Die Erkenntnis

V. A. Wenn wir den letztzitierten Worten Goethes zustimmen, die den nackten Empirismus, d. h. den Versuch, in den Naturwissenschaften ohne leitende Grundsätze, ohne befruchtende Idee weiterzukommen, als etwas dem menschlichen Geist völlig: Fremdes, ja Unmögliches hinstellen, so müssen wir dem Materialismus insofern alle Anerkennung zollen, als er wohl das erste groß angelegte und konsequent durchgeführte System für die Forschung bedeutet. Und das gilt für die Lehre Demokrits sowohl als auch, und zwar in noch viel höherem Grade, von den Materialisten des 18. Jahrhunderts. Es sei nur an die Enzyklopädisten und insbesondere an Holbach erinnert, welcher in seinem „Système de la nature ou des lois du monde physique et du monde moral“ zum ersten Male eine höchst geistvolle, in sich geschlossene Darstellung aller unserer Kenntnisse von dem Standpunkte des Materialismus gegeben hat. Dieses Buch, welches die Bibel des Materialismus genannt worden ist, betrachtet den ganzen Menschen, eingeschlossen seine geistigen Funktionen, als ein Erzeugnis der Materie und lässt einen Unterschied zwischen seiner physischen und intellektuellen Lebenstätigkeit nicht bestehen. Nachdem überhaupt nichts vorhanden ist als Materie und ihre Bewegung, so sind auch Denken und Fühlen als eine Bewegungsform der kleinsten stofflichen Teilchen anzusehen. So großer Verbreitung sich diese Idee seinerzeit auch erfreute und so sehr wenigstens in den Kreisen der Naturforscher lange Zeit hindurch ihre einwandfreie Durchführung als das Ziel aller Bestrebungen angesehen wurde, so empfinden wir heute nur zu deutlich, dass es sich um eine ganz unzulässige Verallgemeinerung handelt. In Deutschland hat der Gedanke unter dem Einfluss einer Reihe von zum Teil sehr verdienten Männern, wie Büchner, Moleschott, Häckel, Vogt u. a., wahre Triumphe gefeiert. Des letztgenannten Ausspruch, dass der Gedanke etwa in demselben Verhältnis zum Gehirn steht wie die Galle zur Leber oder der Harn zu den Nieren, ist seither berühmt und berüchtigt geworden und ist für die geschilderte Denkweise durchaus typisch.

Natürlich hat es an Gegnern des Materialismus niemals gefehlt; aber gerade so wie aller Aberglaube des Mittelalters nicht von denjenigen überwunden wurde, die ihm Opposition machten, sondern merkwürdigerweise die Astronomie aus der Astrologie selbst und ebenso die heutige Chemie aus der Alchemie hervorgewachsen ist, so sehen wir auch in den letzten Jahren den Materialismus in sich selbst zusammenstürzen, es sind seine Vertreter, die ihn zu Grabe tragen. Das größte Aufsehen erregten in dieser Hinsicht zwei Reden „Über die Grenzen des Naturerkennens“ und „Die sieben Welträtsel“ von du Bois-Reymond, in welchen der Verfasser, zwar noch ganz auf dem Boden des Materialismus stehend, zu dem Resultat gelangt, dass wir trotz aller Fortschritte in den Naturwissenschaften nie dazu kommen werden, einerseits die Materie, die Atome, und anderseits aus den Atomen und ihrer Bewegung auch nur die geringste Erscheinung des Bewusstseins zu begreifen. Wie wir auch immer unsere Begriffe Materie und Kraft fassen mögen, immer stößt man bei dem Versuche, sich mit ihrer alleinigen Hilfe ein Weltbild zu schaffen, auf ein letztes Unbegreifliches, ja sogar auf Widersprüche und Ungereimtheiten. Sehen wir von einer näheren Besprechung der Anschauungen du Bois-Reymonds ab, die wie gesagt noch vollständig und eingestandenermaßen auf dem Materialismus fußen, und übergehen wir eine Reihe von weiteren Äußerungen besonnener Männer der Wissenschaft, die sich in ähnlichem Sinne wie der genannte aussprechen, so sehen wir eine tiefgreifende Wandlung, die mit einem Aufgeben des Materialismus als Maxime der Naturforschung wie als philosophisches System identisch ist, erst in unseren Tagen sich vollziehen.


Wenn wir diesen Bestrebungen näher treten wollen, so lohnt es sich, zunächst unseren Blick ganz kurz über das gesamte geistige Leben schweifen zu lassen; dann sehen wir, dass sich überall große Umwälzungen vollziehen; ein Ringen und Kämpfen, ein Hin- und Herwogen der verschiedensten Strömungen. Während auf politischem Gebiet alles nach einer Umgestaltung in sozialem Geist drängt, sehen wir in der Kunst eine ausgesprochen individualistische Richtung zutage treten. Aber wohin wir uns auch wenden mögen, tritt uns das Verlangen nach Vertiefung, nach Klarstellung der Rolle, die der Mensch in der ihn umgebenden Welt spielt, ein Streben nach richtigerer Bewertung seiner geistigen Kräfte und des Gebrauchs, den er von ihnen machen soll, entgegen. Auch in den Naturwissenschaften spielt sich ein derartiger Reinigungsprozess ab, eine Häutung geht vor sich, die nicht nur in einem sehr ernsten Zurückgehen auf die Grundlagen und in einem Abstreifen aller unzulänglichen und unzweckmäßigen Vorstellungen besteht, sondern auch darauf hinaus läuft, das Verhältnis der Naturwissenschaften zu den anderen Gebieten geistiger Betätigung festzustellen, ihre Bedeutung für das menschliche Leben abzustecken und ihnen damit eine neue Richtung zu geben. Es sind das gewiss sehr große und schwierige Aufgaben, die sich natürlich nicht ohne große Kämpfe lösen lassen und die zu einer schärferen Betonung der verschiedenen Standpunkte führen. Auf der einen Seite sehen wir namentlich bei den rückständigen Klassen eine jedenfalls ganz ungerechtfertigte Überschätzung der Naturwissenschaften: „Der Glaube an geheime Zaubermächte in der Natur ist allmählich geschwunden; dafür hat sich aber ein neuer Glaube verbreitet, jener an die Zaubergewalt der Wissenschaft. Wirft doch diese und nicht wie eine launische Fee nur dem Begünstigten, sondern der ganzen Menschheit Schätze in den Schoß, wie sie kein Märchen erträumen konnte. Kein Wunder also, wenn fernerstehende Verehrer ihr zutrauen, dass sie imstande sei, unergründliche, unseren Sinnen unzugängliche Tiefen der Natur zu erschließen. Sie aber, die zur Erhellung in die Welt gekommen, kann jedes mystische Dunkel, jeden prunkvollen Schein, dessen sie zur Rechtfertigung ihrer Ziele und zum Schmucke ihrer offen daliegenden Leistungen nicht bedarf, ruhig von sich weisen“ (Mach). Auf der andern Seite hagelt es Angriffe, die von den verschiedensten Bekennern (Nietzsche, Tolstoi, Ruskin, etc. etc.) erhoben werden und die ganz wie ein Rückschlag eben jener Überschätzung klingen und bittere Enttäuschung über nicht eingehaltene Versprechungen zum Ausdruck bringen. Es ist natürlich, dass in der einen und andern Richtung über das Ziel hinaus geschossen wird und was die geringe Bedeutung anbetrifft, die man in einem Lager den Naturwissenschaften zuzuerkennen gewillt ist, so lässt sich eine derartige Meinung wohl kaum rechtfertigen; denn eines kann man wohl mit Sicherheit behaupten, dass sie sicherlich eine maßgebende Rolle spielen und spielen werden bei der Beantwortung der Frage, wie wir unser Leben einzurichten haben.

Es ist ohne Zweifel, dass dieser Zustand nicht zufällig mit dem Versagen des Materialismus zeitlich zusammentrifft, sondern mit demselben organisch auf das innigste verknüpft ist.

So sehen wir, dass die Naturwissenschaften heute nicht allein zum Teil gerechtfertigten Angriffen von allen Seiten ausgesetzt sind, sondern auch im Innern eine Krisis durchmachen, die in einer Beziehung als nicht ungefährlich bezeichnet werden kann. Es ist natürlich, dass in einer solchen Periode die finsteren Mächte mit einem Einfall in unser Gebiet drohen; warum sollten, nachdem das Hauptforschungsprinzip der Naturwissenschaften, der Materialismus, sich als unzulänglich erwiesen hat, nicht Mystik, Spekulation und Theologie, die ihre Zurückdrängung noch immer nicht verwunden haben, wieder auf dem scheinbar verlassenen Gebiet auftauchen und mit großem Selbstbewusstsein dasjenige zu ergründen und zu lehren versuchen, was die Naturforschung nicht weiß. Und tatsächlich sehen wir, dass der Kampf gegen letztere zum Teil sogar eingestandenermaßen ein Kampf gegen den Intellektualismus ist, d. h. gegen das Bestreben, die uns umgebende Welt klar und bewusst zu verstehen.

Wollen wir den gegenwärtigen Übergangszustand in den Naturwissenschaften würdigen und die Rolle, die in ihnen der Materialismus spielt, gründlich erfassen, so ist es notwendig, etwas weiter auszuholen und tiefer in das Wesen unserer Erkenntnis einzudringen. Es sei zunächst, wie schon wiederholt betont, nochmals hervorgehoben, dass all unser Wissen nur ein Ergebnis der Erfahrung ist, dass wir in allen Stücken in letzter Linie auf sie angewiesen sind. Man hat früher diesen Umstand verkannt und der Meinung Ausdruck gegeben, dass der Mensch angeborene Ideen, Erkenntnisse, Begriffe etc. besitze und hat insbesondere angenommen, dass ihm gewisse geometrische Vorstellungen vor aller Erfahrung eigen sind. Selbst Kant vermochte sich, obwohl ein Gegner der angeborenen Ideen, von dieser Ansicht insofern nicht ganz frei zu machen, als er z. B. Zeit, Baum und Kausalität als die dem menschlichen Geist eigentümlichen Anschauungsformen ansah, d. h. annahm, dass diesem sich vermöge seiner besonderen Beschaffenheit alles zeitlich, räumlich und kausal bedingt darstelle. Man ist von dieser Meinung vollständig abgekommen und sieht die genannten Begriffe beziehungsweise Vorstellungen mit vollem Recht als durch Erfahrung erworben an und das gleiche gilt auch sonst für die abstraktesten Begriffe, wie Gesetzmäßigkeit, Zahl, Größe etc.; sie alle werden als empirischen Ursprunges gedeutet.

Wenn nun auch die außerordentlich umfassende Wichtigkeit der Erfahrung heute wohl kaum mehr ernstlich bestritten wird, so ist es doch im einzelnen oft schwer, sich von gewohnheitsmäßigen Täuschungen frei zu halten. Man hört überaus häufig, dass diese oder jene Naturerscheinung logisch notwendig aus einer andern folge oder dass ein Naturgesetz etwas Selbstverständliches sei, so das Gesetz der Trägheit, das Gesetz von der Erhaltung der Materie usw. Aber man erkennt bei aufmerksamer Beobachtung sehr bald, dass beispielsweise letzteres Gesetz auch heute noch und sogar von Gebildeten unzähligemal verletzt wird und die Geschichte lehrt, dass es Jahrhunderte hindurch völlig unbekannt war, was ja offenbar nicht möglich wäre, wenn wir es mit einem Postulat der Vernunft zu tun hätten. Ähnlich der Grundirrtum der Identitätsphilosophie, dass alles Vernünftige wirklich und alles Wirkliche vernünftig sei. Es ist in allen Fällen eine Täuschung durch Gewohnheit, welche uns durch Erfahrung erworbene Kenntnisse als etwas Selbstverständliches, logisch Notwendiges erscheinen lässt.

Haben wir bis jetzt den Begriff der Erfahrung als etwas Gegebenes genommen, so wird es sieh lohnen, ihn jetzt einer kurzen Kritik zu unterziehen. Wie beobachten wir, wie gelangen wir zu unseren Erfahrungen? Offenbar nur auf dem Wege durch Vermittlung unserer Sinne; diese werden jeder in seiner Art durch die Außenwelt beeinflusst und Sinnesempfindungen sind die ausschließliche Quelle unserer Erfahrung, die Steine, aus denen wir unser Weltbild aufbauen. Folgen wir nun dem gewöhnlichen Sprachgebrauch und der üblichen Vorstellungsart, so sind es die Eigenschaften der Dinge, die Vorgänge in der Natur, die unsere Sinne beeinflussen und in ihnen die für jeden charakteristischen Empfindungen hervorrufen: Farben-, Ton-, Tast-, Geruchs- und Lichtempfindungen. Doch wenn wir auf die dieser Ausdrucksweise zugrunde liegende Auffassung näher eingehen, so finden wir, dass sie durchaus nicht etwas Ursprüngliches, Einfaches, durch die Verhältnisse Gegebenes ist, sondern sich als das Resultat eines sehr komplizierten Prozesses entpuppt. Sie beruht zunächst auf der Vorstellung, dass jedes Ding in der Natur außer seinen Eigenschaften, die uns durch die Sinne vermittelt werden, noch aus einem Etwas bestehe, einem Träger dieser Eigenschaften, der viel solider, viel reeller ist als diese, der Materie. Man gelangt so zu der namentlich in der Blütezeit der materialistischen Weltanschauung beliebten Gegenüberstellung von der Materie und ihren Eigenschaften beziehungsweise, wenn wir letztere als etwas Wirkendes mit den Kräften identifizieren von Kraft und Stoff. Es ist auf diese Weise ganz willkürlich ein Gegensatz geschaffen worden, der sich nach allen Richtungen fortgepflanzt hat und in fernerliegenden Gebieten mit den Schlagworten Natur und Geist, Denken und Sein etc. zum Ausdruck gebracht wird. Der Materialismus hat sich vergebens bemüht, diesen Dualismus, der in seiner Betrachtungsart begründet ist, dadurch zu überbrücken, dass er alles auf bewegte Materie zurückzuführen bestrebt ist. Sehen wir genau zu, so sind es nur Sinnesempfindungen, die uns mit der Außenwelt verbinden, und sinnliche Eindrücke, welche uns Aufschluss über dieselbe geben. Alles, was wir von den Körpern der Außenwelt wissen, ist uns nur durch Zusammenhänge zwischen unseren Sinnen und diesen vermittelt, d. h. alles, was wir von ihnen überhaupt aussagen können, sind eben ihre Eigenschaften und bei einem Versuch den Rest zu fassen, sehen wir, dass es ein nichts ist, ein Phantom, ein leeres Gedankending. Sieht man also fürs gewöhnliche die Eigenschaften eines Dinges als etwas Flüchtiges, demselben nicht Wesentliches, den Träger derselben aber als das allein wirklich Reale an, so erweist sich diese Auffassung bei näherer Betrachtung als durchaus verkehrt, gerade erstere sind das Reale, dasjenige, womit wir rechnen, das wir studieren und kennen lernen wollen, während die Materie bei dem Versuch sie zu denken in ein nichts zerrinnt. Wir betrachten etwa einen Diamanten; seine Größe beurteilen wir durch Gesicht und Getast; desgleichen seine Form; durch den erstgenannten Sinn sind wir in die Lage versetzt, über seine Farbe, seinen Glanz Aussagen zu machen, durch letzteren erfahren wir etwas über seine Härte; aber auch alle übrigen physikalischen und chemischen Eigenschaften sind uns durch sinnliche Erfahrung zugänglich und fassen wir diese Eigenschaften zusammen, so kommen wir eben zu dem Begriff des Diamanten oder des speziell betrachteten Diamanten. Sie sehen, wir haben damit in naturwissenschaftlichem Sinne auch alles mögliche getan, wir haben die Aufgabe gelöst, den Diamanten kennen zu lernen, wenn wir alle seine Eigenschaften und ihre Beziehungen zueinander aufsuchen und von einem Träger dieser Eigenschaften zu sprechen ist wohl in erster Linie sinnlos, aber auch ganz überflüssig; denn was außer der sinnlichen Erfahrung übrig bliebe, wäre uns ja ohnedies unzugänglich, wir könnten keinerlei Aussage darüber machen.

Wenn nun der Begriff der Materie trotz seiner Unzulänglichkeit so tief eingewurzelt ist, dass wir ihm immer wieder begegnen und es uns schwer fällt, unsere Ausdrucksweise so zu meistern, dass er sich nicht unbemerkt einschleicht, so wird es sich wohl lohnen, auf die ihn hervorbringenden Vorstellungen näher einzugehen.

Fragen wir uns, was man unter Materie, also unter demjenigen versteht und verstanden hat, was die Grundlage aller Dinge bilden soll, so finden wir, dass dieser Begriff — wie übrigens natürlich — seine Geschichte hat. Es sei nur soviel erwähnt, dass man damit das schlechtweg Stoffliche, Raumerfüllende, Ausgedehnte, Tastbare bezeichnete, dass aber mit fortschreitender Erkenntnis diesem Begriffe immer mehr Eigenschaften genommen werden mußten. Denn die genannten, die bei festen Körpern etwas Bestimmtes bedeuten, sind bei einem Gase nur unter Einschränkungen aufrecht zu erhalten — und doch müssen wir einem Gase der üblichen Vorstellung folgend auch Materie zuschreiben. Man ist auf diese Weise schließlich zu etwas vollständig Eigenschaftslosem gekommen. Nun diese Änderung lässt uns erkennen, aus welcher Wurzel der Begriff der Materie entsprungen ist.

Wir müssen auch hier etwas weiter ausgreifen. Wenn alle Erfahrung aus dem Material aufgebaut ist, welches uns unsere Sinne liefern, so folgt daraus, dass alle Erfahrung von Natur aus mit mannigfachen Mängeln behaftet ist. Wir können das deutlicher vielleicht so aussprechen: Alles, was ich von der Außenwelt weiß, ist mir nur durch meine Sinne gegeben, aber meine Sinne sind etwas sehr wenig Verlässliches. Man erkennt sehr bald, dass dieselben mannigfachen Täuschungen unterworfen sind, d. h. unter gleichen Umständen scheinbar verschieden reagieren; Form und Größe der Objekte der Außenwelt erscheinen verschieden je nach Beleuchtung, Tageszeit, Stimmung des Beobachters, je nachdem, was man vorher gesehen und getan hat; Wegstrecken erscheinen bald lang, bald kurz, je nach dem Ermüdungszustand des Gehenden, je nachdem er Eile hat oder nicht usw.; die Farben der Außenwelt scheinen Schwankungen unterworfen zu sein; kurz, die Sinnesempfindungen bieten uns für die Beurteilung der Außenwelt nicht immer genug verlässliche Anhaltspunkte; wir dürfen uns dadurch nicht etwa zu der Anschauung hinreißen lassen, als ob die Sinne unregelmäßig reagieren, d. h. als ob sie nicht auch einer strengen Gesetzmäßigkeit unterworfen wären. Ihre Unzulänglichkeit ist vielmehr darauf zurückzuführen, dass sie immer von unzähligen Ursachen beeinflusst werden, während es für unsere Zwecke wünschenswert ist, dass sie lediglich auf eine bestimmte Ursache, die wir eben kennen lernen wollen, ansprechen, z. B. nur auf die Länge des Weges, unabhängig von dem jeweiligen Zustand des Gehenden. Aber auch in anderer Hinsicht lassen sie uns zu wünschen übrig, nämlich dadurch, dass sie, wenn ich mich so ausdrücken darf, ziemlich grobe Messwerkzeuge darstellen, welche kleine Unterschiede in den zu messenden Größen nur schwer angeben; das ist natürlich von Mensch zu Mensch verschieden, je nach Anlage und Übung. Namentlich letztere spielt in dieser Hinsicht, wie bekannt, eine ganz ungeheuere Rolle. Und noch in einer dritten Beziehung klagen wir über die Unzulänglichkeit unserer sinnlichen Wahrnehmungen, insofern nämlich, als jeder unserer Sinne nur auf ein bestimmtes Intervall äußerer Wirkungen anspricht. Eine genaue Einsicht lehrt uns, dass es außer den sichtbaren Strahlen des Spektrums auch nicht sichtbare (die ultraroten und ultravioletten) gibt, von deren Existenz wir nur durch ihre Wärmewirkung Kenntnis erhalten. Ebenso wissen wir, dass unser Ohr nur auf gewisse Töne anspricht und solche von sehr großer und sehr kleiner Schwingungszahl überhaupt nicht hört. Dass wir in den beiden Fällen noch von Strahlen und Tönen sprechen, ist natürlich durchaus nicht in dem Sinn zu verstehen, dass wir von ihnen etwa durch eine außersinnliche Erkenntnis Nachricht erhalten, sondern erscheint als eine abgekürzte Ausdrucks weise gerechtfertigt, die auch solche Wirkungen als Strahlen und Töne bezeichnet, welche mit den sieht- und hörbaren gewisse, äußerlich wahrnehmbare Momente gemeinsam haben. Wir können uns also ganz gut andere Lebewesen denken, mit anders gebauten und anders funktionierenden Sinnen, welchen sich die Außenwelt infolgedessen ganz anders darstellen würde; das ist auch schon der Fall bei jenen Unglücklichen unserer Gattung, welche des Augenlichtes, des Gehörs etc. entraten müssen und in beschränkterem Maße bei den sogenannten Farbenblinden, z. B. den Rotblinden, in deren Farbensystem das Rote fehlt und alle Unterschiede, die zwischen verschiedenen Farben durch die Einmischung des Rots hervorgebracht werden, verschwinden. Alle Farbenunterschiede sind für sie diejenigen von Blau und Grün, so zwar, dass für sie Rot, Orangegelb und Grün gleich sind und dunkles Scharlachrot ihnen wie schwarz erscheint. Andererseits glaubt ein Forscher (Forel) annehmen zu sollen, dass die Ameisen mehr Farben sehen wie wir und es lässt sich ohne weiteres denken, dass wir z. B. für Elektrizität mit einem Sinne ausgestattet sein könnten wie mit Augen für Licht und Ohren für Töne. Dann würde unser Bild von der Welt ein viel reicheres und mannigfaltigeres sein, indem wir die uns allenthalben umgebenden elektrischen Spannungsdifferenzen, welche die verschiedensten Beträge von den kleinsten bis zu ungeheuer großen annehmen können, direkt wahrzunehmen in der Lage wären, anstatt sie in umständlicher Weise durch Messinstrumente ermitteln zu müssen. Ein Gewitter würde dann unserem elektrischen Sinn wohl einen ähnlichen Genuss bereiten, wie die Farbenpracht einer italienischen Landschaft unserem Auge oder eine Beethovensche Symphonie unserem Gehör. In der Unvollkommenheit unserer Sinne ist auch das Erstaunen begründet, womit uns gewisse Entdeckungen und Erfindungen erfüllen, wie etwa die drahtlose Telegraphie. Kathoden-, Uranstrahlen etc.

Die geschilderten und ohnehin bekannten Verhältnisse haben zu den mannigfachsten Verirrungen und Missverständnissen Veranlassung gegeben. Gelegentlich früherer Betrachtungen haben wir ja bereits die eigentümlichen, weltentfremdenden Spekulationen der Eleken kennen gelernt. Die einseitigen Folgerungen, die man also aus der Unvollkommenheit unserer Sinne gezogen hat, sind schon uralt; wir finden sie nicht nur bei den Griechen, sondern auch in der indischen Philosophie, welche lehrt, dass die ganze Außenwelt nur auf einer uns durch unsere geistige Beschaffenheit eingeborenen Illusion (mâyâ) beruht und dass es in Wahrheit nur ein einziges, alldurchdringendes Wesen gibt, welches in allen Teilen der Natur zur Erscheinung gelangt. Und auf diesem Boden stehen mehr oder weniger alle philosophischen Systeme, die den Standpunkt des Idealismus vertreten. Allerdings geht nur der sogenannte erkenntnistheoretische Idealismus so weit zu behaupten, dass die Außenwelt leerer Schein sei, dass es keine materielle Welt gebe und unsere Vorstellungen davon nichts als Vorspiegelungen seinen (Berkeley). Aber auch der Idealismus Kants und seiner Schüler führt in der Wissenschaft zu keinem brauchbaren Resultat. Er lehrt, dass die Dinge der Außenwelt nicht nur in unseren Vorstellungen von ihnen bestehen, dass sie zwar wirklich existieren, dass wir sie aber nicht zu erkennen vermögen. Alles, was wir erfahren, sind die Erscheinungen der Dinge, d. h. die Vorstellungen, die sie in uns hervorrufen, indem sie unsere Sinne affizieren; was sie an sich selbst sind, wissen wir nicht, die „Dinge an sich“ sind etwas unserer Erfahrung gänzlich Unzugängliches.

Die eben angeführte Anschauung Kants stellt im Grunde genommen einen Vermittlungsvorschlag dar zwischen dem extremen Idealismus, der die Welt als bloßen Schein, als einen Traum erklärt, und der gegenteiligen Ansicht, dem Realismus, welcher eine von uns ganz unabhängige, wirklich existierende Außenwelt annimmt. Wenn wir den Ausführungen Ernst Machs, des hochverdienten Forschers folgen, dem wir in dieser Angelegenheit so unendlich viel verdanken, so wird sich uns ergeben, dass die Frage in dieser Form, ob es eine reale Außenwelt gibt oder nicht, überhaupt keinen Sinn hat, also nicht weiter diskutiert zu werden braucht. In ähnlicher Weise äußert sich einmal Helmholtz, dass der Idealismus zwar nicht widerlegbar sei, dass sich aber der Realismus als eine ausgezeichnet brauchbare und präzise Hypothese erweise. In der Tat hat sich die letztgenannte Weltanschauung trotz aller Anfechtungen immer erhalten und hat stets die Grundlage der Naturwissenschaften sowohl wie der Führung des alltäglichen Lebens gebildet. Und das mit vollem Recht; denn der Zweck aller wissenschaftlichen Bestrebungen ist es ja, möglichst günstige Bedingungen für unser Leben zu schaffen und dieses Ziel in möglichst ökonomischer Weise, d. h. mit dem geringsten Aufwand von Mitteln zu erreichen. Und dieser Forderung genügt der Realismus in vollstem Maße. So sehen wir, dass diese Anschauung wegen ihrer Zweckmäßigkeit und Natürlichkeit nicht nur dem gewöhnlichen Menschen, sondern auch dem durchaus Gebildeten trotz aller Gegenargumente von Seiten der idealen Philosophie eigen ist; sie ist so tief eingewurzelt, dass sich wohl niemand von ihr auf die Dauer befreien kann. Sie bildet auch die Grundlage des Materialismus, welcher ihr den Hauptteil seines Erfolges verdankt.

Der Streit über die beiden genannten Anschauungen ist so überaus belehrend, dass es sich wohl lohnt, auf denselben näher einzugehen. Man hat für den Realismus das Argument ins Feld geführt, dass die uns durch Erfahrung gegebene allgemeine Gesetzmäßigkeit in der Natur nur mit der Annahme einer von uns durchaus unabhängigen, wirklich existierenden Körperwelt verträglich sei. Diese Behauptung ist an einem trivialen Beispiel verdeutlicht, folgendermaßen zu verstehen. Wenn ich mein Haus verlasse und auf demselben Wege zurückkehre, so finde ich es wieder, es muss also auch während meiner Abwesenheit, d. h. unabhängig von mir bestanden haben und die Summe von Sinnesempfindungen, die ich mein Haus nenne, war also nicht bloßer Schein, sondern Wirklichkeit. Wenn ich meine Uhr aufziehe, so bewegen sich die Räder, Zeiger etc., das kann ich direkt beobachten, aber auch wenn ich von dieser Beobachtung absehe, bemerke ich nach einiger Zeit, dass die Zeiger nicht mehr an derselben Stelle sich befinden, die Uhr muss also auch während meiner Abwesenheit wirklich, objektiv gegangen sein, ihr Gehen war nicht bloßer Schein. Doch wie bereits erwähnt, hat der Streit von diesem Ausgangspunkte gar keinen Sinn, er erweist sich als eine müßige Gedankenspielerei, wie ja schon daraus hervorgeht, dass der Begriff Schein ein äußerst unklarer ist und bei näherer Untersuchung sich als vollkommen unbrauchbar erweist.

Sucht man also den Realismus durch das scheinbar schwerwiegende Argument der Gesetzmäßigkeit in der Natur zu stützen, so machen andererseits die antirealistischen Anschauungsweisen geltend, dass wir in letzter Linie nur auf Sinneseindrücke angewiesen sind. Alles, was uns die Erfahrung gibt, sind Empfindungen, Reize, auf welche Auge, Ohr, Getast etc. ansprechen. Das ist ja gewiss nicht abzustreiten und wurde auch bereits von uns als richtig anerkannt. Auf diese Weise aber löst sich dasjenige, was wir Außenwelt nennen, in eine sehr große Mannigfaltigkeit von Empfindungen auf und würde somit alle Realität, d. h. von uns unabhängige Existenz verlieren, sich vielmehr als ein Stück von uns, unserer Innenwelt erweisen. Der Ausgangspunkt des Realismus ist ein anderer; er argumentiert, dass uns die Kenntnis der Dinge der Außenwelt durch unsere Sinne vermittelt wird; er setzt also eine Außenwelt, Objekte, Dinge, die unabhängig von uns existieren, bereits voraus und nimmt an, dass sie unsere Sinne affizieren und wir auf diese Weise zu Bildern oder Symbolen von ihnen kommen. Identifizieren also die antirealistischen Theorien Außenwelt und unsere Vorstellungen davon, so beruht der Realismus auf der Unterscheidung zwischen den wahrzunehmenden Objekten und dem Wahrgenommenen oder den Wahrnehmungsinhalten.

Wenn somit der Ausgangspunkt des antirealistischen Denkens als ein viel natürlicherer, selbstverständlicherer erscheint, so spricht für den Realismus seine eminente biologische Bedeutung, die ihn als die zweckmäßigste und eigentlich einzig verbreitete Weltanschauung erscheinen lässt, wenn wir von den wenigen Denkern absehen, die sich von ihm in ihrer Studierstube emanzipieren. Aber auf der andern Seite gibt es ein Moment, das immer wieder zur Aufstellung antirealistischer Anschauungen treibt und in folgendem besteht. Der Realismus bedeutet, wie wir gesehen haben, auch immer eine Zweiteilung der Welt, indem er zwischen Innen- und Außenwelt, zwischen Körper und Geist, zwischen wahrgenommenem Objekt und wahrnehmendem Subjekt, zwischen Denken beziehungsweise Vorstellen und einer diesem Denken transzendenten Außenwelt unterscheidet. Er bringt also einen Zwiespalt, einen Dualismus in die Welt, dem sich der dem Menschen innewohnende Trieb nach Einheitlichkeit seit jeher widersetzt hat. Es wird daher immer wieder angestrebt, diesen Dualismus durch einen Monismus zu ersetzen und einen derartigen Versuch unternimmt ja auch der realistische Materialismus, wenn er alles Geistige als eine besondere Art des Materiellen hinzustellen sucht Und so sehen wir auch eine Reihe von ausgezeichneten Naturforschern unserer Tage, die ihrem Bekenntnisse nach Realisten sind, gelegentlich in das antirealistische Fahrwasser kommen, namentlich dort, wo es sich um die Grundlagen unseres Erkennens handelt. Wir werden von diesen Bestrebungen nun zu sprechen haben.

Es erscheint von vornherein nicht ausgeschlossen, den Realismus in der Naturbetrachtung mit dem erwünschten Monismus in Einklang zu bringen und auf diese Weise zu einer unserem Einheitsbestreben und den Naturwissenschaften in gleichem Maß entsprechenden Weltanschauung zu gelangen. Wenn wir, wie gesagt, möglichst unbefangen dasjenige aufsuchen, was uns die Erfahrung gibt, so sind es Sinnesempfindungen; die Empfindungen von warm und kalt für unseren Wärmebeziehungsweise Temperatursinn, diejenigen von hell, dunkel, rot, grün, gelb, Gestalt etc. für das Gesicht, von eben und rau, hart, weich etc. für das Getast usf. Wir erinnern uns vielleicht noch der Eindrücke aus unserer Kindheit oder brauchen uns nur in den Zustand des neugeborenen Kindes oder eines auf sehr niederer Stufe stehenden Tieres zu versetzen, um zu erkennen, dass dieses das einzige ist, was wir in erster Linie von der Außenwelt erfahren. Es ist eine Welt, die durchaus nicht so vielgestaltig, so bunt und reich ist, wie diejenige, die wir im erwachsenen Zustand kennen, sie ist keineswegs so materiell wie die des Naturforschers und wenn wir sie einem Traumbild vergleichen, so werden wir wohl das Richtige getroffen haben. Nun, in dem Maße, als sich die Lebensansprüche steigern, werden sich diese Traumbilder immer mehr und mehr befestigen, aus dem unklar erschauten, an unseren Sinnen vorüberziehenden Schemen kristallisiert sich immer mehr und mehr dasjenige heraus, was wir unsere Außenwelt nennen. Dieser gewiss sehr merkwürdige und für unser Dasein äußerst wichtige Prozess ist auf die mannigfachsten Ursachen zurückzuführen. Vornehmlich hat er seinen Grund darin, dass Sinneseindrücke selten allein auftreten; wir erhalten deren stets eine sehr große Zahl zugleich, ein Bild, in welchem, wie uns die infolge der Lebenstätigkeit stündlich zu Tausenden zuströmenden Erfahrungen lehren, gewisse Empfindungen entweder immer oder häufig zusammen auftreten; so sehen wir neben den Blättern des Baumes den anders gefärbten und gestalteten Stamm, die Blüten oder Früchte, in der Landschaft neben der grünen Wiese das glitzernde Wasser usw., also immer sehr verschiedene Farben und Gestalten nebeneinander; das Bild der Blume ist gewöhnlich von einer Geruchsempfindung, der Anblick des Feuers von einer Wärmeempfindung etc. begleitet. Dass diese Empfindungen ursprünglich aber nicht als zusammengehörend gedacht werden, sondern ihre Zusammengehörigkeit erst gelernt, durch Erfahrung erworben werden muss, ist ja eine allbekannte Tatsache. Wir brauchen nur den Hund zu beobachten, der die brennende Zigarette apportieren will, der ohne weiteres dem Feuer zueilt und es erst scheut, wenn er durch die Erfahrung dazu gebracht wurde, die Gesichtsempfindung der roten Glut mit der unangenehmen Wärme verbinden zu lernen. Ein Gegenstand erscheint uns bald größer, bald kleiner, er sieht bald so, bald anders gestaltet aus, je nach dem Standpunkt, den wir ihm gegenüber einnehmen; wir lernen auf diese Weise die Beziehung zwischen Größe und Entfernung kennen und kommen in die Lage, von der einen auf die andere zu schließen; aus dem verschiedenen Aussehen, aus der verschiedenen Gestalt lernen war die Gegenstände in Gedanken so zu ergänzen, als ob wir sie gleichzeitig von allen Richtungen ansehen würden. Dass diese Fähigkeit erst erworben werden muss, ist ja bekannt; sehr oft reichen bei dem Erwachsenen die Behelfe für ein körperliches Sehen, für ein richtiges Beurteilen der Form nicht aus, der Gegenstand scheint in der Ferne eine andere Gestalt zu haben als in der Nähe besehen, wir sprechen dann wohl von einer Sinnestäuschung. Sie erkennen also, dass das Zusammenauftreten von Sinnesempfindungen, das gegenseitige Korrigieren derselben, etwa der Tastempfindung durch die Gesichtsempfindung und umgekehrt, das Ergänzen von Empfindungen in Gedanken etc. etc. dazu führen, unser Weltbild von Grund auf zu ändern. Es geschieht dies durch eine analytische und synthetische Tätigkeit, ein Zuordnen und Trennen von Empfindungen. Wir gelangen auf diese Weise von rein subjektiven Sinneseindrücken zu scheinbar selbständig existierenden Empfindungskomplexen, in denen wir das Wirkliche sehen; diese haben sich aus den ursprünglich schemenhaften Bildern zu den Objekten oder Dingen unserer Außenwelt verdichtet. Wir können erst von diesem Augenblicke an von einer objektiven Naturbetrachtung reden, von einer Naturbetrachtung, die nicht von dem empfindenden Menschen ausgeht, sondern diesen ausschaltet und die Dinge der Außenwelt für sich betrachtet, sie also loslöst von dem Beobachter. Diese Objekte bilden fortan das Wichtige, das Beständige, das Bleibende, dasjenige, welches entgegen der Schwäche und Unvollkommenheit unserer Sinne etwas Dauerndes, Absolutes, einen Maßstab, eine Richtschnur abgibt und uns erlaubt, unsere Wahrnehmungen auf ihre Richtigkeit zu prüfen. Es hat sich also der Standpunkt sehr bald geändert, und zwar durch einen, wie wir gesehen haben, sehr komplizierten Prozess, der sich beim Menschen im Verlauf einiger Jahre abspielt und bei den hochentwickelten Tieren wohl niemals so weit führt wie bei jenem.

Dass eine so ungeheuere Veränderung in der Anschauungsweise sich in verhältnismäßig so kurzer Zeit abspielen kann — wir sehen ja das Kind schon in den ersten Lebensjahren auf diesem objektiven Standpunkt angelangt — ist vor allem anderen dadurch zu erklären, dass der Mensch in seiner Eigenschaft als hochentwickeltes Lebewesen gezwungen wird, hohe Anforderungen an seine Umgebung zu stellen und dadurch selbst stündlich tausendfältige Erfahrungen zu machen. Es ist auch wahrscheinlich, dass die reichen Erfahrungen aller seiner Vorfahren an ihm nicht spurlos vorübergegangen sind, d. h. dass er für die Beurteilung seiner Sinnesempfindungen gewisse Anlagen angeboren erhält, welche von seinen Vorfahren mühsam erworben werden mußten. Ein dritter Punkt, der hier wohl sehr ins Gewicht fällt und gegen welchen die beiden früher genannten kaum in Betracht kommen, ist der Umgang mit anderen Menschen und die durch Vermittlung der Sprache sich ergebende Möglichkeit, die Erfahrungen von Jahrtausenden in kurzer Zeit in sich aufnehmen und ausnutzen zu können. Was würde wohl aus dem einzelnen, wenn ihm von seiner Kindheit an die Lebensbedürfnisse — Nahrung und Kleider etc. — zwar zur Verfügung gestellt würden, er aber gezwungen wäre, den Verkehr mit seinen Mitmenschen, die Verständigung mit ihnen durch Sprache und Schrift ganz zu entbehren. Er würde es wohl kaum zu einem höheren Grade der geistigen Entwicklung bringen wie unsere Haustiere. Wir werden also schon von unserer frühesten Kindheit an in eine bestimmte Auffassung durch die Unterweisung unserer Mitmenschen hineingedrängt, durch das Mittel der Sprache, welche selbst ganz dazu angetan ist, dieser als nützlich erkannten Auffassung Ausdruck zu geben. Erst durch die Sprache erkennt der einzelne, dass das Weltbild, welches er hat, gleich gestaltet ist wie das seiner Mitmenschen, erst auf diese Weise kann er so recht dazu gelangen, die Objektivität, d. h. vom Beobachter unabhängige Existenz einer Außenwelt zu behaupten. Erst in diesem Zusammenhang gewinnt die Realität der Außenwelt ihre eigentliche Bedeutung. Für den einzeln aufwachsenden Menschen ist sie belanglos, für die Gesamtheit wird sie zur scheinbar notwendigen Annahme.

Man hat die Naturauffassung, die in dem geschilderten eigentümlichen synthetischen Prozess, diesem Zusammenfassen innerer oder häufig zusammen vorkommender Sinneseindrücke zu Objekten, zu Dingen der Außenwelt besteht, in nicht gerade glücklicher Weise als naiven Realismus oder natürlichen Weltbegriff bezeichnet und ihm als geläutertes Stadium den kritischen Realismus gegenüberstellt. Diese Verdinglichung vollzieht sich unbewusst und wird, wo immer es nur angeht zur Anwendung gebracht. Wenn auch die gelegentlich vorkommenden Fragen des Kindes, wo das gelöschte Licht, wo der Schatten eines Gegenstandes hin verschwindet, nicht als zu sehr beweisend angesehen werden dürfen, so hatten wir schon reichlich Gelegenheit, bei der Besprechung einiger Hypothesen uns von dem tatsächlichen Bestehen der geschilderten Neigung zu überzeugen. Die Annahme eines Wärme-, eines elektrischen und magnetischen Fluidums sind auf dieselbe gerade so zurückzuführen wie die Annahme des alles erfüllenden Äthers und der Begriff der Materie verdankt denselben Gründen seine Entstehung. Und damit kehren wir zum Materialismus zurück.

Wie wir von den Komplexen von Sinneseindrücken zu den Objekten, den Dingen der Außenwelt, gelangen, haben wir bisher gesehen und die formale Unklarheit, die in der Unterscheidung eines solchen Objektes und seiner Eigenschaften, also dem Träger der Eigenschaften und diesen selbst gelegen ist, kennen gelernt. Es ist das ein analytischer Prozess, der dem Vorgang der Objektivierung gerade entgegengesetzt ist. Das Merkwürdige dabei ist, dass dann noch etwas übrig bleibt; wir vereinigen Sinneseindrücke zu Objekten, wir nehmen dem Ding dann eine seiner Eigenschaften nach der anderen und es soll noch etwas erübrigen, der eigenschaftslose Träger, eine unklare Vorstellung von einem Bande, das die Eigenschaften zusammenhält. Unter diesen hat man zwei Gruppen unterschieden als sogenannte primäre und sekundäre Sinnesqualitäten. Zu den ersteren rechnete man die Tast- und Raumempfindungen, also die Eigenschaften der räumlichen Ausdehnung, Undurchdringlichkeit etc., Eigenschaften, welche, wie sich Locke, der den Unterschied zum ersten Male aufstellte, ausdrückt, der Körper immer behält, gleichviel in welchem Zustande er sich befindet, welche Veränderungen er auch immer erleiden möge, die also mit den Stoffteilchen untrennbar verbunden sind. Im Gegensatz dazu bezeichnete man als sekundäre Qualitäten die Farben, Töne, Gerüche, Geschmäcke; man sah sie als etwas Flüchtigeres, dem Objekt, dem Dinge nur oberflächlich Anhaftendes, von ihm leicht Trennbares an. Nun, eine eingehendere Betrachtung lässt uns den Grund dieser Unterscheidung auch bald einsehen. Er ist darin zu suchen, dass gerade unsere Tast- und Gesichtsempfindungen in unserem Leben eine ganz ungeheuer große Rolle spielen, indem sie vor allem anderen dazu dienen, uns in der Außenwelt zu orientieren, überall, wo diese beiden zusammen auftreten (Raumempfindungen), scheint uns also im Sinne des oben beschriebenen Prozesses etwas von größerer Realität, größerer Wirklichkeit zu bestehen. Man ist auf diese Weise zunächst zu dem Begriffe der Materie gekommen. Nun, unsere Betrachtungen lassen uns die ganze Willkürlichkeit dieser Unterscheidung sofort einsehen. Es besteht zwischen den „flüchtigeren“ Tönen, Gerüchen, Farben etc. und den scheinbar dauernd mit dem Stofflichen verbundenen primären Qualitäten eben gar kein Unterschied als der, dass letztere für die Orientierung in der Außenwelt eine größere Bedeutung besitzen. Der ganze Sachverhalt ergibt sich auch ganz klar daraus, dass, wie schon früher angedeutet, der Begriff der Materie seine Geschichte hat, die sich kurz dahin zusammenfassen lässt, dass man durch genaue Untersuchung gezwungen ist, der Materie von den ihr verbleibenden Eigenschaften, wie Ausdehnung, Gestalt, Schwere etc., immer mehr und mehr zu nehmen, bis schließlich nichts mehr übrig bleibt als tast- und sichtbar zu sein und auch das ist nur unter Beschränkungen aufrecht zu erhalten. Wenn wir also den Begriff der Materie analysieren, so bleibt wie natürlich, nichts zurück; sie ist nach unserer heutigen Anschauungsweise das Reellste, das Prototyp des wirklich Seienden, aber eine Untersuchung des Begriffes führt notwendig zu dem Resultat, dass es sich nur um eine zeitweilig nützliche Vorstellung eines einer Gesamtheit von Eigenschaften zugrunde liegenden Trägers handelt.

Wenn wir so versucht haben, das Entstehen des materialistischen Weltbildes in großen Zügen zu skizzieren, so wird es sich als nützlich erweisen, dasselbe noch durch ein charakteristisches Merkmal zu bereichern. Die mangelhafte Beschaffenheit unserer Sinne, d. h. das Unvermögen, sich mit Hilfe derselben immer schnell und sicher zu orientieren, also den richtigen Standpunkt zu finden, der die besten Lebensbedingungen gewährt, haben dazu geführt, die Sinne als etwas sehr Unzuverlässliches, als etwas mannigfachen Täuschungen usw. Unterworfenes anzusehen. Es erklärt sich dadurch, dass der Mensch seit jeher bestrebt war, anstatt alles von sich aus zu beurteilen, in der Außenwelt einen Anhaltspunkt, einen locus standi, zu finden, ein einwandfreies Maß, etwas absolut und unbedingt Gültiges. Der Mensch kann nur das sagen, was er denkt, empfindet, hört, sieht etc., es wäre also das Natürliche, von sich, von seiner Person in allem auszugehen. Aber wir sehen, dass er merkwürdigerweise den Standpunkt nach außen verlegt, dass ihm nicht seine Empfindungen als das Wirkliche, Reelle, einzig Maßgebende erscheinen, sondern die selbstgeschaffene Körperwelt zu dem Wirklicheren, zum Grundmaßstab, erhoben wird. Das kann natürlich nur eine Selbsttäuschung sein und die Folgen derselben können wir auch deutlich sehen: Es ist das Streben nach dem Absoluten, das wie ein Gespenst nicht nur in der Philosophie sondern auch in den Naturwissenschaften herumspuckt. Das Suchen irgendeines Absoluten, wo es auch immer sei, hat sich, wie wir in der Geschichte der Naturwissenschaften deutlich verfolgen können, immer als etwas Vergebliches, als das Jagen nach einem Phantom erwiesen. Wir sind nicht in der Lage, außer uns einen allgemein gültigen Standpunkt zu finden und demnach sind auch alle unsere Erfahrungen nichts absolut Gültiges, es gibt keine absolut gültigen Naturgesetze, Begriffe, Prinzipien, sie haben alle nur Gültigkeit mit Bezug auf uns und damit erweist sich der alte Wahrspruch: der Mensch sei das Maß aller Dinge, in mehr als einem Sinne als gerechtfertigt.

Dieses Absolute hat der Materialismus in der Materie zu finden geglaubt, in der Materie und ihrer Bewegung; er war dementsprechend bemüht, alles auf dieses Absolute zu beziehen, an ihm zu messen und verständlich zu machen. Das war sein Traum, der, wie wir gesehen haben, sich als trügerisch erwiesen hat und der die heftigen Angriffe erklärt, deren sich die Naturwissenschaften heute zu erwehren haben: „Die Bläue erklärte sie aus Schwingungen, die Schwingungen aus Atombewegungen, das Menschliche stets aus dem unter dem menschlichen Niveau Liegenden. Unbefriedigt verließ sie das Gebiet des Menschenlebens und wanderte durch das Tier- und Pflanzenreich, durch die Gebiete der Chemie und Physik bis in das der Mechanik. Hier endlich, sagte sie, hier in der Mechanik haben wir etwas, das außerhalb der Menschheit liegt, etwas Substantielles, etwas, das au sich exakt ist; darauf als Basis wollen wir wieder aufbauen: so werden wir mit der Zeit darauf kommen, was das menschliche Dasein eigentlich ist und bedeutet.“ Oder eine andere Stelle desselben Buches (Carpenter: Die Zivilisation): „Der ganze Prozess der modernen Wissenschaft (beziehungsweise Materialismus) .... als ein Versuch, den Menschen und sein Leben aus der Mechanik zu erklären, betrachtet, ist nichts weiter als ein gewaltiger circulus vitiosus. Sie gibt vor, von etwas Einfachem, Exaktem und Unveränderlichem auszugehen und von diesem Punkt Schritt für Schritt emporzusteigen, bis sie beim Menschen selbst angelangt ist. Aber in Wirklichkeit geht sie vom Menschen selbst aus. Sie stützt sich auf Empfindungen, die tief unten in der Empfindungsskala stehen (wie Masse, Bewegung usw.) und sucht durch sie Empfindungen, die hoch oben stehen, zu erklären. Dieser Vorgang erinnert lebhaft an die großartige Methode des Herrn von Münchhausen, der sich an seinem eigenen Zopfe aus dem Sumpfe zog. In Wahrheit hat die Wissenschaft den Kosmos, die große Menschenwelt, nie verlassen und nie einen locus standi außerhalb seiner gefunden!“

Wenn nun auch solche Äußerungen mit ihrem seltsamen Gemisch von Wahrem und Falschem nicht gar zu ernst genommen werden dürfen, so ist doch nicht zu bestreiten, dass das Streben nach dem absoluten Standpunkt unendlich viel Scheinprobleme im einzelnen erzeugt und Unheil im allgemeinen angestiftet hat. Es ist natürlich, dass die Hauptschwierigkeit, die der Materialismus gehabt hat, immer darin bestand, seine absolute Materie, das schlechthin Seiende mit unseren Beobachtungen in Einklang zu bringen. So erklärt sich die Tatsache, dass alle früher besprochenen Hypothesen, die Atomhypothese mit eingeschlossen, früher oder später mit der Erfahrung in Widerstreit gerieten und die größten Anstrengungen gemacht werden mußten, die entstandenen Risse zu verkleben. Man hat in dem genannten Sinne von absoluter Zeit, von absolutem Kaum gesprochen und ist damit auf unüberwindliche Schwierigkeiten gestoßen.

Von der größten Wichtigkeit für uns ist jedoch ein Umstand, der bereits erwähnt wurde und darin besteht, dass die gekennzeichnete Anschauungsweise zu einem Dualismus führt, d. h. zu einer Zweiteilung der Welt, in eine Innen- und Außenwelt, deren gegenseitige Beeinflussung durch die Erfahrungen jedes Augenblickes gegeben ist. Aber die Erklärung dieser Beeinflussung, die Überbrückung des Gegensatzes von Geistigem und Physischem, ist ein Problem, das seit jeher die größten Denker beschäftigt hat und auch nie gelöst werden wird, da es, wie aus unseren Betrachtungen hervorgeht, ein Scheinproblem ist, eine Frage, die sich nicht beantworten lässt, weil sie schlecht gestellt ist. „Wie ist es möglich, dass ein Gedanke, eine Vorstellung etwas denken, etwas vorstellen kann, das von diesem Gedanken und dieser Vorstellung verschieden ist? Wie ist es möglich, dass die Vorstellung eines ist und etwas anderes meint?

Wie ist es möglich, dass etwas außerhalb unserer Vorstellung Gelegenes in diese Vorstellung hineinzutreten vermag, ohne dadurch selbst zur Vorstellung zu werden.“ Diese Fragen, denen sich zahllose andere anschließen ließen, mögen den unerquicklichen Zustand illustrieren. Der Materialist und strenge Realist sieht eine Welt vor sich, in welcher er Körper und Bewegung antrifft, aber keine Empfindungen: diese müssen also etwas gänzlich Verschiedenes sein, sie bilden eine zweite Welt, die zwar mit jener verkehrt, aber wie? Wenn wir uns selbst beobachten, finden wir nur Empfindungen als das Gegebene vor, nach Ansicht des Materialisten soll aber diesen Empfindungen etwas von ihnen Grundverschiedenes, Dunkles, Geheimnisvolles entsprechen: ,,Was aber ist in Wirklichkeit das Mysteriöse? Ist es die Physis oder ist es die Psyche? Oder sind es vielleicht gar beide? Fast scheint es so, da bald die eine, bald die andere, in undurchdringliches Dunkel gehüllt, unerreichbar erscheint. Oder werden wir hier vom bösen Geist im Kreis herumgeführt? Ich glaube das letztere.“ (Mach.)

So sehen wir, wie der strenge Realismus, die Annahme einer von uns ganz unabhängigen, körperlichen Außenwelt, zu einer unerträglichen Situation führt. Wir werden daraus nicht den Schluss ziehen dürfen, dass es eine durchaus verwerfliche Anschauung ist. Dadurch, dass wir die Gründe ihrer Entstehung kennen gelernt haben, erweist sie sich als ein Standpunkt, der für die Betrachtung desjenigen, was wir unsere Außenwelt nennen, äußerst nützlich ist und infolge seiner Zweckmäßigkeit auch Gemeingut der Menschheit geworden ist. Es ist daher auch gar nichts dagegen einzuwenden, wenn wir bei der Untersuchung der Körperwelt diesen Standpunkt teilen. Aber gerade so, wie wir die Benutzung von Hypothesen nur mit Vorbehalt gelten Hellen, so auch hier. Es handelt sich darum, die mit dem Realismus mehr oder weniger verquickte Vorstellung des Absoluten, des ganz und immer außer uns Stehenden zu eliminieren. Es ist ja, wie erwähnt, bei einer ganzen Reihe von Untersuchungen ganz nützlich, uns selbst ganz auszuschalten, also von unserer Mitwirkung an unserer Außenwelt abzusehen, aber dauernd und ganz kann dies niemals geschehen, denn wir selbst bilden mit der uns umgebenden Natur ein Ganzes. Der Hauptgrund, der von den Anhängern des Realismus für diesen geltend gemacht wird, ist, wie bereits erwähnt, die durch Erfahrung gegebene durchgängige Gesetzmäßigkeit in der Natur. Andererseits sei darauf hingewiesen, dass wir als einzigen brauchbaren Inhalt das Kausalgesetz, diese Gesetzmäßigkeit erkannt und die mit demselben gemeinhin verbundenen animistischen Vorstellungen als überflüssig und schädlich eliminiert haben. Es ist nun mehr als wahrscheinlich, dass die letzteren im innigsten Zusammenhangstehen mit der übertriebenen Form des Realismus, wie ihn der Materialismus vertritt. In beiden Fällen haben wir es mit einem Hinausprojizieren unserer Erfahrungen zu tun, auf der einen Seite werden unsere Sinnesempfindungen zu Körpern vereinigt und ihnen eine von uns unabhängige Existenz zugeschrieben, auf der andern Seite werden unsere Gefühle und Willenskundgebungen nach außen projiziert und zu Ursachen für die Naturvorgänge gemacht. Und dieser Zusammenhang wird noch durchsichtiger, wenn wir bedenken, dass das erste Argument, welches von dem gemeinen Manne für den Realismus und gegen den Antirealismus gemacht wird, darin besteht, es sei nicht einzusehen, woher unsere Sinnesempfindungen kämen, wenn sie nicht, durch die Objekte der Außenwelt bedingt, verursacht würden. Also ein Argument, das die Grundlage des Realismus, seine These bildet, aber für ihn gerade so wenig beweisend ist, wie unser und der Welt Dasein für die Annahme eines Schöpfers als notwendige Ursache derselben.

Wir sehen also, dass Realismus und Antirealismus im gewöhnlichen Sinne des Wortes als durchgängig gültige Weltanschauungen nicht zulässig sind. Sie sind vielmehr zwei Standpunkte, die jeder mit Nutzen eingenommen werden können, wenn es sich um bestimmte Zwecke handelt. Dort, wo es sich um die Körperwelt handelt — und das ist ja weitaus der wichtigere Fall — leistet der Realismus ganz außerordentlich viel und das ist ja der Grund, warum er in uns so tief eingewurzelt ist, dass wir uns von ihm nur vorübergehend befreien können. Dass keine andere positive Tatsache als die durch Erfahrung gegebene Gesetzmäßigkeit dem Realismus zugrunde liegt, glaube ich Ihnen gezeigt zu haben. So trifft es sich auch hier, wie bei einem reinigenden Gewitter, dass nachher alles freundlicher aussieht wie zuvor. Die dunkle Frage, ob Realismus oder Antirealismus, die sich seit Menschengedenken bitter befehden, hat alles Prinzipielle verloren, es handelt sich, wie wir gesehen haben, nur um einen Widerstreit zweier begrenzter Standpunkte, um eine Frage der Zweckmäßigkeit. Wir wollen daher diesen Gegenstand getrost verlassen und die kurze Zeit, die uns erübrigt, der Besprechung eines andern Punktes zuwenden.

Die erste Frage, die sich uns aufdrängt, nachdem wir so viele schöne und mit unendlich viel Mühe aufgebaute Gebilde, wie den Materialismus, die mit ihm auf das innigste verknüpften Hypothesen etc. nur als zeitweilig berechtigte Anschauungen hingestellt haben, die unter Umständen äußerst schädlich sein können und die jedenfalls nur Hilfsmittel der Forschung darstellen, aber nichts absolut Gültiges, die erste Frage, die sich uns nun aufdrängt, ist die, ob durch diesen Wechsel in der Bewertung nicht eine furchtbare Verwirrung, ein Zusammenbruch in den Wissenschaften herbeigeführt wird. Doch das ist keineswegs der Fall. Der Materialismus ist ja nur eine Forschungsmaxime, ein leitendes Prinzip, welches wir in die gefundenen Tatsachen hineinlegen und von dem wir erwarten, dass es uns neue Wege, neue Richtungen, nach welchen die Stollen der Forschung zu treiben sind, angibt; und das hat er ja auch tatsächlich geleistet. Wenn es sich nun als nicht mehr zweckmäßig, ja als hinderlich erweist, so bleiben uns ja die unter seinen Auspizien gewonnenen positiven Tatsachen, unsere Gesetze, Begriffe als etwas Dauerndes, wenngleich dieselben jetzt vielleicht einer weiteren Deutung, einer unbefangeneren Auffassung bedürfen. Außerdem müssen wir uns erinnern, dass das, was von außen in der besprochenen Richtung geleistet wurde, wenig bedeutend ist, dass sich die angedeutete Umwandlung auf dem Gebiete der Wissenschaft selbst allmählich vollzieht, also von Naturforschern durchgeführt wird, und darin liegt die Gewähr, dass die stetige Entwicklung nicht plötzlich unterbrochen wird. So sehen wir denn auch tatsächlich zwei bedeutende Forscher, die schon mehrfach genannten Wilhelm Ostwald und Ernst Mach, eifrig bemüht, die Naturwissenschaften in neue Bahnen zu lenken. Der erstgenannte ist bestrebt, in der Detailforschung die Tatsachen im Lichte einer geläuterten Auffassung darzustellen, der letztere seit einer Reihe von Jahren unablässig tätig, die Naturwissenschaften einer gründlichen Reorganisation zu unterziehen, die einzelnen Teile derselben in das richtige Verhältnis zu setzen, hindernde Schranken, engherzige Auffassungen zu beseitigen und auf diese Weise den Weg für eine einzige Wissenschaft von der Natur anzubahnen, während wir bis jetzt nur die Forschung auf engbegrenzten Gebieten kannten, von welchen jedes durch seine besonderen Anschauungen und Prinzipien beherrscht wurde.

Haben wir durch unsere Betrachtungen die Grundanschauungen der genannten Forscher kennen gelernt, wenigstens in ihren Umrissen, so möge zum Schlüsse noch der Bemühungen Ostwalds, den Materialismus durch ein anderes Forschungsprinzip zu ersetzen, gedacht werden. In einem Aufsehen erregenden Vortragt*) hat er im Jahre 1895 die Grundzüge seiner Weltauffassung dargelegt. Er geht von der uns bekannten Kritik des Begriffes der Materie aus und zeigt, dass dieselbe eine leere Abstraktion ohne jeden Inhalt sei und daher unmöglich die Rolle zu spielen geeignet erscheint, die man ihr zuschreibt. Einen vollgewichtigen Ersatz für die Materie und den auf sie sich stützenden Materialismus findet er in der Energie und einer energetischen Weltauffassung. Auf die Frage, wie es möglich sein soll, mittels eines so abstrakten Begriffes, wie es die Energie ist, den bis jetzt gültigen, durch Klarheit und Anschaulichkeit ausgezeichneten Materialismus zu verdrängen, antwortet er folgendermaßen: „Was erfahren wir denn von der physischen Welt? Offenbar nur das, was uns unsere Sinneswerkzeuge davon zukommen lassen. Welches ist aber die Bedingung, damit eines dieser Werkzeuge sich betätigt? Wir mögen die Sache wenden, wie wir wollen, wir finden nichts Gemeinsames als das: Die Sinnes Werkzeuge reagieren auf Energieunterschiede zwischen ihnen und der Umgebung. In einer Welt, deren Temperatur überall die unseres Körpers wäre, würden wir auf keine Weise etwas von der Wärme erfahren können, ebenso wie wir keinerlei Empfindung von dem konstanten Atmosphärendrucke haben, unter dem wir leben; erst wenn wir Räume anderen Druckes herstellen, gelangen wir zu seiner Kenntnis. Wir erhalten nur dadurch Kenntnis von der Außenwelt, dass an unseren Sinnes Werkzeugen , Arbeit geleistet, d. h. ihre Energie geändert wird. Gerade so wie wir selbst bei jeder unserer Betätigungen Arbeit verbrauchen, gleichgültig ob wir körperlich oder geistig tätig sind, ob wir sprechen, schreiben, denken etc., gerade so findet auch der Verkehr aller Dinge der Außenwelt mit uns nur unter entsprechender Arbeitsleistung statt. Was wir hören, rührt von der Arbeit her, welche die Schwingungen der Luft an dem Trommelfell und in den inneren Teilen unseres Ohres leisten. Was wir sehen, ist nichts als die strahlende Energie, welche auf der Netzhaut unseres Auges chemische Arbeiten bewirkt, die als Licht empfunden werden. Wenn wir einen Körper tasten, so empfinden wir die mechanische Arbeit, die bei der Zusammendrückung unserer Fingerspitzen und gegebenenfalls auch der des getasteten Körpers verbraucht wird. Riechen und Schmecken beruhen auf chemischen Arbeitsleistungen, die in den Organen der Nase und des Mundes stattfinden.“ So folgert Ostwald, dass die Energie die einzige Größe ist, die sich ausnahmslos in allen Naturerscheinungen findet, sie alle lassen sich in den Begriff der Energie einordnen; dieser erweist sich somit als „der allgemeinste, den die Wissenschaft bisher gebildet hat“.

*) Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus.

Wir wollen oder müssen uns mit diesen wenigen Andeutungen begnügen. Jedenfalls sehen Sie, dass es sich um ein groll angelegtes Forschungsprinzip handelt, das die Fehler des Materialismus vermeidend weit mehr als dieser zu leisten verspricht. Es möge nur noch hinzugefügt werden, dass auch dieser Maxime die Gefahr der Verknöcherung droht; gerade so wie man ursprünglich unter der Herrschaft des Materialismus geneigt war, alle Energien als mechanische zu deuten, so könnte es geschehen, dass der Begriff der Energie „mit ihren Erscheinungsformen“ in die Rolle der Materie mit ihren Eigenschaften hineingedrängt wird.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber die Grundlagen der exakten Naturwissenschaften