Die Liebe bei Paulus.

Unter den in der Liebe Erfahrenen muß man noch auf einen Mann hören, der das Christenthum zuerst zu den Heiden gebracht hat und von einer universellen Liebe beseelt war, ich meine Paulus, den Apostel. Er schrieb einen Brief an die Corinther, in welchem er ihre sittlichen Gemeindezustände ins Auge fasste und sie besonders an den Werth der Liebe erinnerte. Ohne Liebe, sagt er, seien Beredtsamkeit, Prophetie, Glaube und gute Werke werthlos. Dadurch wissen wir nun noch nicht, was er mit der Liebe meint; er beschreibt sie daher etwas ausführlicher nach einigen ihrer Äußerungsweisen, indem er besonders, was sie nicht ist, hervorhebt: die Liebe sei langmüthig (weitherzig) und gutartig, eifere nicht, windbeutele nicht, blähe sich nicht, sei nicht unanständig, suche nicht Vortheil, sei nicht reizbar, sinne nicht auf Böses, freue sich nicht an der Ungerechtigkeit.

Aus diesen positiven und negativen Merkmalen kann man nun schon recht gut auf das Wesen der Liebe zurückschließen; Paulus fügt aber die Krone der Bestimmung noch hinzu in sechs bedeutsamen Zeichen. Er sagt, die Liebe freue sich an der Wahrheit, sie umfasse schützend Alles, sie glaube an die Alles umfassende Macht des Guten, sie flöße Hoffnung ein, die in keinem Stücke wanke, sie sei deshalb auch von unermüdlicher Geduld und sie bleibe auch bei Erreichung des vollkommenen Lebens der werthvollste Bestandteil desselben.


Diese Schilderung der Liebe ist mit Recht berühmt und überall gepriesen. Sie hat zwar nicht die wissenschaftliche Form, die ein philosophisch geschulter Gelehrter fordern muß; aber sie spiegelt die wesentlichen Eigenschaften der Gesinnung in gedrängtem und bedeutsamem Ausdrucke ab, die ein in der hohen Liebe erfahrener in sich bemerkt. Wenn wir die Beziehung dieser Paulinischen Liebe zu den bisher charakterisirten Arten angeben wollen, so zeigt sich, daß erstens die aus Selbsterhaltung gehende Liebe ganz wegfällt. Die Liebe zum Guten und Vollkommenen aber ist stark betont und zwar nach der sozialen Seite hin, indem Paulus fast ausschließlich an das Wohl und die Vollkommenheit der Mitmenschen denkt, die er in umfassender Weise ins Herz schließt und an deren endliches Heil er mit unwandelbarer Hoffnung und Geduld glaubt. Die eigene Vollkommenheit wird dabei kaum berücksichtigt, doch tritt wohl in der Äußerung, daß auch bei allem Fortschritt die Liebe nicht überholt werde, sondern das werthvollste Stück in dem vollkommenen Leben bleibe, die Überzeugung hervor, daß die Liebe nicht bloß auf die Vervollkommnung Anderer gerichtet ist, sondern auch selbst schon in den Liebenden einen Theil und zwar den größten dieses vollkommenen Lebens bildet. Die auf das Heil der Mitmenschen hinzielende Liebe ist aber die gebende und erlösende und da bei Paulus das eigene Streben nach Vollkommenheit nicht betont, sondern wohl nur stille Voraussetzung ist, so könnte man sagen, es sei eigentlich nur die erlösende Liebe von ihm beschrieben. Diese ist aber, wie das von einem Apostel zu erwarten stand, nur nach der sittlich-religiösen Seite hin aufgefaßt, während die Befreiung und Erlösung des Menschen durch wissenschaftliche Erkenntnis und durch die schöne Kunst nicht in seinen Gesichtskreis fiel. Daher ist auch das vollkommene Leben bei ihm auf die sittlich-religiösen Tätigkeiten und Gefühle beschränkt, was man nicht tadeln darf, da ein Apostel nur auf die Quelle der Gesinnung sehen muß, aus welcher dann immerhin auch die anderen vollkommenen Gaben herfließen mögen.

Wir sehen also, wenn wir die Betrachtung zusammenfassen, daß uns die Paulinische Liebe keine neue Art kennen lehrt, sondern nur das Schöne bestätigende Zeugniß eines der hervorragendsten Menschen darbietet über die sittlich -religiöse Form der erlösenden Liebe, über welche er aus tiefster Erfahrung und mit der dieser Liebe eigentümlichen begeisternden Kraft zu reden wußte.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber das Wesen der Liebe.