Von der Erbsünde

„Der Fall des entarteten Menschen ist der Grund der Theologie beinahe aller Völker“; und die Ursache des Übels war jeder Zeit ein unauflösbares Rätsel. Als Plato von Dionys, dem Syrakusaner, um diese Ursache befragt wurde, gab er zur Antwort, er habe noch Niemanden gefunden, der dieselbe entwirrt hätte.

Allein das Dogma der Erbsünde gibt uns nicht nur Aufschluss über die Unordnung, wovon das menschliche Herz ein so seltsames Gebilde darbietet. Leugnet man dieses Dogma, oder gehet man von dem Glauben der Katholiken ab, indem man der Sünde Adams keine andere Folge zuschreibt, als eine Veränderung in dem körperlichen Organismus des ersten Menschen und seiner Nachkommenschaft, was bleibt dann noch für eine annehmbare Ursache der Menschwerdung des Sohnes Gottes? Die ganze Heilsanstalt des Christentums stürzt zusammen; sein Einfluss auf die Vervollkommnung des Menschengeschlechtes, auf die Begründung und das Glück der Gesellschaft, höret dann auf einmal auf.


Wie sehr wird jener tiefe Abscheu vor dem Laster vermindert, welcher unsere Seele ergreift bei dem bloßen Anblick der Genugtuung, die selbst der Sohn des Ewigen leisten musste, um den göttlichen Zorn zu besänftigen, und uns in die Rechte der himmlischen Erbschaft wieder einzusetzen! — Alsdann bleibt kein Beweggrund jener unaussprechlichen Liebe, welche aus dem Schoß der Herrlichkeit den Abglanz des Ewigen herabgezogen und den Schöpfer für das Geschöpf dargegeben hatte! Alsdann entschwindet jener erhabene Begriff von der Würde unseres Wesens, dessen Natur ein Gott selber angenommen, auf dass er Sohn des Menschen und wir selbst Kinder Gottes würden!“

Wie sehr erkaltet nicht jene unbegrenzte Liebe, deren so beispiellose Hingabe gerechte Erwiderung erheischte! Wie erlischt nicht jenes Feuer einer allumfassenden Bruderliebe zu dem unglücklichen, darnieder gedrückten Menschen, welche das Beispiel des Gottessohnes in unseren Herzen entflammte!

„Wenn Jesus Christus nichts geleistet hat, was mochte denn wohl ein Mensch, wie Moses und die Propheten, leisten?“ Noch einmal also, wie wirkungslos wird dann jenes in der katholischen Lehre so mächtige Beispiel, jenes Beispiel der hehrsten Tugenden, jenes Beispiel so vieler heldenmütigen Opfer, welche in den Drangsalen dieses vergänglichen Lebens jeden Augenblick erfordert werden!