A1. Das Gleiche und Ähnliche sucht und liebt sich.

Die allerälteste Erklärung, die ich bei den Griechen finden konnte, geht auf den bekannten Satz hinaus, daß das Aehnliche und Gleiche sich einander sucht und liebt. Dieser Gedanke scheint viele Erfahrungen zu decken; denn man steht ja alle Menschen als gesellig an und sie sind zugleich auch als Menschen einander gleich oder ähnlich; so halten auch viele gleichartige Tiere zusammen, wie z. B. die Kraniche und die Büffel und viele andere. Der Gesellschaftstrieb ist eine Art Liebe und scheint die einander Ähnlichen zu betreffen. Denn innerhalb jeder Gattung halten wieder mehr die Ähnlichen und Gleichen zusammen und lieben und suchen sich, wie sich z. B. die Kinder und Jünglinge und zwar die gleichalterigen, ebenso die alten Leute untereinander wegen gleicher Erfahrung besser verstehen und mit einander in Meinung und Bedürfnissen und Geschmack harmoniren. Auch die von gleichem Stande halten zusammen, die Adligen, die Bauern, die Literaten, die Soldaten und verstehen und schätzen und lieben sich am meisten, wie es scheint. So ist es ja denn auch zum Sprüchwort geworden:

„Gleich und Gleich gesellt sich gern.“


Die ältesten griechischen Denker haben auf diesen Gedanken auch die Erklärung der Anordnung unsrer physischen Welt gegründet; denn sie meinten, daß bei der chaotischen Durcheinandermischung im Anfang aller Dinge allmählich das Ähnliche sich gesucht habe und zu einander gegangen sei, so daß wir in der gegenwärtigen Welt alle Luftteilchen als Atmosphäre zustimmen fänden und die festeren und schwereren Elemente zusammengeballt als Erde; alles Flüssige sei als Meer vereinigt oder fließe zum Meere, und alles Warme und Feurige strebe nach Oben, wo die Gestirne wie eine Welt des Feuers und Lichtes zusammen wohnen. Sie nahmen also ein Gravitationsgesetz der Qualitäten an und brachten es mit dem Begriff der Liebe zusammen.

Nach dieser Erklärung glaubte man auch, daß wir das Licht lieben, weil unser Auge sonnenhaft und lichtartig sei, daß wir Trank und Speise lieben, weil unsere Gewebe teils flüssig, teils erdartig seien, daß nur die Guten das Gute lieben, die Bösen das Böse, der gottähnliche Mensch Gott, der rechtliche das Recht, der ehrenhafte die Ehre, der Künstler die Kunst, u. s. w.

Allein wenn auch viele Erscheinungen sich durch diesen Gedanken annähernd deuten lassen, so ist doch erstens gar nicht klar, warum grade das Gleiche und ähnliche sich einander suchen und lieben soll, sondern dies wird als eine blinde und ratlose Tatsache ohne allen Grund so hingenommen; zweitens ist die Liebe selbst nicht erklärt, denn Ähnlichkeit und Gleichheit ist doch keine Liebe, da ja zwei Menschen sich sehr ähnlich sein können, ohne überhaupt von einander zu wissen, geschweige denn ohne sich zu lieben; es müsste also zum mindesten noch die bewusste oder unbewusste Wahrnehmung und Erkenntnis von der Gleichheit als zweiter Grund mit hinzugefügt werden, wodurch wir aber auch nicht klüger würden, denn weshalb die Erkenntnis der Gleichheit uns zur Liebe treiben könnte, das bleibt so unklar wie zuvor.

Endlich drittens sind die Tatsachen auch ebenso für wie gegen den Satz; denn der Liebe steht doch Hass, Neid, Eifersucht, Streit und Missgunst entgegen und jeder weiß, daß grade unter den Gleichen und Ähnlichen diese Leidenschaften am Ärgsten wüten.

Der Brotneid unter den Handwerkern ist sprichwörtlich, die Militärs, die Beamten, die Künstler und die Gelehrten beneiden und hassen sich gegenseitig und die schönen Frauen lieben sich selten. Knaben gleichen Alters und von ähnlicher Kraft stehen gewöhnlich in beständigem Streit und zwei Hähne dulden sich einander nicht auf demselben Hofe. Der Satz scheint also auch der Erfahrung nicht im Mindesten zu entsprechen, da die Gleichheit ebensowohl die Ursache des Hasses und Streites werden kann als der Liebe; denn auch die Bösen lieben nicht das Böse sondern das Gute; wenigstens werden sie nicht dafür bestraft, daß sie fremde Übel auf sich nähmen, sondern weil sie sich fremde Güter aneignen oder wider Recht, was ihnen gut schien, genossen haben. Die Guten aber lieben auch die Bösen, indem sie dieselben heilen und missioniren.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber das Wesen der Liebe.