir spielt, hege ich eine gewisse Zärtlichkeit für diesen Ort, besonders aber für seine alte Burg, in der Dietrich von Bern seine Hochzeit mit der schönen Kurtatscherin gefeiert haben soll. Wenn ich Geld hätte, würde ich sie mir ausbauen. Doch nein: sie liegt zu nahe an der Bahn. Eine richtige Burg: die Burg, die ich bewohnen möchte: meine Burg, muß so gut wie unerreichbar sein. Was beschwere ich mich denn? Sie ist es ja; denn sie liegt auf dem Monde. (Bei dieser Gelegenheit eine Anmerkung: Die Zeiten, wo man in Tirol ein altes Ritterschloß für 98 Gulden 25 Kreuzer kaufen konnte, sind vorüber. Richtige, alte, rechtschaffen verwahrloste Nester gibt es überhaupt kaum mehr. Die Romantik hat dem Komfort Platz gemacht. Allerdings gebärdet sich dieser meist stilvoll. So brennt das elektrische Licht gerne in tückisch imitierten gothischen Laternen; aber der Teufel hole diesen Schwindel; er paßt nach Sachsen, aber nicht nach Tirol.)

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Fiesole nach Pasing