Die Esten

Diese bewohnen das eigentliche Estland und den nördlichen Teil Livlands. Sie gehören dem Finnischen Stamm an, haben Ähnlichkeit mit den Lappen und wurden als älteste Einwohner von Germanen unterjocht. Im Allgemeinen muss man ihre Kultur, bei Armut und Genügsamkeit, eine geringe nennen. Ackerbau ist ihre Hauptbeschäftigung, seltener die Viehzucht; an den Küsten treiben sie auch Fischerei. In der ganzen Konstitution des Esten liegt Laxität und Gedrungensein bei blonden Haaren. Es fehlt ihnen die Elastizität der kräftigen Gesundheit und Zufriedenheit. Ihr Temperament ist phlegmatisch-träumerisch. Als Ausnahme findet man kräftigen Körperbau, dunkles Haar bei düster brütender Haltung. Sie sind träge und feige und durch ihre körperliche und geistige Passivität erkranken sie nicht so leicht und weniger an akuten als an chronischen Krankheiten.

Das Land ist flach, hat fruchtbaren Boden, jedoch auch viele Moräste und große Landseen, ungelichtete Wälder, daher das nordische Küstenklima, welches Estland hat, nur in seinen nachtheiligen Einflüssen dadurch unterstützt wird. Die herrschenden wesentlichen Krankheiten tragen den rheumatisch-katarrhalischen Charakter. Die Kleidung des Esten, welche Hals und Brust nur wenig schützt und von den Füssen weder Kälte noch Hasse abhält, ist nicht geeignet die klimatischen Einflüsse auszugleichen. Die Wohnungen sind sehr armselig, unrein und mit Öfen ohne Schornstein versehen, wodurch natürlich zu Erkrankung der Brust und der Augen Gelegenheit gegeben wird. Ihre Nahrung besteht großen Teils in grobem Roggenbrot, Grütze, Kartoffeln, Hülsenfrüchten, Milch und Fischen, denn Fleisch genießt man nur an Festtagen. Außerdem bietet das Land einen großen Reichtum an Beeren. Als gewöhnliches Getränk dient Wasser, Kalli oder Tare, ein säuerliches Getränk durch Gärung von Kleien oder Grütze gewonnen und saure Milch, die der Bauer, namentlich im Sommer, immer bei sich hat. Man schreibt der letzteren zu, dass selten biliöse Krankheiten auftreten. Der Branntwein ist ein beliebtes Reizmittel für Körper und Geist. Bei der blanden schweren Nahrung , die noch überdies in reichlichem Maße zu sich genommen wird, bei den lokal-klimatischen Einflüssen, bei den anstrengenden Arbeiten und der im Allgemeinen herrschenden gedrückten Gemütsstimmung kann man den massigen Branntweingenuss als ein notwendiges Stimulans für sie betrachten. Die blande grobe Nahrung entwickelt bei ihnen die Anlage zu Scropheln, Unterleibsstockungen, Wechselfieber etc.


Die Mädchen zeigen sich heiterer, da sie des Lebens Lasten weniger drücken. Die Frauen gebären im Durchschnitt leicht. Bei schweren Geburten sucht man wohl durch Zusammenschnüren des Unterleibes nachzuhelfen; oder man hält die Kreisende schwebend und schüttelt sie. Die Kinder bleiben lange an der Mutterbrust. Durch die Ernährungsweise, durch die unreine Luft der Wohnungen haben die Kinder den bleichen lymphatischen oder scrophulösen Habitus, vorzüglich ausgeprägt im Winter. Später, wenn die Kinder mehr in der freien Luft sich bewegen, gewinnen sie ein besseres gesunderes Aussehn.

Das Gesagte deutet hinlänglich an, dass die vorzüglichsten Krankheiten folgende sein müssen: katarrhalische und rheumatische Fieber, Typhus, Rheumatismus, Rosen, entzündliche Zustände der Brustorgane, akute Hautausschläge, die blaue Blatter, Ruhr, impetiginöse Ausschläge, Wurmkrankheit, Augenleiden, Ödem, Wasserbruch und scorbutische, scrophulöse und syphilitische Geschwüre.

Bei den Esten erkennt man aus dem Aberglauben die geistige Stufe , zu welcher ihr Anschauungs- und Erkenntnisvermögen gelangt ist. Bei ihnen sind alle Lebensverhältnisse und Bedingungen, selbst die alltäglichsten, von Wahn und Aberglauben durchwebt, wozu noch das Misstrauen und Abschüssen gegen Alles nicht aus dem eignen Stamme kommende in Anschlag zu bringen ist. Wir begegnen bei ihnen noch dem Glauben an „Lebensquellen“, welchen sie verjüngende und heilende Kräfte zuschreiben, daher man auch deren Wasser zum Baden siecher Kinder benutzt. Auch hat ein junges Mädchen beim Neulicht nur ihr Gesicht in solchen Quellen zu waschen, um von sich frühes Verwelken abzuhalten. Wieder andern gewöhnlichen Wasserquellen schreiben sie besondere Heilkräfte in Augenleiden zu, daher sie auch von ihnen „Augenquellen“ benannt werden. Ihre Zahl ist sehr groß. Bei der Benutzung wird irgendein Dankopfer zurückgelassen, wäre es auch nur ein Läppchen, einige Faden Garn etc. Auch begegnet man hier und da dem Glauben an „heilige Haine“. Als strenges Gebot für sich betrachten sie, aus denselben, nur zu Heilzwecken einen Zweig abzuschneiden. Solche und das Laub dient gegen Behexung, körperliche Beschwerden, Zahnschmerzen etc.

Gegen den Einfluss des „bösen Auges“, zumal bei Täuflingen, gebraucht man Asa foetida als Amulett, welchem an einigen Orten zur Verstärkung Quecksilber beigefügt wird. Überhaupt begegnet man bei allen wichtigen Lebensverhältnissen der Furcht vor dem „bösen Auge.“

Schlaf des Kindes bei der Taufe wird für eine Verkündigung seines baldigen Todes genommen. Auch folgert man aus ersterem bei der Taufe auf den zu erwartenden Charakter. Ein bei derselben schlafendes Kind wird phlegmatisch und friedliebend, ein schreiendes ein streitsüchtiger Mensch in späteren Jahren. An andern Orten deutet man das sich Benetzen des Säuglings während der Taufe auf seinen frühen Tod.

Der Mond spielt keine kleine Bolle im Wahnglauben des Esten; so sind nur im Neumond gefeierte Hochzeiten Glück verheißend etc.

Sonderbar ist, dass in der Hochzeitnacht weder die fleischliche Vermischung, noch auch sonst etwas darauf Hinzielendes stattfinden darf. In einigen Gegenden hütet man sich sogar, dass der Mann nicht den Busen berühre, weil sonst beim späteren Stillen Milchknoten, Entzündung und Abszesse der Mamma folgen sollen.

Sehr verbreitet ist der Wahn, dass für eine Niederkommende der Schoß des Ehemannes den besten Geburtsstuhl und die Badestube den besten Raum abgebe. Während der Schwangerschaft setzt man sich nicht auf einen Wassereimer, weil dann nur Töchter geboren, oder das Kind im Wasser zu Schaden kommen müsse. Ja selbst nur der Traum von einem solchen Sitze wird noch als Einfluss auf das Geschlecht ausübend angesehen. Man deutet einen Traum von einem Brunnen oder Quell dahin, dass ein Mädchen, den von einem Messer oder Beil, dass ein Knabe zu erwarten sei. Sieht die Wöchnerin im Traume einen verschütteten Brunnen, so deutet dies ihren Tod, ein verlorenes Messer den Tod eines Knaben an. An andern Orten hütet die Schwangere sich, dass sie beim Waschen oder beim Abspülen ein Kleidungsstück nicht kreisförmig drehe, weil dadurch Umschlingung der Nabelschnur folge. Beim Anschneiden eines Brotes glauben die Estinnen ihren Kindern einen kleinen wohlgeformten Mund dadurch zu verschaffen, wenn sie zunächst ein kleines Stück abschneiden. Holz wider den Ast in den Ofen gelegt, bringt Fußgeburt. In einigen Gegenden wechseln die Schwangeren wöchentlich ihre Schuhe, um den Teufel von ihrer Spur abzuleiten; derselbe soll ihnen nämlich auf Tritt und Schritt folgen. Als ein Mittel zur Erleichterung der Niederkunft gilt das Halten einer Schüssel auf dem Schoß und andere Personen daraus essen zu lassen. Man hütet sich , dass man nicht auf die Füße getreten werde, weil dann die Kinder nur zu verachteten Menschen heranwüchsen. Gleiche Knabenzwillinge deuten auf Krieg, gleiche Mädchenzwillinge auf Frieden. Empfängnis während der Menses bringt dem Kinde rote Augen. Sieht ein Mann Menstrualflecken auf der Wäsche, so folgt Entzündung des Auges. Das Ausschnauben der Nase in ein mit Menstrualblut beflecktes Hemd, jedoch mit geschlossenen Augen, beseitigt Schnupfen, doch fürchten die Frauen dadurch Fluor albus [Weißfluss] zu bekommen. Auch hält man solche Wäsche schützend gegen Teufel und böse Geister.

Als Mittel zur Erleichterung der Geburtsschmerzen betrachtet man das in Mitleidenschaftziehen des Mannes. Um dieses zu bewirken, gibt man ihm am Hochzeitabend viel Bier mit Ledum palustre [Sumpfporst, Wilder Rosmarin] versetzt, um tiefen Schlaf zu bewirken; während dessen kriecht die Frau, ohne dass der Mann etwas davon merkt, weil dann der Zauber schwindet, durch die Beine des Mannes. Auch wurde früher zu gleichem Zwecke ein abgeschlachtetes, noch zappelndes Huhn an die Pudenda [weibliche Scham, Schamgegend] gehalten. Um die Nachwehen zu mäßigen gibt man einige beim Unterbinden der Nabelschnur aufgefangene Blutstropfen.

Ein eigentümliches Verfahren (Schnalzverfahren) wird bei Kindern von den Esten sowohl beim ersten und folgenden Bade, als auch vielen andern Gelegenheiten vorgenommen. Die Hebamme fasst nämlich das Kind kunstgerecht an Nase, Kinn, Fußzehen, Fingern und Augenbrauen und bringt dabei durch Zusammenpressen ihrer Lippen einen eigentümlich zischenden schnalzenden Laut hervor. Man glaubt dadurch Wachstum und Gedeihen gesunder Kinder zu fördern, kranken soll es als Heilmittel dienen, z. B. gegen Folgen des „bösen Auges“. Neugeborene Knaben legt man zuvor an die Brust eines starken Mannes, namentlich kräftigen Großvaters, weil sie so zu riesiger Stärke erwachsen sollen. Ein höchst unsinniges schädliches Verfahren ist, dass man die Kinder beim Baden an den Füssen fasst und sie hin und her schüttelt, um allen Verstand in den Kopf fallen zu lassen. Dabei geschieht dieses in heißer Badestube und mit gleichzeitigem Peitschen des Hintern mittelst Birkenreisig.

Der Este glaubt an gute und böse Winde; die ersteren sind freundliche Gottesgaben, heilsam, belebend und stärkend, die letztem dagegen von Hexenmeistern künstlich herbeigerufen, um Unglück, Verderben und Krankheit zu schaffen. Ist ein Kranker im Stande das Freie zu betreten, so geschieht dies, um die Krankheit vom guten Winde wegwehen zu lassen; ein Verletzter hält zur Linderung den kranken Teil in den Wind. Des Windes Mutter schenkte nämlich den Menschen einen „Handwind“, damit er bei vorkommenden Fällen diesen jeder Zeit in Bereitschaft habe. Um den Wind herbeizulocken hauen sie ein Beil in die Wand etc. Die bösen Winde, welche der Beschwörer zur besseren Lenkung begleiten soll, fürchten sie besonders im Frühjahr an Kreuztagen, deren die Esten drei zählen. Da nun um diese Zeit scharfe Nord- und Nordostwind herrschen mit dem Gefolge von katarrhalischen rheumatischen Krankheitszuständen, so fällt dieses dann dem durch Zauber herbeigeführten bösen Wind zur Last. Der Drachenschuss, „des Fliegers Schlag“, soll gesunde Menschen und Tiere, letztere am häufigsten, mit einer unsichtbaren Kugel durchbohren und man versichert ohne Anstand zu nehmen, man habe den verursachten Schusskanal selbst gesehen. Hört man zum ersten Male den Donner, so schlägt man sich 3 Mal mit einem Steine an den Kopf, um für das Jahr dadurch jedes Kopfweh fern zu halten. Auch gräbt man die Pfeile des Donners aus der Erde, die weiter nichts als vormalige Steinwaffen sind, und benutzt sie gegen verschiedene Krankheiten. Warmer Frühlingsregen soll das Wachstum der Kinder fördern und überdies Heilkräfte in sich haben.

Wird der Este von Zona [Gürtelrose] befallen, so ist daran schuld, dass man über seinen Gürtel weggetreten ist. Schlimmer wenn dieses ein weiblicher Fuß getan hat.

Schwindel und Kopfweh entsteht nach böswilligem Berühren mit einer Spindel oder einer Radspeiche. Das Schlagen einer Schwangeren mit einer Spindel bringt dem Kinde schielende Augen, oder bei letzteren glauben die Mütter eine Schlange getötet, oder doch ihrer Tötung zugesehen zu haben.

Das Salz dient ihnen als Heil- und Unheilmittel, je nachdem es gebraucht wird. Zuvor besprochen dient es äußerlich und innerlich zu Heilzwecken.

Eine bedeutende Rolle spielt ferner der Schwefel bei Beschwörungen gegen Hexerei. Veronica offcinalis [Echter Ehrenpreis, Heilpflanze], am Johannistag gesammelt, dient gegen böse Geister und viele Krankheiten.

Ist ein Hexenmeister (Puster) zu einem Fieberkranken gerufen, so untersucht er zunächst, ob die Krankheit gefährlich ist; er gießt deshalb Wasser in ein Gefäß: läuft es links um, so ist dies ein böses Omen, daher das Verfahren so lange wiederholt wird, bis es rechts umläuft. Darauf wirft er 9 glühende Kohlen hinein: schwimmen diese alle oben auf, so hat es keine Gefahr; je mehr untersinken, um so anhaltender oder gefährlicher ist die Krankheit.

Bei geringen Erkältungskrankheiten muss der Kranke, um zu genesen , unter drei Zaunstützen durchkriechen.

Spielt das Neugeborene mit der Zunge, so hat es den Schlangenfehler, muss also mit Schlangenhaut geräuchert werden. Schnappt es mit dem Munde, so hat es den Wolfsfehler, wo Räucherung mit Wolfshaar hilft. Will das Kind nicht gedeihen, so leidet es am Hundefehler, muss daher mit Hundehaar geräuchert werden, oder man rollt es da, wo sich ein Hund gewälzt hat, aber in umgekehrter Körperlage; oder man wiegt es von Zeit zu Zeit mit einer Handwaage. Sind die Stuhlausleerungen grün, so muss man die Windeln von der Morgensonne bescheinen lassen.

Die Warzen werden, um sie zu vertreiben, wohl mit der Hand eines Toten bestrichen.

Die verschiedenen bei den Esten von alten Weibern etc. gebrauchten Heilmittel werden geheim gehalten, dass also die große Masse sie nicht kennt. Auch haben die verschiedenen Afterärzte [Quacksalber] für die einzelnen Mittel nicht immer ein und dieselbe Benennung. Viele der in der zweiten Abteilung aufgezählten einzelnen Mittel stammen wohl von den Deutschen, namentlich aber diejenigen, welche der Este sich aus der Apotheke verschafft.

Den Volksmitteln wird der volle Glauben an ihre Wirksamkeit geschenkt. Nur als Ausnahme wird der Este die Hilfe eines Arztes suchen, er wendet sich lieber an den Tark, Klugen, unter seines Gleichen. Dieser behandelt nun den Kranken mit allerlei Medikamenten und Besprechungen. Stirbt der Kranke, so sind die bösen Geister schuld. Außerdem sprechen sie wohl auch die Hilfe ihres Pastors und der Gutsherrschaft an, und von deren Stellung als Mensch zum Menschen ist natürlich auch das Maß ihres Vertrauens und des wohltätigen Einflusses auf den physisch sittlichen Zustand des Bauern bemessen.